Die Methode - Deutsches Theater Göttingen
Konflikt mit dem Schutz von Leib und Leben
von Michael Laages
Göttingen, 9. Mai 2020. Hier, auf dem Parkdeck, hat das Deutsche Theater in Göttingen schon die Schreckensphantasien aus George Orwells Roman "1984" zum Leben erweckt, mit dem Publikum, das jeder und jede für sich von Bild zu Bild zu Bild geführt wurde. Und in einer strukturell ähnlichen Raum-Installation wanderten wir hinter weißen Kaninchen und ähnlichen Traum-Gestalten aus Lewis Carrolls "Alice"-Romanen her. Immer inszenierte Haus-Regisseurin Antje Thoms den Parcours für die Garage, Florian Barth hatte ihn gebaut und ausgestattet – und in einen Abenteuer-Raum wie diesen dürfen, ja müssen wir diesmal das eigene Auto mitnehmen: zur ersten Premiere einer städtischen Bühne nach gut zwei Monaten theaterloser Zeit.
Erfreulicherweise hat die Dramaturgie des Hauses um Matthias Heid "Die Pest", den derzeit allüberall neu entdeckten und als Menetekel für die Gegenwart interpretierten Roman-Alptraum von Albert Camus aus dem Jahr 1947, links liegen lassen und eine weitaus zeitgenössischere Dystopie zum Ausgangspunkt genommen: "Corpus delicti", das 2007 uraufgeführte Stück, das die Autorin Juli Zeh im Jahr darauf zum Roman erweitert hatte.
Kehrseite des Gesundheitssystems
In diesem Material hat sich eine moderne Gesellschaft sehenden Auges und mit vollem kollektiven Bewusstsein einer Gesundheits-Diktatur unterworfen, die zum Schutz des gemeinschaftlichen Wohls alles ausgrenzt, was nicht den fundamentalistischen Regeln des "gesunden Menschenverstands" folgt. Wer also raucht, falsch isst oder unangemessen liebt, wer generell Risiken an Leben und Leib eingeht, wer Krankheit und Tod als Teil des Lebendig-Seins akzeptiert, der wird zum Virus höchstpersönlich erklärt, verfolgt, angeklagt und verurteilt. Höchststrafe: Einfrieren auf unbestimmte Zeit.
Es braucht nicht viel Phantasie, um Juli Zehs Material in Verbindung zu bringen mit dem politischen Streit um die Schutzmaßnahmen in Zeiten der Herrschaft des aktuellen Virus. Und die Autorin, die ja auch studierte Juristin ist und seit einem Jahr Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, nimmt in Stück und Roman sehr ernsthaft viele rechtliche Implikationen des fundamentalen Konflikts zwischen persönlicher und kollektiver Verantwortung ins Visier, fächert den gesellschaftlichen Kampf auf zwischen Freiheit und Sicherheit.
Sechzigerjahre-Befreiungskampf
Gut zehn Jahre nach der Premiere von Stück und Roman ist "Corpus delicti" von Juli Zeh so etwas wie der Text zur Stunde. Und gerade wer die Demonstrationen dieser Tage als Ausbruch finstrer Verschwörungstheorien empfindet, sollte sich diesem Text aussetzen.
Das Göttinger Team hat die Zeh-Fabel deutlich verändert – Stück und Roman stellen Mia Holl in den Mittelpunkt, eine Wissenschaftlerin, die durchaus bereit ist, den Regeln der "Methode" zu folgen - so heißt das autoritative System von Ge- und Verboten zur kollektiven Gesundheit bei Juli Zeh. Mias Bruder Moritz gerät in Konflikt mit der Logik der "Methode", unter Berufung auf stark nach 60er-Jahre-Befreiung klingende Theorien von Selbstverwirklichung und radikal befreiter Eigenverantwortlichkeit. Er wird verfolgt, angeklagt und verurteilt. Den eigenen Kampf um persönliche Freiheit überlebt er nicht. Sein Denken aber ist nicht auszurotten – es wirkt fort in Leben und Denken der überlebenden Schwester.
