Die große Klassenrevue - Impulse Theaterfestival
Feiere die Verachtung von unten!
30. Mai 2024. Im Stile der Agitprop-Arbeiterkunst der 1920er Jahre nimmt sich Christiane Rösinger die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft vor. Eine launige und bissige "Klassenrevue", die jetzt das "Impulse"-Theaterfestival eröffnet.
Von Dorothea Marcus
30. Mai 2024. Erstmal eine "Kooperationskola" trinken – oder ein glibbriges Outside Eye knabbern. Zur Eröffnung laufen zwei Studentinnen des Bochumer Masterstudiengangs "Szenische Forschung" als frisch gegründetes "Connectiv" durch die häppchenhungrigen Zuschauer vor dem Kölner Carlswerk und bieten im Bauchladen ihre "Snalks" an: eine Mischung aus Snacks und Talks, die Gesprächsanlässe zwischen Unbekannten durch Essen schaffen wollen.
Aber es gibt heute Abend auch ganz gesprächsanlasslose vegetarische Hot Dogs zum Sekt. Und nach einem einstündigen Redemarathon samt performativer Einlagen und Live-Schaltungen zum Stadtprojekt "Schwimm-City" in Mülheim an der Ruhr geht dann endlich der Haupt-Act des Abends los.
"Wir sind doch alle Mittelschicht!"
Vorwitzig steckt der Performer Minh Duc Phan sein behaartes Bein durch den Vorhang, um anschließend mit roter Schluppenbluse und Glitzer-Ohrringen als glamourös-charmante Moderatorin des Abends aufzutreten. Denn: "In guten Songs und schönen Liedern erkennen wir uns wieder" – in Christiane Rösingers "Die große Klassenrevue" wird kein schmissiger Schüttelreim ausgelassen.
Roesinger geht in ihrer Revue in Anlehnung an die 1920er Jahre Agitprop-Kunst von Erwin Picastor heutigen Klassenverhältnissen nach: Fragen der Ungleichheit, der Privilegien, des Erbschaftsrechts. Herausgekommen ist die Arbeit im September 2023 am HAU in Berlin und machte dann Karriere. Sie wurde zum Publikumsrenner, stand sogar auf der Longlist des Berliner Theatertreffens.
Nebel wabert, die Bühne wird blutrot, die vierköpfige Band im Hintergrund gibt alles zur meisterhaft musikalischen Grundierung der Show. Aber wer darf da eigentlich mitmachen? Um ihre Privilegiendichte zu checken, stellen sich die Performer*innen an einer Linie auf. Musikunterricht? Bücher? Trendsportarten? Urlaube? Solche Bürgerkinder müssen zurückbleiben und zur Band gehen. Wiederverwertete Klamotten? Eltern als Landarbeiter? Geldsorgen von früh bis spät? Die rücken vor.
Komplizierter wird es, wenn Minh Duc Pham im Erzgebirge immer neue Klamotten tragen musste, um seine Herkunft aus Vietnam zu verschleiern. Oder alleinerziehende, aber studierte Mütter mit am Start sind – gehören die auch zur sogenannten "Mittelschicht", die immer breiter wird, aber vor allem durch Abgrenzung nach unten funktioniert? "Ich finde meine Klasse nicht – wir sind doch alle Mittelschicht", besingen sie den seltsam undefinierten deutschen Normalzustand, der sich stets nach unten abgrenzt und dabei vom Aufstieg träumt. Der wiederum ganz und gar nicht funktioniert.
Arme Kindheit im Osten
Auf der sozialen Doppelleiter thront Duc Phan mit No-Chance-Chanel-Tasche und hindert die anderen mit schweren Geräten in Zeitlupe und Nebeldampf, sie zu besteigen. Da kann eigentlich nur noch die Kunst helfen – selbst gewähltes Distinktionsmittel in Dauerarmut. Ist das noch die Bohême oder schon die Unterschicht? Manchmal sind Privilegien auch eine Sache der Perspektive.
Schön auch, wie Doreen Kutzke ihre "arme" Kindheit im Osten besingt, immer nur Wandern im Harz oder FKK oder die Warnungen ihrer Eltern vor Trash TV. Oder die höhere Tochter Julie Miess verzweifelt versucht, als "my fail lady" ihre Klasse zu wechseln, weil Unterschicht so viel mehr "real" ist. Doch der Stallgeruch, oder besser: Habitus der Reichen lässt sich nicht abschütteln, weder mit dem Regulierungsstock noch dem Dialektofon, das "Hochdeutsch klebt an ihr wie ein Fluch".
