Alle möglichen Welten

von Jens Fischer

Oldenburg, 3. Dezember 2015. Hallo liebe Kinder jeden Alters, was wollen wir denn heute mal spielen? Die Welt retten? Ja, dazu fällt uns bestimmt was Lustiges ein – mögen die Performer von Fake to Pretend gedacht haben. Da all die großen Gesellschaftsutopien des 20. Jahrhunderts "diskreditiert" seien, gestalten sie mit aktuellen, vor allem neoliberalen Weltrettungsideen einen bunten Abend, bei dem die Besucher als Mitspieler, nicht als Zuschaukünstler gefragt sind. Und erst einmal befragt werden nach Art einer TV-Tralala-Show. Als mehrheitsfähig erweisen sich Behauptungen, recht zufrieden mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation zu sein, nicht ganz so zufrieden mit dem Technikkrimskrams daheim. Ob jemand bereit wäre, einen Aspekt seines Lebens zu ändern? Zwischen den vorgegebenen Antwortextremen "keinen einzigen" und "immer alles" reihen sich die meisten bei "manches ist verhandelbar" ein.

Kein großer Utopiehunger also, eher Appetit auf ein paar Reformideen. Derart eingestimmt gilt es, einen Kita-Party-Parcours zu absolvieren: also an Spielstationen irgendetwas werfen, wissen, wetten, würfeln, wuppen und damit Stempelabdrücke auf einem Laufzettel sammeln. Als Gewinn lockt ein Zertifikat, ab sofort Botschafter für den einen oder anderen Zukunftsentwurf sein zu dürfen. Da keine Route durch den Abend vorgegeben ist, stellt sich jeder sein Bouquet an Erlebnissen zusammen. Das erzeugt mit 60 zugelassenen Gästen, die möglichst wenig auslassen wollen, ein wahres Tohuwabohu – und diese gehetzte Gefühl, immer das Beste zu verpassen, weil man gerade hier und nicht dort ist, wo es bestimmt prickelnder wäre.

Muscheln oder Nutella, das ist die Frage

Die "Seasteds"-Vertreter werben mit Algensalat, Algenchips, Seegurken-Smoothie und meergrünem Wackelpudding. Also dorthin. In einer kurzen Einführung ist zu erfahren, es gehe um Freihandelszonen, die auf den Weltmeeren für kreative Eliten als Start-up-Staaten inseln. In ihnen werde nach selbst entwickelten Gesetzen gelebt und gearbeitet und ausgesondert, wer nichts Nützliches für die Gemeinschaft schafft. Und wie bekomme ich einen Stempel? Ganz einfach, ein Rettungsring ist auf den Schultern eines Besuchers zu platzieren, und in einer Black Box sind Muscheln zu ertasten und zu kosten.

Utopoly 560 StephnWalzl uDas Publikum hat die Qual der Wahl im Oldenburgischen Staatstheater. © Stephan Walzl

Schnell hinein in die Welt der Entschleunigung und Ressourcenschonung sowie der Reduktion von Konsum und Erwerbsarbeit zugunsten eigenverantwortlicher landwirtschaftlicher und handwerklicher Tätigkeiten. Im Postwachstums-Iglu soll nicht mehr das Bruttoinlandsprodukt, sondern das Bruttoinlandsglück gesteigert werden. Was tun statt Online-Shopping? Wer jetzt eine Kartoffel in einen bereitgestellten Erdhaufen verbuddelt, hat den Stempel fast sicher. Nur noch eben bei einer Blindverkostung von Nuss-Nougatcremes den Marktführer rausschmecken, in zehn Sekunden stadtplanerisch innovative Ideen für Oldenburg entwickeln und in diversen Stoffproben diejenige identifizieren, die rein aus Baumwolle besteht.

Kätzchen als Wappentier

Die "Utopoly"-Regeln sind unübersichtlich, kaum etwas erklären die professionellen Schauspieler, strukturieren auch das Geschehen nicht, einige der studentischen Spielleiter wirken überfordert. Viel zu viele Aufgaben und Gesprächsangebote müssen in viel zu kurzer Zeit angerissen werden.
Nur einmal ist zu ahnen, was möglich gewesen wäre. Schauspieler Klaas Schramm stänkert los. Diese Verzicht-Utopie der Wachstumsverweigerer: unsexy. Diese schwimmenden Villen für Neureiche: Mumpitz. Und die Apologeten der Charter Cities würde doch nur Investoren suchen, um nachher die Bewohner mit Dumpinglöhnen auszubeuten. Jetzt könnte man ins Spiel kommen mit den "möglichen Welten". Aber es fehlen die performativen Mittel. Statt dessen werden weitere Slogans ausgepackt und eine "Gesellschaft der Wertschätzung" propagiert, der als Wappentier ein Kätzchen auf die Papierfahne gezeichnet wird. Süß.

Sollte nicht final die Utopie mit der größten Strahlkraft gekürt werden? Schon, allerdings führt ein verquatschter Moderator nur verwirrend durch eine endlose Auswertungszeremonie, die keinen Sieger hervorbringt. Verlierer sind eindeutig alle, die vom Theater mehr erwarten als einen harmlosen Spielespaßabend.

Utopoly
Ein Spiel mit möglichen Welten

Regie und Konzept: Fake to Pretend / Benno Heisel / Simone Niehoff / Daphne Ebner, Bühne und Kostüme: Gesine Geppert und Studierende der Universität Oldenburg, Musik: Pirmin Sedlmeir, Dramaturgie: Daphne Ebner.
Mit: Magdalena Höfner, Nientje Schwabe, Rajko Geith, Johannes Lange, Jens Ochlast, Klaas Schramm, Pirmin Sedlmeir und Studierenden der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg: Marie Adrian, Emel Cerit, Jana Feldhusen, Lena Gerken, Gesche Hambach, Amelie Jansen, Marianne Kurzer, Johanna Marquardt, Caroline Anna Scholz, Nina Taraschonnek.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten

www.staatstheater.de

 

Kritikenrundschau

In "Utopoly" erkunde das Publikum spielerisch "komplexe Utopien wie die Postwachstumsgesellschaft", berichtet Denis Krick in der Nordwest-Zeitung (online 5.12.2015). "Das klingt nach trockenem Brot, ist aber tatsächlich enorm unterhaltsam." Dass sich "die Zuschauer so geistreich engagierten", habe aber auch "am Ensemble des Staatstheaters" gelegen. Von Vorteil sei dabei "nicht nur die ansteckende Spielfreude aller Akteure, sondern auch die Bereitschaft, zu improvisieren und auf jeden einzelnen Visionär zuzugehen." "Utopoly" sei mehr "als ein Stück mit Zuschauerbeteiligung". Es sei ein "Brückenschlag voller angenehmer Überraschungen zwischen Sitzplatz und Bühne, der nicht ganz einfache Inhalte spielerisch vermittelt."

 

Kommentare  
Utopoly, Oldenburg: muss was dran sein
An dem Abend muss was dran sein, wenn er so klasse unaufgeregt, humorvoll und nicht zynisch, nüchtern und trotzdem nicht langweilend, beschrieben werden kann.
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