Unter falschen Palmen

10. November 2021. Thorleifur Örn Arnarsson koppelt am Thalia Theater Hamburg die beiden Ibsen-Dramen "Ein Volksfeind" und "Die Wildente", um vom hohen Preis der Wahrheitssuche zu erzählen.

Von Falk Schreiber

"Die Wildente" am Thalia Theater Hamburg © Armin Smailovic

10. November 2021. Das Tropical Islands ist ein Spaßbad in Brandenburg, ungefähr 60 Kilometer südlich von Berlin, "Europas größte tropische Urlaubswelt", die rund 550 Menschen inmitten einer strukturschwachen Region Arbeit gibt. Würde jetzt jemand nachweisen, dass das Wasser in den Becken verseucht sei, dann zöge das eine soziale Katastrophe nach sich – besser also, man fragt nicht so genau nach. Auch in Henrik Ibsens "Ein Volksfeind" fragt man nicht nach, als immer mehr Besucher*innen eines Kurorts über Beschwerden klagen. Nur der Badearzt Dr. Stockmann erkennt, dass hier niemand ins Wasser gehen sollte, zumindest nicht, solange die Leitungen nicht saniert sind. Eine Sanierung wird mindestens zwei Jahre dauern. Und die Arbeitsplätze? Egal. "Wir können nicht vor der Wahrheit weglaufen!", ruft er pathetisch aus, und er hat ja recht, natürlich.

Lebenslügen in der Kleinstadt

Wolfgang Menardi hat ein Bad nach "Tropical Islands"-Art auf die Bühne des Hamburger Thalia Theaters gebaut, mit Schwimmbecken, Strand, Sprungturm und mehr oder weniger glücklich wirkenden Palmen. Ein perfektes Setting für Thorleifur Örn Arnarssons Inszenierung von "Ein Volksfeind". Nur, dass "Ein Volksfeind" gar nicht gespielt wird. Die Geschichte vom verseuchten Kurbad ist nur die Folie, auf der Arnarsson ein anderes Ibsen-Drama inszeniert, das zwei Jahre später entstandene "Die Wildente", und der Satz "Wir können nicht vor der Wahrheit weglaufen!" ist das Scharnier, mit dem diese Verschränkung funktioniert.

Wildente2 805 ArminSmailovic uKein Spaßbad mit Ibsen: Rosa Thormeyer spielt Hedwig Werle © Armin Smailovic

In "Die Wildente" ist also nicht Dr. Stockmann der Wahrheitsfanatiker, sondern Gregers (Jens Harzer), ein Sonderling, der lange "im Norden" lebte, jetzt in seine verachtete Heimatstadt zurückkehrt und davon beseelt ist, die Lebenslügen der Kleinstadtgesellschaft aufzudecken. Beziehungsweise: vor allem die seines Jugendfreundes Hjalmar (Merlin Sandmeyer), dessen Familienfrieden tatsächlich brüchig ist, aber immerhin scheint er damit leben zu können. Weil Harzers Gregers vor Selbstgerechtigkeit kaum laufen kann, merkt er nicht, wie er Hjalmar ins Unglück stürzt. Und dessen Frau Gina (Cathérine Seifert) und Tochter Hedwig (Rosa Thormeyer) gleich mit.

Dass Arnarsson "Ein Volksfeind" und "Die Wildente" koppelt, funktioniert im Theater also überraschend gut. Bis zum Schluss aber wird nicht so ganz klar, weswegen er das eigentlich macht. Dass es der Inszenierung um ein Ausloten des Spannungsverhältnisses zwischen Lüge und Wahrheit geht, ist nämlich unübersehbar, die Doppelstruktur übernimmt die Funktion eines doppelten Ausrufezeichens. Kann man setzen, ist aber eigentlich unnötig. Zumal der Abend dann auch vergleichsweise stringent den "Wildente"-Stoff nacherzählt, in den nur von Zeit zu Zeit ein paar "Volksfeind"-Motive eingeschrieben sind: Gregers verbeißt sich in die Annahme, dass Hedwig gar nicht Hjalmars Tochter ist, und weil der erstens leicht beeinflussbar ist und zweitens ohnehin nicht der Hellste, glaubt er ihm und verstößt Frau und Kinder. Am Schluss sind alle Beteiligten unglücklich, und eine Familie ist zerstört – tolle Wahrheit.