Die Göttinger Fassung beginnt mit Moritz, dem Außenseiter – nachdem jede Theaterfahrerin und jeder Theaterfahrer beim Entree zur Garage einen Lautsprecher ins Auto gestellt bekommen hat und über die Regeln der "Methode“ belehrt worden ist, parkt unser Auto zunächst neben dem von Moritz: einem schicken alten Ami-Schlitten. Hat so einen nicht einst Peter Fonda gefahren im "Easy Rider"-Film? Moritz erklärt die eigene Theorie von Freiheit, spricht vom Leben, das Krankheit und Tod einbezieht; dazu spielt er Gitarre im Auto: "Whose side are you on", den klassischen amerikanischen Gewerkschafts-Song.
Grenzkontrolle bei der Ausreise
Über ihm und uns kreisen akustisch schon die Hubschrauber, die ihn verfolgen. Moritz klatscht uns eine rote Frucht auf die Scheibe – und gibt uns das eigene Ego mit. Denn wenn unser Auto nun weiter gewinkt wird zum nächsten Garagen-Halt, werden wir als "Moritz" zu unseren gesundheitsstrategischen Regelverstößen befragt – von einer "Methode"-Beamtin, die amüsanterweise in einer Gondel der Seilbahn im Harz-Städtchen Thale hockt. Mit ihr entsteht das einzige dramaturgische Problem der klugen Installation – denn wir würden ja immer gern antworten. Das geht aber nicht.
Nächste Station: das Büro vom Anwalt, der Moritz verteidigt. Und so sehr der scheinbar den Fall zum Tribunal gegen die Diktatur der "Methode" aufzumöbeln versucht, so schnell knickt er ein: vor der eigenen, geheuchelten Courage und vor der Macht. Dann schließlich kommen wir bei Mia an, der Schwester von Moritz – im kärglich ausgestatteten Fitness-Studio fühlt sie sich zerrissen zwischen dem Freiheitswillen des mittlerweile toten Bruders und der Unausweichlichkeit der "Methode".
Dieses zerrissene Denken gibt sie uns mit auf den Weg hinaus – bei der Ausfahrt wird das Auto scharf überprüft, wie früher von den Grenzern der DDR bei Ein- und Ausreise. Sind wir infiziert? Vom anti-methodischen Denken? Von Moritz Holl? Die "digitale Anklageschrift" gegen ihn ist uns mitgegeben worden – der Abweichler von der reinen Lehre, das Virus sind womöglich jetzt wir selbst.
Strategisch klug reagiert hier das Theater auf den dramatisch-historischen Moment der Weltkrise, die diesmal (anders als das andere Krisen tun) auch uns in der europäischen Komfort-Zone trifft. Das kleine Haus am Rande der großen, ausgetretenen Theaterpfade hat die Herausforderung angenommen: beispielhaft.
Die Methode
nach "Corpus delicti" von Juli Zeh, Fassung Antje Thoms
Regie: Antje Thoms, Bühne und Kostüme: Florian Barth, Dramaturgie: Matthias Heid.
Mit (in wechselnder Besetzung): Marius Ahrendt, Gaby Dey, Florian Donath, Bastian Dulisch, Florian Eppinger, Angelika Fornell, Rebecca Klingenberg, Roman Majewski, Marco Matthes, Daniel Mühe, Katharina Müller, Anna Paula Muth, Volker Muthmann, Marina Lara Poltmann, Gregor Schleuning, Marie Seiser, Judith Strößenreuter, Andrea Strube, Ronny Thalmeyer, Christoph Türkay, Gaia Vogel, Gabriel von Berlepsch, Paul Wenning, Gerd Zinck.
Premiere am 9. Mai 2020
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.dt-goettingen.de
Mehr zu Juli Zehs Stück "Cprous delicti": Lars-Ole Walburg hat das Stück zum Beispiel 2014 in Hannover inszeniert, Anja Gronau brachte das Stück 2007 bei der Ruhrtriennale zur Uraufführung.
Erzähle Juli Zeh vom Schwanken zwischen Einsicht in die Unterordnung und Aussicht auf Freiheit, stelle Antje Thoms den Bruder ins Zentrum, schreibt Jens Fischer in der taz (15.5.2020): "Er suhlt sich im Außenseitertum, tönt großkotzig, dass er das Hygienegebiet verlassen habe." Die Regie spare sich "in der nach Freiheit dürstenden, Beschränkungen kritisierenden, mit dem Widerstandsvirus infizierenden Inszenierung die explizite Abgrenzung vom verschwörungstheoretischen Geschrei, das derzeit von Reichsbürgern, Rechtspopulisten und ihren Nachplapperern zu hören ist", so Fischer. "Aber es sitzen ja auch mündige Bürger im Auto."
