Wir sind noch einmal davongekommen - Das Hamburger Thalia Theater zeigt als Ergebnis seiner Spielplanwahl Thornton Wilders Steinzeit-Familiensatire
Ich habe das Mammut gemolken
von Matthias Weigel
Hamburg, 23. Februar 2013. Nur allzu oft verlässt man das Theater mit der Frage, warum dieses oder jenes Stück nun überhaupt aufgeführt wurde. Wieso dieser Autor noch gespielt werde, was uns diese Thematik heute noch erzählen könne, was denn die Regie daran interessiert hätte. Wenn diese Fragen auftauchen, dann deshalb, weil sie der Abend nicht beantworten konnte.
In sozialen Netzwerken gepusht
Keine dieser Fragen stellt sich bei "Wir sind noch einmal davongekommen" am Hamburger Thalia Theater. Denn der einfache Grund, warum dieses absurde Stück von Thornton Wilder aus dem Jahr 1942 aufgeführt wird, ist: Es erhielt bei der aufsehenerregenden Spielplanwahl vor über einem Jahr hinreichend viele Stimmen (vornehmlich von einem anonymen Manipulator über Social Networks gepusht).
Nun also ist endlich ein erstes Ergebnis dieser abenteuerlichen Aktion zu sehen, die angesichts der Unregelmäßigkeiten damals ein Raunen verursachte und bald auch Kopfschütteln oder hämisches Grinsen. Erst nach einigem Hin und Her, wie man hört, konnte schließlich Marco Štorman (Jahrgang 1980) überzeugt werden, sich des Wilder'schen Werkes anzunehmen. Und trotz der ungewöhnlichen Genese der Konstellation ist sie vielleicht gar nicht so untypisch für unsere Stadttheaterlandschaft.
Eiszeit in New Jersey
Wilders 1943 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Stück handelt von der Familie Antrobus, eine Metapher für die Menschheit, die Eiszeiten und Sinfluten durchlebt, aber gleichzeitig im beschaulichen New Jersey wohnt, Dinos als Haustiere und Moses zu Gast hat. Der inzwischen selten gespielte Stücktext ist mit zahlreichen Brüchen versehen, wie dem Heraustreten aus der Rolle (bzw. dem Wechsel in die andere Rolle als "Schauspieler"). So kommt als Antwort auf die Frage "Haben Sie das Mammut gemolken?" zum Beispiel nur ein lässiges "Ich verstehe kein Wort von diesem Stück. – Ja, ich habe das Mammut gemolken."
Dieses Spiel um das Spiel treibt Štorman auf die Spitze, indem er das Publikum erstmal in ernsthafte Zweifel versetzt, ob die Vorstellung überhaupt stattfinden kann. Daniel Lommatzsch spielt den charmanten "Regisseur", der eingangs mit einer Authentizitätsoffensive für echte Verunsicherung sorgt. Doch wenn der doppelte Boden einmal durchschaut ist, sind die späteren Ausflüge ins Private von Victoria Trauttmansdorff als fuchteliger Mutter Antrobus, Katharina Schmalenberg als derb-laszivem Dienstmädchen oder Matthias Leja als schrullig-gestörtem Vater natürlich mehr Slapstick als glaubhafter Kommentar.
Rotzige Revue
Auf einer drehbaren Show-Bühne muss sich die Familie Antrobus von ihren Fred-Feuerstein-Sofas erheben, um vor Ventilator-Schneestürmen davonzukommen, die Arche Noah zu organisieren oder Bingo-Zahlen mitzukriegen. Dabei knirscht es immer künstlich im Theatergetriebe. Text wird vergessen, Mitspieler treten zu spät auf, Kulissentüren öffnen sich in die falsche Richtung: Der Katastrophe, der unvorhersehbaren Störung begegnet die Menschheit überall. Ist die eine Katastrophe überstanden, wartet schon längst die nächste. Wir leben, um zu überleben?
