Homo Empathicus - Mit seiner Uraufführung von Rebekka Kricheldorfs Stück beginnt Erich Sidler in Göttingen programmatisch
Fegefeuer der Euphemismen
von Jan Fischer
Göttingen, 3. Oktober 2014. Die Göttinger Innenstadt ist plakatiert: "Neu" steht da, nur dieses eine Wort, in leicht runder, angeschrägter Schrift, die wie dahingepinselt wirkt, darunter, etwas kleiner, das Logo des Deutschen Theaters Göttingen.
Der neue Intendant Erich Sidler möchte, soviel ist klar, das Deutsche Theater Göttingen verjüngen. Frischer gestalten, spielerischer. Er möchte dem Theater ein Gesicht geben, das der Schauspieler, beispielsweise. Vor dem alten Gebäude hängen sie, übergroß auf Plakate gezogene Gesichter mit Namen darunter, angeleuchtet.
Einstand, Messlatte, Statement
In diesem Kontext ist "Homo Empathicus", Sidlers Einstand als Intendant und Regisseur, selbstverständlich mehr als nur ein Stück: Es ist eine Messlatte, ein programmatisches Statement. Autorin Rebekka Kricheldorf hat es dem kollektiven Körper auf den Leib geschneidert – Sidler lässt das gesamte Göttinger Ensemble auftreten.
"Homo Empathicus" ist die vierte Uraufführungs-Zusammenarbeit von Autorin und Regisseur. Sie zeigt eine perfekte Welt in knalligem grün. Eine grüne Wand steht auf der Bühne, mit einer Tür, in die ein Herz geschnitzt ist, eine grüne Fläche davor, auf der grünen Fläche ein grüner Sitzsack. Dort tummeln sie sich, die neuen Menschen: Sie trinken nur das Wasser aus den Wasserspendern rechts und links auf der Bühne, sie sprechen nur geschlechtsneutral, sagen Dinge wie "Das ist aber ein nettes und offenherziges Mensch" und "Es gibt hier keine Gewinner und Verlierer. Wir haben alle gewonnen, und zwar Selbsterkenntnis".
Sie tragen weiße, sackartige Dinge, finden: "Geschlecht ist Privatsache", haben grundsätzlich Verständnis für die Position der anderen. Es gibt keine Konflikte, keinen Ärger – wer negative Worte wie "hässlich" benutzt, dem wird über den Mund gefahren. Die utopische Gesellschaft ist zu einer Parodie politischer Korrektheit geronnen, die Menschlichkeit hat sich abgeschliffen im Fegefeuer konfliktfreier Euphemismen.
Die knallgrüne Welt
Das Ensemble – 26 Schauspieler insgesamt – tigern durch die knallgrüne neue Welt und zeigen ein Abbild dieser dystopischen Utopie, einmal quer durch die Gesellschaftsschichten, von Studenten über Klomänner ("Hygienebeauftragter"), von Müttern und Essensverkäufern ("Ernährungsfachmann"), sie arbeiten sich in locker aneinandergesetzten Szenen und Dialogen an dieser Gesellschaft ab. Allen voran Florian Eppinger als Professor, der für die Untersuchung kleiner Freuden zuständig ist, fröhlich seine Studenten mit Lachübungen indoktriniert und die Abtrünnige Dr. Osho als Therapeutin wieder auf Linie bringt. Oder Felicitas Madl, die als Raya über die Bühne tanzt, akrobatisch an sich selbst und der Gesellschaft orgasmierend. Hin und wieder kommt einer vorbei, der sich Schauspieler nennt, und kündigt an, um 18 Uhr gäbe es ein Schauspiel.
Kricheldorf skizziert eine Gesellschaft, in der politische Korrektheit ins sprachliche Extrem getrieben ist. Dass das nicht langweilig wird, ist der Sprachspielfreude der Autorin zu verdanken, die mit ihrer Formulierung "ich freue mich, dass das Mensch nun kleineren Lebewesen als Nahrung dient" selbst den Tod euphemisiert und die den Witz dahinter in immer neue Höhen treibt. Der Text – und das Spiel – funktionieren ganz wunderbar als überaffirmative Parodie auf jene, die mit Hilfe der Sprache als Sprachmacht die Gesellschaft verbessern wollen.