Familie als neurotisches System

Die Konzentration auf die Familie als neurotisches System macht den Abend jedenfalls überraschend still. Das Kraftmeiernde, das sich von Zeit zu Zeit in Arnarssons Inszenierungen einschleicht, ist hier kaum zu sehen, einzig als Thormeyer einmal einen erschossenen Hirsch über die Bühne schleppt, dräut der Mythos ein wenig, schieben sich nordische Wälder, Nebel und Natursymbolik in die Handlung.

Ansonsten aber: sehr sensibel gearbeitete, zwischenmenschliche Miniaturen. "Bist du glücklich?", fragt Gregers einmal Hjelmar, worauf der Luft holt, um zu antworten, dann allerdings kein Wort rausbekommt und unsicher auf die Umgebung zeigt. Und wie Harzer und Sandmeyer das spielen, selbstgewiss und arrogant der eine, tief verstört der andere, das ist sehr gut beobachtet.

Wildente 805 ArminSmailovic uGregers (Jens Harzer) bringt Wahrheit und Verderben in die Familie © Armin Smailovic

Marina Galic als Gregers Schwester Helena ist angesichts dieser fein ziselierten Familienzerstörung ein wenig verschenkt. Helena stellt den Link her zur "Volksfeind"-Schiene des Abends, was die Figur angesichts der Tatsache, dass "Ein Volksfeind" irgendwann gar nicht mehr interessiert, die gesamte letzte Szene im Bondage-Korsett (Kostüme: Andy Besuch) an den Bühnenrand verdammt.

Die Kunst des Weglassens

Das ist schade, weist aber darauf hin, dass Arnarsson eine Vielzahl von Ideen andeutet, die für den Abend gar nicht notwendig sind. Der Walt-Disney-Film "Das hässliche Entlein"(!), der zu Beginn auf den Vorhang projiziert wird: hübsch aber unnötig. Die Indie-Klassiker von Radiohead bis Leonard Cohen, die das Geschehen untermalen (Musik: Gabriel Cazes): stimmungsvoll, aber unnötig.

Am Ende bleibt der Blick auf eine dysfunktionale Familie, die ein Wichtigtuer gewaltsam mit einer Wahrheit konfrontiert, die niemand braucht. Und statt sich (wie bei Ibsen) zu erschießen, verlässt Hedwig die Bühne. Sie geht einfach, und dass sich der Überwältigungsregisseur Arnarsson hier als Meister des Weglassens erweist, ist vielleicht die bemerkenswerteste Erkenntnis dieses schönen, konzentrierten, wahrscheinlich nicht ganz zu Ende gedachten Abends.

 

Die Wildente oder Der Kampf um die Wahrheit
frei nach Henrik Ibsen
in einer Fassung von Thorleifur Örn Arnarsson, basierend auf der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Thorleifur Örn Arnarsson, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüme: Andy Besuch, Musik: Gabriel Cazes, Licht: Jan Haas, Dramaturgie: Susanne Meister.
Mit: Marina Galic, Jens Harzer, Tilo Werner, Merlin Sandmeyer, Cathérine Seifert, Rosa Thormeyer. Live-Musik: Gabriel Cazes, Tom Gatza.
Premiere am 9. November 2021
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

Kritikenrundschau

"Düster ist an diesem Abend nicht nur das Bühnenbild", findet Katja Weise im NDR (10.11.2021), die den Zusammenschnitt von "Wildente" und "Volksfeind" einen gelungenen Ansatz findet. Schließlich seien Gregers Werle und der Badearzt Thomas Stockmann "verwandt", zeigten "zwei Perspektiven auf eine existentielle Frage". "Fantastisch" sei das Ensemble vor allem in seiner Fähigkeit, "auch leichtere Momente zu zeigen". Der Abend sei "stringent", "herausfordernd" und "konzentriert".

"Das antagonistische Spiel der beiden Geschwister steigert sich (...) zum Höhepunkt dieses Theaterabends", schreibt Kevin Hanschke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.11.2021). Jens Harzers Greger werde bei Arnarsson "zum stillen Helden. Genauso wie die junge Tochter, die sich aus den Fängen ihres Elternhauses und den Lügen ihrer Familie befreit." "Dem Publikum Ibsens Kosmos ausgehend von diesen zwei Helden vorzustellen und also die beiden Dramen zu einem tragikomischen Kammerspiel zusammenzufassen ist eine gute Idee", so Hanschke. "Einige Passagen der Inszenierung sind dennoch zu lang, und auch die Gesangseinlagen wirken zusammenhanglos."