Trotz mancher Spannungsflauten geht Štorman souverän mit der großen Bühne um und beweist, dass er über ein reiches Theatermittel-Repertoire verfügt, dass er den Ton der rotzigen Ironie-Revue anstimmen kann, die einige komische Typen hervorzaubert.
Nur bliebe, wenn sie nicht schon beantwortet wäre, die Frage: Wozu das Ganze? Mit der scheinbaren Spielplan-Demokratisierung hat das Thalia Theater letztendlich eine Parabel auf die knallharten Marktgesetze des bestehenden Stadttheatersystems geschaffen. Denn ob ein Stück wie "Wir sind noch einmal davongekommen" nun auf den Spielplan "gewählt" wird oder von einem Dramaturgen reingeschrieben wird (wofür sich über die Stichworte Katastrophe / Finanzkrise / Klimaerwärmung sicher irgendeine Begründung finden ließe), bei der Umsetzung kommt es doch letztendlich aufs gleiche raus: Während die arrivierten Regisseure ihre Bedingungen diktieren, Stoffe und Konditionen frei wählen können, stehen die "Newcomer" immer wieder vor der Frage, ob sie für eine Inszenierung in Kauf nehmen, miserabel (oder überhaupt nicht, wie einem in Einzelfällen sogar zu Ohren kommt) bezahlt zu werden, nur zwei Schauspieler zu bekommen oder, wie in diesem Fall, ein Stück aus dem Giftschrank aufführen zu müssen.
Transparency Theatrical
Wobei der offizielle Stück-Zwang diesmal zu einem spürbar entspannten Ausprobieren an der Form geführt hat; die offensichtliche Entschuldigung für den Inhalt nimmt einem ja auch einen gewissen Druck, stellt Ehrlichkeit her. Vielleicht ist das die große Errungenschaft der Spielplanwahl, die weitergeführt werden müsste. Eine Initiative "Transparency Theatrical" sozusagen, die radikal Produktionsbedingungen offenlegt und Transparenz schafft: Ja, diese Inszenierung musste eine Uraufführung in der Nebenspielstätte sein, ja, diese Aufführung wurde ohne Kostüm- oder Bühnenbild-Budget umgesetzt, oder – ja, diesmal wurden dem Regisseur alle Wünsche erfüllt. Einen Versuch wäre es doch wert. Wer traut sich?
Wir sind noch einmal davongekommen
von Thornton Wilder
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Marco Štorman, Bühne: Constanze Kümmel, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Video: Peer Engelbracht, Sound: Gordian Gleiß, Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Christina Geiße, Matthias Leja, Daniel Lommatzsch, Axel Olsson, Sven Schelker, Katharina Schmalenberg, Victoria Trauttmansdorff.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.thalia-theater.de
Für nachtkritik.de kommentierte Georg Kasch 2011 die Diskussionen um die Spielplanwahl des Hamburger Thalia Theaters.
Schon die "schräge, selbstreflexive" Eröffnung dieses Abends für ein "Stück, das von Anfang und Wiederaufbau erzählt und theatergeschichtlich gesehen doch ziemlich am Ende ist", weiß Daniel Haas von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.2.2013) zu überzeugen. In der Nachzeichnung des Aktverlaufs lässt der Kritiker wiederholt sein Lob für die Darsteller aufleuchten: Wie Matthias Leja in Akt II den Präsidenten spielt, sei "tollste Komik und bitterste Kulturkritik zugleich". Am Ende stehe "einfach ein exzellentes Darstellerensemble auf der Bühne, erschöpft vom Gutmenschentext. Das ist der stimmigste Ausgang einer Inszenierung, deren Gegenstand aus der Maschine kam."
Stefan Grund kanzelt dagegen im Hamburger Abendblatt (25.2.2013) das "vermeintliche Vergnügen des auf eine platte Klamotte reduzierten Klassikers des epischen Theaters" ab. "Klamauk ist angesagt, bis zum bitteren Ende. Tapfer mühen sich die guten bis exzellenten Schauspieler, den Textrest auf das Niveau einer akzeptablen, soll heißen, gelegentlich zum Lachen verführenden Komödie, zu heben." Fazit: "Der hoffnungsvolle Nachwuchsregisseur Štorman war von Wilder offenbar hoffnungslos überfordert."