Programmatische Deutung
Erst in den letzten zehn, fünfzehn Minuten deutet Sidler das Stück für sich programmatisch um: Adam und Eva, zwei Menschen wie du und ich, saufend, rauchend, voller bekloppter Liebesprobleme steckend, sie in rotem Kleid und High-Heels, er in Anzug, fallen in das Paradies ein und verwirren die Einwohner. Wie kann einer Gift in sich kippen? Wie kann er seine Männlichkeit betonen? Warum hat er Bilder von Geschlechtsteilen in einer Zeitschrift bei sich? Wieso beißt er ständig in ein totes Tier? Wieso trägt eine Frau diese enge Kleidung? Die utopische Gesellschaft kommt zu dem Schluss, dass die beiden "Wilden" unerwünscht sind, und gerade, als sie getötet werden sollen, tritt der Schauspieler vor und fragt, ob denn allen das Schauspiel gefallen habe. Großes Aufatmen: Doch keine Wilden, sondern Schauspieler. Kunst, so sagt eine der Einwohnerinnen, sei dafür da, das Schlechte zu zeigen, damit man darüber nachdenken und das Gute umso gestärkter genießen könne.
Damit hat Sidler sein Programm für Göttingen formuliert: Ein staatlich sanktionierter Störer soll das Deutsche Theater unter seiner Intendanz sein, ein Ort, der vielleicht die Gesellschaft nicht verändert, aber dann doch Unangenehmes in diesem Schutzraum Theater zu den Menschen trägt, um sie zu stören und zum Nachdenken zu bringen.
Homo empathicus
von Rebekka Kricheldorf
Uraufführung
Regie: Erich Sidler, Bühne und Kostüme: Gregor Müller, Musik: Philip Zoubek, Choreographie: Valenti Rocamora i Torà, Video: Philipp Ludwig Stangl, Dramaturgie: Philip Hagmann, Mathias Heid.
Mit: Rebecca Klingenberg, Paul Wenning, Ronny Thalmeyer, Elisabeth Hoppe, Karl Miller, Benjamin Krüger, Lutz Gebhardt, Emre Aksizuǧlu, Rahel Weiss, Benjamin Kempf, Vanessa Czapla, Moritz Schulze, Benedikt Kauff, Bardo Böhlefeld, Florian Eppinger, Marie Seiser, Gaby Dey, Andreas Jeßing, Nikolaus Kühn, Gabriel von Berlepsch, Frederik Schmid, Andrea Strube, Katharine Uhland, Angelika Fornell, Felicitas Madl.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.dt-goettingen.de
Mehr zur langjährigen Zusammenarbeit zwischen Rebecca Kricheldorf und Erich Sidler? 2013 hoben sie in Heidelberg gemeinsam Sergeant Superpower rettet Amerika aus der Taufe.
Über ein "ganz starkes Signal" zum Intendanzauftakt berichtet Bettina Fraschke auf dem Onlineportal der Hessisch/Niedersächsischen Allgemeinen (6.10.2014). Rebekka Kricheldorf habe ein Stück geschrieben, "das präzise und auf den Punkt Strömungen unserer genderkorrekten, achtsamkeitsstrebenden, ernährungsfanatischen Selbstverwirklichungswelt auf die Spitze treibt". Es sei "großartig komponiert, toll geschrieben und hat einen hohen Wiedererkennungswert"; und es werde von Regisseur Erich Sidler zudem überzeugend als "klares Bekenntnis zu seinem Verständnis von Theater als notwendigem Störfaktor in der Gesellschaft" in Szene gesetzt.
Kricheldorfs Text, der "die Gemengelage wunderbar auf die Spitze" treibe, biete Sidler die Folie, seinem Ensemble beim Zusammenwachsen zu helfen, schreibt Peter Krüger-Lenz im Göttinger Tageblatt (6.10.2014). Manchmal erinnerten die Szenen an Schauspielschul-Unterricht. "Viel Ernsthaftigkeit steckt darin, aber auch eine wundervolle Komik."