In Arnarssons Konzept gehe es "weniger um psychologisches Theater als um die Illustration einer These: dass die Arroganz des westlichen Statusdenkens die Lebenswelt der armen Welthälfte vernichtet, seine Nutznießer aber im Brustton der Aufklärung als Weltretter auftreten. Diese Bigotterie erzählt Arnarsson hier als Parabel", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (11.11.2021) und bemängelt die schauspielerischen Konsequenzen, die sich diesem Konzept verdanken: "Jens Harzer stolziert herum wie ein Julian Assange für Paartherapien" und spielt in "sehr ungewohnter Eindimensionalität" den Moralisten Werle "als maximal unsympathischen Zyniker, dem jedes Mitgefühl abgeht". Das Fazit fällt dann moderat aus: "Über manche Strecken ist diese Inszenierung ein bisschen zu deutlich ein Erziehungsstück über bigotte Moralisten und rücksichtsloses Statusdenken. Aber sie findet immer wieder Szenen, um den Appell der These hinab auf die verzweifelte menschliche Dimension zu brechen, wo Theater mehr kann als kluge Bücher."

Kommentare  
Wildente, Hamburg: Stimmung, Schönheit, Nutzen
Sehr geehrter Herr Schreiber,

Ich habe den Abend noch nicht gesehen, wollte aber dennoch auf Ihre Kritik reagieren, weil sie ,wie ich finde, doch stellenweise problematisch ist. Sie scheinen entscheiden zu wollen,was unnötig ist für einen Abend ist und was nicht. Das ist ihr gutes Recht, wenn Sie sich an etwas stoßen, zum Beispiel an dem Bild mit dem Hirsch , oder wenn Ihnen etwas gefällt .
Aber zu schreiben etwas sei stimmungsvoll (Musik oder Video) aber unnötig, finde ich recht dreist..Zum einen erheben Sie sich damit über die Regie, da Sie ja besser wissen was ein Theaterabend an Zutaten braucht und was nicht und stellen sich somit als Kritiker auf Künstlerebene. Zum anderen werten Sie Bild und Klang als etwas ab, das sich unterzuordnen hat..Dabei lebt doch das Theater von Sinnlichkeit, deren Träger neben den Darstellern und dem Text zu einem Grossteil die Musik und das Bild sind .Reduktion ist etwas wunderbares, aber wenn sich ein Regisseur nicht dafür entscheidet ist es sein gutes Recht. Wenn Ihnen etwas nicht gefällt schreiben Sie das. Aber schreiben Sie nicht wie es besser ginge ,oder was sie gerne gesehen hätten, oder gehört. Beschreiben Sie ,was Sie sehen oder werden Sie Regisseur oder Dramaturg. Aber bitte keine Tipps geben.(Merke gerade ,dass ich das hiermit auch tue) Für mich ist „stimmungsvoll“ etwas Positives. Vielleicht funktioniert auch alles ohne Musik zb..Aber es funktioniert scheinbar auch mit..und die Wahl der Mittel sollte den beteiligten Künstlern überlassen werden. Mit freundlichen Grüßen K.
Wildente, Hamburg: BITTE ohne SONGS
Die Verschachtlung der Stücke gelingt erstaunlich gut, jedoch bleibt zuviel vom VOLKSFEIND aussen vor. Die neue schwester fasst in bester Darstellung zwei Figuren zusammen. Das klappt. Schwierig schien mir der z.T. Sehr luftige, komödiantische Zugang der ersten Stunde. Und Gott sei Dank hat sich hjalmar In der letzten 3/4 Stunde zu einer konzentrierten Darstellung der Figur entschieden.
Die Figur Gina wurde durch die genaue tiefgehende Darstellung durch Frau Seifert bestens aufgewertet und Hedwig ist immer ein Problem. Ich bevorzuge die Erinnerung an das Kind Claudia Brunner in Berlin 1979 bei Noelte.
Die Wildente, Hamburg: Arnarssons Ibsen-Deutung
