Die Möwe - Leander Haußmann taucht Anton Tschechows Künstlerdrama am Thalia Theater Hamburg in Kunstkerzenlicht
In der Komfortzone
von Katrin Ullmann
Hamburg, 22. Februar 2014. Im dritten Akt kommt sie in Sweatshirt und Jeans. Mittelgrau, dunkelgrau. Ihr Blick irrt wie ihre Hände. Ihre Finger suchen vorsichtig fahrig nach Halt. An der Stuhllehne, am Haar, am Tisch. Schließlich knibbelt sie an ihren Fingerkuppen, genau dort wo die Nerven enden. Birte Schnöink spielt Nina, "die Möwe" in Tschechows gleichnamigem Stück. Sie spielt sie leise und groß zugleich, existenziell und verloren, fragil und klar. In der Inszenierung am Hamburger Thalia Theater trägt sie den stärksten Moment des Abends: ihre Wiederbegegnung mit Konstantin Treplew (Sebastian Zimmler). Dieser ist mittlerweile ein erfolgreicher Schriftsteller und noch immer unglücklich in sie verliebt. Sie ist eine gescheiterte Schauspielerin mit Auftritten in der Provinz und einem verlorenen Herzen, verloren an den Schriftsteller Trigorin (Jens Harzer).
Unverfroren konventionell
Wenn Birte Schnöink mit mädchenhafter Verwunderung die Erinnerung an den Anfang ihrer Lebenssehnsucht wachruft, wenn sie ihren ersten Auftritt (in Treplews Stück) repetiert, wenn sie Fassung bewahrt und doch verzweifelt, wenn sie ihr Dasein erzählt und über sich selbst zu Staunen scheint, wenn ihre helle Stimme kippt, ihr Blick unruhig ist und sie doch die Beherrschung behält, wenn sie Konstantins unerfülltes Sehnen erträgt und sich ihrem eigenen unglücklichen Schicksal ergibt, dann vergisst man wegen dieser grandiosen Schauspielerin den flackernden Kunstkerzenkitsch, der sie umgibt, und die unverfroren konventionelle Inszenierung, durch die sie sich seit zweieinhalb Stunden bewegt.
Leander Haußmann, man muss es zu seiner Entschuldigung sagen, ist eingesprungen, nachdem der ursprünglich vorgesehene griechische Regisseur Yannis Houvardis und das Thalia Theater sich während der bereits laufenden Proben getrennt hatten. Vier Wochen bis zur Premiere, da bleibt nicht viel Zeit für einen eigenen künstlerischen Zugriff. Die Besetzung stand schon lange fest, genauso wie Bühne (Katrin Nottrodt) und Kostüm (Esther Bialas).
Gartenstühle machen einen Sommer
"Die Möwe", uraufgeführt 1896, ist eines der meist gespielten Stücke. Es geht darin um Kunst, um eine Auseinandersetzung zwischen neuen und alten Formen, um hoffnungslose Liebe und darum, wie man das Leben erträgt. Es geht um den Leerlauf der Alltäglichkeit, um die Sehnsucht nach Veränderung, womöglich auch nach Ruhm. Da ist zum einen die Provinz, in der sich eine illustre, gelangweilte Sommergesellschaft einfindet, zum anderen die weite Welt, mit ihren Bühnen und gefeierten Romanen. Es sind große Themen, die Tschechow mit klugen Dialogen, Finesse und Sprachwitz in der "Möwe" verhandelt. Es ist ein Stück, das nahezu unzerstörbar ist, vorausgesetzt, man verfügt über ein gutes Ensemble.
Das Thalia Theater hat das ohne Zweifel. Und so bleibt man auch an diesem wenig überraschenden Abend dran an der Geschichte und den Geschichten all dieser unglückseligen, höchst nervösen Figuren – verirrt in ihrem Leben, verloren in ihren Träumen. Ein paar Gartenstühle machen einen Sommer, rote Vorhänge werden von der Windmaschine strapaziert. Später wird Nebel eingespeist und hin und wieder bellt leise ein Hund. Atmosphärisch ist der Abend oft stimmig, erzählt ausführlich und auch meist glaubwürdig von Schriftstellern, Schauspielern und vom Scheitern.
Lebenseuphorie und Weltverachtung
Jens Harzers Trigorin ist ein künstlerischer Bürokrat. Beobachtungen und potenzielles literarisches Material sammelt er wie ein stiller Dokumentar des Lebens und wird mit seiner unauffälligen, fast teilnahmslosen Art mehr und mehr zur emotionalen Projektionsfläche etlicher Damen dieses Abends. Harzer macht, wie üblich, nicht viel, er schnurrt, schnarrt und schleicht und überzeugt dennoch. Oder gerade deshalb?