Von einem "fulminanten Regie-Auftakt des neuen Intendanten Erich Sidler" schreibt Anna Steinbauer in der Süddeutschen Zeitung (22.10.2014), um sich dann vor allem Rebekka Kricheldorfs Stück zu widmen: In den witzigen, treffsicheren Dialogen der "ironisch-bitteren Gesellschaftssatire" werde der ganze Kosmos einer Wohlfühlwelt aufgefächert, "deren faschistische Schönheitsideologie so unterhaltsam wie erschreckend anmutet". Das von Kricheldorf entworfene Szenario sei eine Mischung aus Utopie, Horrorvorstellung und Science Fiction. "Aber auch Realsatire in einer Welt, in der der Sommerhit des Jahres 'Happy' heißt."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 11. September 2024 Regisseur und Theaterintendant Peter Eschberg gestorben
- 11. September 2024 Saša Stanišić erhält Wilhelm-Raabe-Literaturpreis
- 10. September 2024 Tabori Preis 2024 vergeben
- 10. September 2024 Theaterpreis des Bundes 2024 vergeben
- 10. September 2024 Fabienne Dür wird Hausautorin in Tübingen
- 10. September 2024 Saarländisches Staatstheater: Michael Schulz neuer Intendant
- 08. September 2024 Künstlerin Rebecca Horn verstorben
- 08. September 2024 Österreichischer Ehrenpreis für David Grossman
neueste kommentare >
-
Tabori Preis Mehr Abstand
-
Tabori Preis Einzelleistung, hervorgehoben
-
Tabori Preis Nur halb so viel wie...
-
Tabori Preis Höhe des Preisgelds
-
Theater Görlitz-Zittau Qual der Wahl
-
Buch Philipp Ruch Alternative für Aktivisten
-
Nathan, Dresden Das liebe Geld
-
Empusion, Lausitz Weitere Kritiken
-
Essay Osten Bürgerliches Kunstverständnis
-
Essay Osten Kuratieren im Osten
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Aber mit so einem schwachsinnigen Ende kann man nichts anfangen. Das ist einfach nur platt, plakativ und dumm. Dabei gelang es gerade am Anfang und etwa bis zur Hälfte in den reinen Spielszenen sehr gut einen Eindruck zu bekommen, was das hätte werden können, und das auch in und mit den teilweise etwas ausladenden Choreographien.
Aber dieses Ende scheitert grausam an dreierlei : Es ist fürchterlich dumm und unglaublich simple gedacht geschrieben, vollkommen ideenlos inszeniert und brutal krass schlecht von den beiden Darstellern gespielt. Aber richtig schlecht. Tut mir leid.
Es kommt aber etwas weiter vorher schon dicke. Ein großer Supervisor wurde geladen. Die theatrale Idee eine marode Firma anhand von simplen Eierlaufwettbewerben wieder auf Vordermann zu bringen ist ja an sich nicht schlecht - auch was das an Gedanken für einen selber mit sich bringt. Aber auch dieser interessante Kniff wird durch durch einen, sich in einer Dauerbewegungsnonsensschleife befindlichen Darsteller gekillt. Ist das Zwergnase, oder ist das irgendeine Tolkienfigur - aber voll auf Speed - oder ist es gar der grüne Bogenschütze?
Richtig schlechtes Bewegungstheater!
Ich hoffe, daß diese Art der Auseinandersetzung mit Utopien, anderen Lebensformen, Visionen, oder wie immer man es nennen will unbedingt immer mal wieder am Theater auftauchen, denn da haben sie erst mal ein Zuhause. Aber dann bitte etwas durchdachter, und dramatisch besser umgesetzt, aber trotzdem angreifbar. Theater das reizt und auch wehtut.
Aber nicht so.
ich ziehe den hut vor der schwierigen schlussszene zumal das textlich kein organischer sondern ein verkünstlter und überhöhter ansatz ist! das kann man nur begreifen wenn man genau hinhört und sieht :-)
das ist großartig. Ich freue mich auf die Spielzeit 2014/15 in Göttingen.http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=9998:2014-09-20-06-31-48&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40
Ich kann der Süddeutschen Zeitung nur beipflichten, dass das wirklich ein toller abend ist!!