Erbscham-Behandlung mit Stefanie Sargnagel
"Erbscham" therapiert auch die "Erbschamtherapeutin" Dr. Dr. Dr. Stefanie Sargnagel, die sich als Stargast lässig auf dem Sessel räkelt und total lustig im österreichischen Dialekt von den Vorteilen einer armen Kindheit erzählt: Essen, Fluchen und Fernsehen, was, wann und soviel man will mache mehr Spaß und bereite auf das wahre Leben vor. Vorher verkörpert sie mit zerrupftem Zitronenkostüm noch die "Neiddebatte": jenes neoliberale Totschlagargument und billiger Kampfbegriff der Konservativen gegen jeden Veränderungsanstoß. Doch kann sich die Gesellschaft Reiche überhaupt noch leisten? Jedes Jahr steige das Erbvolumen um 400 Milliarden, werde die Ungleichheit auf der Welt exponentiell größer.
Auf den Vorhang werden Vorschläge zur Erbgerechtigkeit unter anderem von Thomas Piketty eingeblendet: Wie wäre es mit einer Erbschaftssteuer ab einem Erbe von einer Million Euro? Schmissige, gut gelaunte, kämpferische Songs ertönen, um die Sache umzuwerten, kraftvoll die "Verachtung von unten" zu feiern für die fossilen Klimakiller und Besitzstandswahrer. Bunt und prächtig ist es: Brecht-Zitate, Talkshows, das Märchen der Bremer Stadtmusikanten vor Pappkulissen ziehen sich durch den Abend, die Cover-Songs sind schmissig und mitreißend, die Reime kalauerhaft lustig, manchmal wähnt man sich im Kabarett oder Polit-Musical.
Die Analyse stimmt, die Moral auch, allein – der Ansatz zur Veränderung könnte noch konkreter rüberkommen. Am Ende schwenken sie eine rote Fahne, Dampf zischt, spielen die Pariser Commune nach zur Melodie von "Eternal Flame". Das ist am Ende etwas redundant, könnte kürzer sein, wirkt zuweilen etwas zu kindlich-pädagogisch-launig für ein Thema, das Gesellschaften zu zerreißen droht. Und dann geht die Bohême-Bubble des Impulse-Publikums gemütlich zum Sekttrinken. Gut, dass wir nicht reich sein müssen.
Die große Klassenrevue
von Christiane Rösinger
Regie: Meike Schmitz, Christiane Rösinger, Bühne: Marlene Lockemann, Sina Manthey, Co-Komposition: Paul Pötsch, Musikalische Leitung: Laura Landergott, Paul Pötsch, Band: Laura Landergott, Paul Pötsch, Albertine Sarges.
Performance: Sila Davulcu, Doreen Kutzke, Paula Irmschler, Julie Miess, Minh Duc Pham, Christiane Rösinger, Stefanie Sargnagel, Andreas Schwarz.
Uraufführung am 20. September 2023 am HAU Berlin
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.impulsefestival.de
www.hebbel-am-ufer.de
Mehr zum "Impulse"-Theaterfestival 2024:
- Im Interview spricht Festivalleiter Haiko Pfost über aktuelle Tendenzen der freien Theaterszene.
- Hier finden Sie die komplette Festival-Auswahl.
- nachtkritik.de besprach aus der Auswahl bereits Museum of Uncounted Voices von Marina Davydova und Die Namenlosen von Nesterval.
Kritikenrundschau
Am Ende rette sich die Inszenierung in die "trotzige Sozialromantik von der Würde der Armut". "So bringt man den Ist-Zustand auch nicht ins Wanken", schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (31.5.2024). "Aber dass auf einer deutschen Bühne überhaupt einmal von Klassenverhältnissen die Rede ist, auch davon, wer sich Kunstgenuss und -produktion leisten kann, dafür muss man dem enorm vergnüglichen Abend dankbar sein."
"Christiane Rösinger, die selber auch als sehr präsente Schauspielerin mit auf der Bühne steht, gelingt es mit dieser musikalischen Revue, das Publikum zum Grübeln zu bringen - und das dann tatsächlich verbunden mit bester Unterhaltung", schreibt Verena Düren in der Kölnischen Rundschau (31.5.2024). Sorgt 'Die große Klassenrevue' zur Eröffnung des diesjährigen, letzten Festivals unter Haiko Pfosts Leitung, beim Erleben zunächst noch für gute Laune und viele Lacher beim Publikum, so bleiben sie und die ausgesprochen wichtigen und aktuellen Fragen doch hängen und arbeiten in einem."
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