Thorleifur Örn Arnarsson hat Ibsens “Volksfeind“ und „Wildente“ miteinander verwoben, um der Frage nachzugehen, ob Offenheit und Ehrlichkeit bzw. Wahrheit, oder besser, was man dafür hält immer Recht ist, auch wenn es in Ruin und Zerstörung führt. Bevor sich der Vorhang hebt, flimmert Disneys „Ugly Duck“ der Archetyp des Außenseiters über diesen. Dann hebt sich der Vorhang und die Bühne von Wolfgang Menardi tut sich auf. Eine surreal anmutende Poollandschaft mit schwarzen Palmen, schwarzen Bullerbesen und einem schwarzen Sprungturm vor weißem Hintergrund mit allerlei schwarzglänzenden Tiergestalten, die an Bilder von Dali erinnern, eingetaucht in das Licht von Kerzen. Was für ein düsteres, irritierendes Bild, dieses Opening. Lange Minuten der Stille werden wir mit der Bühne konfrontiert, bevor die Lady in Black sich auf dem Sprungturm bewegt oder das Mädchen im Pool den ersten Song anstimmt, um die ersten optischen Wahrnehmungen mit akustischen zu ergänzen, umso eine düstere, melancholische Stimmung zu schaffen. Ein Prospekt mit grünen Palmen, türkis-blauem Meer und untergehender Sonne werden vor dieser düsteren Bühnenrealität am Hintergrund aufgezogen und schaffen doch nur die Gewissheit eines Fakes. Die Bühne ist ein elementares Setting in dieser Inszenierung. Dann tauchen erste Figuren im Halbdunkel auf. Catherine Seifert bewegt sich in gebückter Körperhaltung im exakt einstudierten Bewegungsmuster einer Ente über die Bühne, richtet sich dabei immer mehr auf, bis sie zu Gina Ekdal wird. Grandios diese Bewegungsstudie. Schauspielerisch ist diese Inszenierung ein Hochgenuss, wenn Jens Harzer als Gregers und Marina Galic als Helena über die weitere Existenz des verseuchten Kurbades streiten und dieser Streit in einer Wortschlacht und Schreierei enden, oder wenn die Streitereien um das Kurbad in Slapstick artigen Szenen (Harzer im grünen Glitzerfummel, mit Taucherbrille und Cat-Woman-Haube) enden. Auch die Szene der Liebesbeteuerung von Hjalmar (Merlin Sandmeyer) und Gina (Catherine Seifert) im Artistentrikot über den Pool hinweg, ein Bild das mehr sagt als Worte. So schafft Arnarsson ständig surreale Bilder, die die Innenwelt der Akteure spiegeln und den Zuschauer emotional fesseln. Im Zentrum steht die Sehnsucht Gregers nach Wahrheit, die auch in unserer Gesellschaft größer wird. Je mehr Fake-News die Runde machen, umso größer wird die Forderung nach Wahrheit. Doch diese verkommt zum Spielball politischer und gesellschaftlicher Interessen. Polemik, Populismus, Lug und Trug bestimmen den Kampf um die Wahrheit. Gregers lehnt sich entschlossen gegen die Lügen auf. Einerseits gegen eine gesellschaftliche Lüge, die einer Region durch den Erhalt des Kurbades die Existenz seiner Bewohner sichert und einer familiären Lüge, die den weiteren Bestand des vermeintlich glücklichen Familienlebens sichert. Was geschieht, wenn solche Wahrheiten in Ruin und Zerstörung führen? Und wer hat das Recht, seine Sicht im Namen einer eigenen Moral durchzusetzen? Wie soll man mit Wahrheiten oder besser, was man dafürhält, umgehen? All dies fragt Arnarsson in seiner Inszenierung. Lügen als menschliche Notwendigkeit, um sich vor den Zumutungen des Lebens zu verschanzen? Hedwig (Rosa Thormeyer) die Tochter der Ekdals liebt ihre invalide Wildente und ihren Vater. Als Hjalmar erfährt das seine Tochter vermeintlich ein Kuckuckskind sei, sagt er sich von ihr los. Gregers rät Hedwig, ihre Wildente zu töten, die Hjalmar hasst, um so ihrem Vater zu beweisen, wie sehr sie ihn liebt. Diesen Preis zahlt Hedwig nicht. Sie verlässt die Familie und geht ihren eigenen Weg. Gregers im letzten Teil des Abends mit leicht weiß geschminktem Gesicht und schwarzer Kleidung gewinnt was Clowneskes und wer, als der Narr könnte besser Fragen stellen. Da scheinen sich Ibsen und Arnarsson einig. Ihre Aufgabe sind Fragen und nicht Antworten.
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