Abgrund - Kurator Branko Šimic eröffnet auf Kampnagel Hamburg das zweite multikulturelle KRASS-Festival zu Globalisierungsphänomenen
Der Kontext? Frontex!
von Tim Schomacker
Hamburg, 5. Februar 2014. Ein Text aus knappen Sätzen, die Verben stets im Infinitiv. Alltägliches – Kaffee zubereiten, die Zeitung hereinholen, Pflanzen von anderen Pflanzen unterscheiden, eine Reise vorbereiten – erscheint als Unvollendetes. Fast ein wenig ortlos. Irgendwann bricht ein Krieg über den Text herein. Und zwar ein durchaus zu verortender. Es geht um den Irak. Nikola Duric liest den Text vom Tablet-PC. Hochgewachsen und mit einem sandig-grauen Rock steht er an einem Mikrophon. Gelegentlich ist ein Echo zu hören, die hohe Frauenstimme von Jasmina Music. Sie legt Wege zurück. Umrundet einen Tisch, geht zwischen luftig herabhängenden Gazestreifen herum.
Festivaleröffnung mit multikultureller Biographie
Kurator Branko Šimic hat mit "Abgrund" eine eigene Produktion an den Beginn seines "KRASS"-Festivals auf Kampnagel gesetzt. Es ist die zweite Ausgabe des Festivals, das in Tanz- und Theaterproduktionen, Filmen, Vorträgen und Diskussionen transnationale Phänomene und ideologische Auswirkungen des Globalisierungsprozesses untersuchen will. Das "alchemistische Produkt" aus dem Untertitel zu Šimics "Abgrund" ist auf die libanesisch-amerikanische Dichterin und Malerin Etel Adnan gemünzt, um deren multikulturelle (und in gewisser Weise programmatisch ortlose) Biographie der Abend kreist – ohne dabei die 1925 in Beirut geborene Tochter einer Griechin und eines Syrers so richtig zu fassen zu kriegen. Zu verstreut sind Hinweise, Anleihen bei Werk und Biographie, zu zerstreut viele Bilder, zu unklar die Mischung mit anderen erdachten oder nacherzählten Lebensgeschichten. Dazu wird so viel unmotiviert herumgegangen an diesem Abend, dass es für zwei Schiller und einen Dürrenmatt ausreichen würde. Mindestens. Der eigene Eröffnungsabend scheint Šimic vor lauter Festivalvorbereitung nicht fertig geworden zu sein.
Duric und Music sollen zwei Lebensphasen von Etel Adnan repräsentieren. Music schmollt, als sie sich bei der Nennung des Namens der Stück-Patronin fälschlich angesprochen fühlt: Sie sei auch Etel Adnan, aber eben jene der jüngeren Jahre, "Happenings in California und so". Genau darüber hätte man bei einer mehrsprachigen libanesischen Künstlerin, die, einen Sorbonne-Abschluss in der Tasche, Mitte der 1950er Jahre in Berkeley studierte und 1972 in den Libanon zurückkehrte, gern mehr erfahren. Biographisch wie bühnenperformativ, um so vielleicht etwas Allgemeines (womöglich sogar für die Gegenwart Hilfreiches) herauszufiltern aus diesem Leben. Kaum hilfreicher ein Pseudo-Agit-Prop-Song später, in dem sich "Frontex" – for the sake of Schlagwort – auf "Kontext" reimt. Als müsse sich der Abend schnell mal seiner eigenen Zeitgenossenschaft versichern.
Migration als ästhetischer Motor
Einer Zeitgenossenschaft, die sich indes weder erzählerisch noch choreographisch wesentlich von Gemeinplätzen zu Globalisierung und Grenzregime, Ethnozentrismus und Krieg entfernt. Von der herbeizitierten Forderung Adnans, Literatur (und hier eben auch Performance) solle und könne etwas mit "Zeugnis ablegen" zu tun haben, ist wenig zu spüren. Zumal wenn ein vertontes Gedicht, das vom zarten utopischen Traum, Mauern und Zäune zu überwinden, erzählt, von einem Tänzer/innen-Trio illustriert wird, indem sich immer zwei an den Händen halten, während einer drauf zu rennt und im Arm-Grenzbaum hängen bleibt. Ein Bild, das den Anspruch des Festivals, Migration als ästhetischen Motor auch jenseits der Nacherzählung individueller Erfahrung zu sehen, direkt konterkariert.
Nur selten tauchen strukturelle Dimensionen auf an diesem Abend. Etwa in Arash Marandis Spoken-Word-Bericht über die Reise eines Deutsch-Iraners nach "Teherangeles" an der Westküste der USA, wo er sich als Autoverkäufer (gehobener deutscher Fabrikate) verdingt und mit Blick auf die vom Ingenieur handsignierten Porsche-Motoren fragt, warum auf einer H&M-Krawatte nicht auch das Autogramm einer Textilarbeiterin aus Bangladesch steht. Oder der tatsächlich anrührende Bericht des 18-jährigen Faissal Ahmadazy über die "Rückkehr" in ein Afghanistan, das er als Flüchtlingsbaby ja nie kennen gelernt hat.
Doch am Ende kommt wieder ein Schlagwort: "Lampedusa". Und aus der angemessenen Idee, statt der – üblicherweise im Gedenkkontext verlesenen, hier aber unbekannten – Namen der Opfer des letzten Bootsunglücks, sie laut zu zählen, wird ein schiefes Bild mit Plastiktüten, Video und Taschenlampen. Vor allem aber fehlt die Theater-Traute, auch wirklich bis 373 zu zählen – ohne Abkürzung.
Der Abgrund – Ich bin ein alchemistisches Produkt
von Branko Šimic
Regie: Branko Šimic, Musik: Frau Kraushaar, Sascha Demand, Dramaturgie: Nikola Duric, Choreographie: Rica Blunck, Video: Biljana Milkow.
Mit: Faissal Ahmadazy, Nikola Duric, Yvonne Krol, Arash Marandi, Jasmina Music, Sihan Refaie, Azad Yesilmen und jugendlichen Sinti und Roma der Theater-Gruppe "Schwarzer Zahn".
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.kampnagel.de
Nikola Duric tourt als Mitglied von Showcase Beat Le Mot auch mit einem ganz anderen alchemistischen Produkt: dem Wunderlaborwerk "Alles" (hier die Nachtkritik vom November 2011).
"Dem Abend mag etwas Halbfertiges anhaften", schreibt Annette Stiekele in einer Kurzkritik im Hamburger Abendblatt (7.2.2014). Und in seiner Mischung aus Literatur, Erleben, Agit-Prop-Songs gingen mitunter der Fokus und das Ziel verloren. In den Erlebnisberichten aber bekomme er etwas Dringliches. "Manche Geschichten sind es einfach Wert, gehört zu werden."
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