In der Süddeutschen Zeitung (26.2.2013) merkt Till Briegleb an, Thornton Wilder müsse als der René Pollesch seiner Zeit gelten, und sein Stück, das sehr doof sei, hätten die Zeitgenossen in den vierziger Jahren (20. Jh) als "frech, mutig und irgendwie Avantgarde" bewertet. Junge Regisseure wendeten seit 20 Jahren, selbstredend ohne Kenntnis des Originals, "Wilders Form der Sinn-Demontage auf klassische Stoffe an", inszenierten Shakespeare, "als handele es sich um die Simpsons". "Tatsächlich" habe es einer "hausgemachten Katastrophe", nämlich der Spielplanwahl bedurft, das Stück wieder auf die agenda zu setzen. "Weil eine Berliner Kneipengesellschaft die Wahl mit hunderten Postkarten kaperte" und Dimiter Gotscheff den Stoff zurückgegeben habe, "bekam der junge Regisseur Marco Storman das Unglück hingeworfen." Storman habe den "scheintoten Patienten mit der Chemotherapie alberner Einfälle" behandelt. Familie Antrobus träte mal als "die Flintstones" auf, mal als "verrenkte Präsidentenfamilie", als "Nosferatu und Flash Gordon". Die Arche Noah sei "King Kongs abgeschlagene Hand, der Telegramm-Bote ein sprechender Papp-Ticker und Moses quatscht ein Phantasie-Aramäisch". Obwohl sich Victoria Trauttmansdorff und Matthias Leja Mühe gäben, den Abend auf ein "gesteigertes Blödel-Niveau zu hieven, stirbt der Patient dann doch am Infekt der Bocklosigkeit".
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Lieber Herr Weigel,
das sind ja schöne Beschreibungen zum Abend und vielerlei Überlegungen zur Sinnhaftigkeit von Online-Befragungen, aber eine kritische Würdigung des Abends fehlt fast ganz.
Ich ging mit einer großen Leere wieder nach Haus.
Ein hervorragendes Ensemble, klar, raffinierte, überraschende Bühnenbilder (am eindrucksvollsten aber nicht die großen Räume, sondern das enge Kinderzimmer), aber wo war die Geschichte?
Dreimal wurde eine eigentlich wenig intelligente Familie gezeigt, die sich in ihrem Mikrokosmos bewegte, die sich selber in Frage stellte und die wenig Zukunfts-Hoffnungen bot, da man ihr nicht zutraute, wirkliche Krisen zu meistern. Soweit so gut, um die eine Seite der Geschichte darzustellen.
Aber beim Thornton Wilder geht es doch weiter. Viele kleine Einheiten zusammen bilden wieder eine größere Einheit und hier liegt die Chance für eine Krisenbewältigung. Dies wurde aber in keiner Weise dargestellt oder auch nur als Botschaft angedeutet.
Vielleicht war es ja Absicht, vor allem den Mikrokosmos zu zeigen, die vorherrschende Orientierungslosigkeit und die Tatsache, dass der Einzelne sich nur mit dem beschäftigt, was er kennt.
Es kam auch etwas Ironie, klar, aber es war vor allem Klamauk ohne Entwicklung auf ein Ziel, revueartig!
Und das ist Fastfood, stark gewürzt und sättigend, aber ohne Raffinesse, ohne Substanz, ohne Botschaft! Und dann wird es langweilig...
Oder sahen Sie das vielleicht sogar auch so und wollten den klaren Worten aus dem Weg gehen?
Auch das Bühnenbild hat uns Genuss bereitet. Die Hand des Affens auf der Säule mit dem Blitz und Donner der Sintflut.
Insgesamt hätten wir uns noch ein bisschen mehr Mut zu Vision gewünscht. Schade, dass so viel des Originaltextes nicht dazu verwendet wurde.