Leidlich hingerissen ist dieser Trigorin von Ninas naiver Lebenseuphorie, eingefangen wird er immer wieder von Irina Arkadina, die die zierliche Barbara Nüsse mit ihren 71 Jahren unglaublich jungenhaft, fast tänzerisch gibt. Ihre Irina ist ganz klar die unumstrittene Primaballerina der Moskauer Bühnen und leider auch Konstantins Mutter, eine Rolle, die sie ungern und entsprechend unbeholfen spielt. Sebastian Zimmlers Konstantin fordert diese immer wieder ein, ob beim Verbandswechsel oder bei seiner Theateraufführung. In Künstlerschwarz und Hornbrille ist seine Weltverachtung höchst existenziell. Mit schiefem Mund spricht er über Trigorin, den er heimlich verehrt, mit sichtlich bebendem Herzen lauscht er nach Ninas Schritten. Unglücklich ist er, in der Kunst genauso wie ein Liebe, ein unsicherer Rebell, dem die gesellschaftliche Anerkennung letztlich wichtiger ist als die Kunst selbst.
Hinter die Geheimnisse kommen
Tschechows Figuren sind gut besetzt an diesem Abend, sind menschlich, liebestoll und kurios. Der Inszenierung jedoch fehlt die Radikalität; nie verlässt sie in all ihrem guten Funktionieren die Komfortzone. Eine "Möwe" mehr repariert als inszeniert.
"Ich will hinter die Geheimnisse der Figuren kommen", hatte Leander Haußmann in einem Interview kurz vor der Premiere bekannt, und: "Ich möchte alle Zuschauer ansprechen, aber vor allem die, die zum ersten Mal ins Theater kommen." Eine künstlerische Offenbarung – nicht mal von Figurengeheimnissen – ist der Abend nicht, eine breitenwirksame Publikumsbefriedung schon.
Die Möwe
von Anton Tschechow
Deutsch von Angela Schanelec
Regie: Leander Haußmann, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Esther Bialas, Musik: Lothar Müller.
Mit: Marina Galic, Julian Greis, Jens Harzer, Matthias Leja, Barbara Nüsse, Cornelia Schirmer, Birte Schnöink, Alexander Simon, Wolf-Dietrich Sprenger, Sebastian Zimmler.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.thalia-theater.de
Leander Haußmann lande am Thalia Theater "einen Volltreffer", meint Stefan Grund im Hamburger Abendblatt (24.2.2014) und der Welt (25.2.2014). "Die Möwe" gerate ihm "zu einem Fest des Schauspieler-Theaters". Barbara Nüsse als Irina etwa sei "umwerfend", sie gehe "in Eigenlob und Szenemacherei bis an die Schmerzgrenze". Auch Birte Schnöink als Nina, Sebastian Zimmler als Konstantin und Wolf-Dietrich Sprenger als Sorin werden überaus lobend von Grund erwähnt, unerreicht aber bleibe der Großdichter Trigorin in Gestalt seines Darstellers Jens Harzer: "Der spielt beängstigend gut den ganz entrückten, immer nur für schmerzhafte Momente in die Wirklichkeit eintauchenden Schnösel."
Offenbar seien die Vorarbeiten der von Yannis Houvardas abgebrochenen Inszenierung – "Dramaturgie, Bühne, Kostüme, Licht – flexibel genug verwendbar" gewesen, "so dass der Regie-Tausendsassa Leander Haußmann einen kompakten Abend hinlegen konnte über zerstörte Ideale, verlorene Träume und unerfüllte Liebe", schreibt Werner Theurich auf Spiegel online (23.2.2014). "Eine wunderbar verwirbelte Aufführung, aber fast ganz ohne Windmaschine." Die "teils hingehauchte, teils drastische Symbolik" der Stoffbahnen des Bühnebilds von Katrin Nottrodt bestimme "in ihrer Wandelbarkeit den Charakter der Inszenierung, weil sie den Blick des Zuschauers immer wieder nach oben, ins Weite" richte. "Grundsolide, schwungvoll, dicht: Keine revolutionäre 'Möwe', aber ein rasant operierender Seevogel Marke Haußmann."
Haußmanns "Handschrift der Nettigkeit" sei "überall abzulesen", so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (26.2.2014). "Sein Gespür für Pointen sammelte vermutlich mehr Lacher, als dieses depressive Stück jemals errungen hat." Außer Schauspielerbetrachtung sei nichts Interessantes zu sehen, weil die Bühne von Katrin Nottrodt nur aus vier lahmen roten Stores besteht. Aber trotz eines "abwechslungsreichen Mimen-Kinos bleibt der Abend eine 'Möwe' in Bonbonverpackung."
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