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(...)
Vielleicht haben Sie aber einfach nicht mitgekriegt, dass bereits am 3. Mai von relevanten Fachleuten ein nicht mehr zu ignorierendes Thesenpapier veröffentlicht wurde:
https://www.bmcev.de/wp-content/uploads/thesenpapier2_corona_200503_endfass.pdf
welches die Maßnahmen und die begleitende Kommunikation der Regierung sowie des RKI in aller Deutlichkeit kritisiert.
Dazu auch ein Beitrag im ZDF vom 10.5.:
https://www.zdf.de/politik/berlin-direkt/berlin-direkt-vom-10-mai-2020-100.html - Min 0:35 bis Min 5:48
Möglichweise ist Herr Laages doch nicht soo reaktionär.
In meinen Augen wäre eine Entschuldigung angebracht. Was Sie hier betreiben, ist gezielte Diskriminierung.
(*gekürzt*
Liebe Kommentierende,
bitte beziehen Sie sich in Ihren Kommentaren auf die Inszenierung bzw. die Nachtkritik, um die es hier geht. Ein Derailing der Diskussion in Richtung einer Grundsatzdebatte zu den Corona-Maßnahmen werden wir an dieser Stelle nicht dulden. Mit herzlichen Grüßen aus der Redaktion: jeb)
...wir halten es nicht aus, gerade nicht beachtet zu werden, wir müssen vorkommen, deswegen machen wir ein "ganz aktuelles" Stück, egal wie plakativ, egal ob für Autos, egal ob künstlerisch wertvoll. Hauptsache es wird gespielt und man wird endlich mal überregional beachtet.
Marketing können sie in Göttingen, denn es freut den Kritiker, weil er wieder schreiben kann. Und weil er endlich wieder schreiben kann
schreibt er zwar freundlich, aber nichtssagend.
(...)
Ich hatte übrigens keine Probleme bei der Einreise von Hessen nach Niedersachsen, und stellen Sie sich vor, ich habe kein Auto und bin bei einem Freund mitgefahren. So einfach ist das.
#3 und 4 ich bezweifle leider sehr stark, daß Sie den Abend gesehen haben. Da geht es nicht um das was Sie vermeintlich gesehen haben, oder vermuten worum es gehen könnte. An diesem Abend sieht und hört man ein sehr intelligentes Rumpfgebilde eines Romans und des Stücks. Es geht um Freiheit und Unfreiheit, um Diktatur und Demokratie, um menschliches und unmenschliches, um Recht und Unrecht und das Haben von beidem.
Was ist das für ein Unsinn den Kritikern vorzuwerfen, sie würden freundlich schreiben, nur weil sie wieder schreiben können? So ein Unfug.
Ständig wird den Theatern vorgeworfen sie seien museale
Tempelverwalter. Hier reagiert nun mal ein Theater auf eine der größten Nöte der Neuzeit, und zwar sehr unprätentiös, und schon kommen alle aus ihren Löchern und werfen dem Theater Berechnung vor. Was ist das für ein verkommenes Gebaren.
Hier noch ein link wo man hören kann, was man tatsächlich sehen könnte.
https://www.ardaudiothek.de/kultur-heute-beitraege/corona-theater-in-der-tiefgarage-methode-nach-juli-zeh-in-goettingen/75491652
---
Dieser Kommentar wurde um eine Passage gekürzt. Bitte diskutieren Sie sachlich.
Die Redaktion
wer alle Restriktionen einhält darf spielen.
Das war zu allen Zeiten so und Göttingen ist was Anpassung betrifft Vorbild.
Zuschauer sind da gar nicht mehr so wichtig,
Mich hat das Theater verloren.
Neid und Missgunst
Freiheit und Unfreiheit
Diktatur und Demokratie
menschliches und unmenschliches
Recht und Unrecht
...alles Wortpaare, werden Sie doch bitte konkret
...größten Nöte der Neuzeit...
...wie kommen sie darauf, weil sie jetzt gerade nicht mehr fliegen können ?