Immer noch Sturm - Peter Handkes Heimat-Saga von Malte Kreutzfeldt in Kiel stark inszeniert
Vom Untergang der Apfelmenschen
von Michael Laages
Kiel, 9. Januar 2015. Wer wohl nicht an diesen Punkt gekommen ist, irgendwann, eines Tages, in höherem Alter, manchmal auch schon früh: an den Heimat-Punkt … wer hätte sich dann nicht gefragt nach dem Zuhause. Der Dichter Peter Handke bekannte, dass ihn die Geschichten, die er in seinem zuletzt uraufgeführten Theatertext "Immer noch Sturm“ erzählt, schon lange umgetrieben hätten; herum geträumt habe er immer wieder an der Beschwörung dessen, was Erinnerung und Heimat war und blieb für ihn.
Hoch dekoriert und viel umstritten, noch im vorigen Jahr bei der Verleihung des Ibsen-Preises in Oslo, war er dem Theater ja stets eher locker verbunden geblieben – und wurde fast 70, bis die szenische Phantasmagorie aus den armen Bergtälern im Grenzgebiet von Slowenien und Kärnten 2011 in Salzburg auf die Bühne kam. Dimiter Gotscheff hatte den Text als Koproduktion des Thalia-Theaters in Hamburg mit dem Wiener Burgtheater inszeniert: als grandiose Sprach-Séance.
Und was nicht selbstverständlich war: "Immer noch Sturm", das Stück, hat den Weg auf die unterschiedlichsten Bühnen im Lande geschafft. Osnabrück, Nürnberg, Lübeck … nach vielen anderen Stationen kommt "Immer noch Sturm" nun in Kiel an.
Verlorene Welt
Malte Kreutzfeldt, Lübecker vom Jahrgang 1969 und nach ersten prägenden Jahren, unter anderem in der Nachwendewelt von Halberstadt, mittlerweile ein bewährter Schauspiel- und Opernregisseur, erzählt im Kieler Schauspielhaus die Geschichten aus Peter Handkes Apfelwelt – auf leerer, stark geneigter Bühne (einem Berghang … ) und vor oder unter einem virtuellen Apfelbaum versammelt der Ich-Erzähler die alteingesessene Obstbauernfamilie: die knorrigen Großeltern und deren fünf Kinder, die eigene Mutter inklusive. Vater fehlt – wir erfahren später, warum.
Mit prall gefüllten Apfelkisten in den Händen berichten sie von der goldenen Zeit: 1936, als sie, die slowenische Minderheit, noch friedlich und unbehelligt im österreichischen Kärnten leben, geachtet und geschätzt als Menschen mit goldener Hand für den Obstanbau. Noch sprechen sie die eigene Sprache, singen die eigenen Lieder – bis im "Anschluss" Österreichs auch diese Enklave in den Bergen reichsdeutsch arisiert wird, Schritt für Schritt. Heimat und Heimatverlust, Sehnsucht ohne Hoffnung nach der verlorenen Welt: das ist Handkes poetisches Thema.
Dann ist schon 1942 und die Bergbauern-Jungs sind in den Krieg gezerrt worden. Der jüngste stirbt als erster, weit weg in Russland. Der zweite hofft aufs Überleben und die goldene, englischsprachige Zukunft in irgendeiner Neuen Welt – aber auch er kommt nicht zurück. Der Älteste hat Heimaturlaub und geht (wie eine der Schwestern) zu den Partisanen in die Berge; er wird zum Schluss auf der Seite eines Sieges sein, der nicht mehr viel wert ist. Denn die Partisanen-Schwester ist tot, und die Welt, wie sie war, ist endgültig dahin – eine Mauer wie einstmals quer durch Berlin baut das Ensemble im zweiten Teil zwischen die alte und die neue Welt, Vergangenheit und Gegenwart.
Akt der Selbstvergewisserung
Die zweite Schwester übrigens fraternisierte mit einem reichsdeutschen Liebhaber – das Ich des Erzählers ist das verachtete Bastard-Kind aus dieser Liaison. Diese Figur schaut die ganze Zeit über dem Untergang zu, lebt mit – und erfindet das anrührende Finale: wenn sein jüngeres "alter ego" vom Indianerstamm der Atabaquen berichtet, die sich noch in touristischster Entfremdung der eigenen Heimat ein System der Selbstvergewisserung schufen. Sie winken einander ab und an zu, und sagen so: "Wir sind noch da!"
Sicher nicht mehr zu streiten ist über Peter Handkes hoch poetische, manchmal wunderschöne, an Wort-Findungen überreiche Sprache – Deutsch etwa, flucht der Großvater nach dem Tod des Jüngsten, sei die "Luftzerhackersprache", voll von "Trommelfelldurchstoßbrüllen". Manchmal auch mäandert Handkes Erzählen frei und irgendwie nur so vor sich hin, kann sich selber nicht satt hören am schönen eigenen Ton – das sind dann die eher schwächeren Momente.
Starke Geschichtsbeschwörung
Aber Kreutzfeldts Kieler Team bleibt eher dem klaren, verzweifelt-kämpferischen Klang der Geschichtsbeschwörung auf der Spur, szenisch sehr genau und konzentriert auf die nicht ganz unkomplizierten Konstellationen dieser zersprengten Familie, geschunden in der Tragik der Geschichte wie das Volk, zu dem sie gehörte.
Ein starker, kräftiger, handfester und in allem sehr poetischer Theaterabend ist das geworden in Kiel. Was längst nicht mehr bewiesen werden musste: dass dieser späte Handke unbedingt zu den Highlights im Repertoire der Gegenwart gehört. Denn das Kieler Team erfüllt Handkes großen Anspruch, eine Geschichte vom unausweichlichen Elend der Welt zu erzählen im Untergang der slowenischen Apfelmenschen. Der Sturm, der sie von der Weltbühne fegte, hält an.
Immer noch Sturm
von Peter Handke
Inszenierung: Malte Kreutzfeldt, Bühne: Damian Hitz, Kostüme: Katharine Beth, Dramaturgie: Jens Paulsen, Licht: Joachim Mohr.
Mit: Isabel Baumert, Marko Gebbert, Rudi Hindenburg, Christian Kämpfer, Werner Klockow, Zacharias Preen, Agnes Richter, Yvonne Ruprecht, Oliver E. Schönfeld.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.theater-kiel.de
Kreutzfeldt mache in seiner Handke-Inszenierung "behutsam sichtbar, wie die Weltgeschichte ins Private fegt und das Private wieder zu Geschichte wird", schreibt Ruth Bender in den Kieler Nachrichten (12.1.2015). Er erzähle "in leisen Bildern von Ver- und Entwurzelung"; zwischen "Licht und Dunkel" entwickle der Abend "einen Rhythmus, der das Schwebende, Ungefähre von Handkes Sprache aufnimmt".
Über eine "bildmächtige Inszenierung", die bei der Premiere viel "Zustimmung" fand, berichtet Sabine Christiani in der Schleswig-Holsteiner Zeitung (12.1.2015). "Die Äpfel, Symbole eines quasi-paradiesischen Zustandes, stehen bei Kreutzfeldt für Unschuld und Zusammengehörigkeit." Wenn sie am Ende zu duftendem Kompott verkocht würden, entstehe "ein stilles Bild, das einen berührenden Schlusspunkt setzt."
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