Maß für Maß - Karin Beier transportierte ihre Wiener Shakespeare-Inszenierung nach Köln
von Andreas Wilink
Köln, 23. November 2007. Wien, Wien, nur du allein. Karin Beier nahm, in ihrer vorläufigen Abschieds-Inszenierung vom Burgtheater, die Phantasie für bare Münze. Shakespeares fiktives Herzogtum verortet sie konkret in der österreichischen Hauptstadt und ihren Randbezirken, wo breitester, fürchterlichster Dialekt gesprochen wird, dass es selbst dem Herrn Karl des Qualtinger wohl arg zu Ohren gekommen wäre.
Ihr "Maß für Maß", das im Frühjahr Premiere hatte, wanderte nun in fast gleicher Besetzung an den Offenbach-Platz, um dort Beiers Schauspiel-Repertoire zu ergänzen. Die Adresse, gewidmet dem Andenken an den Pariser Operetten-Komponisten aus Köln, ist der Aufführung ziemlich angemessen.
Im Vergleich zu Beiers "Nibelungen", die den Auftakt ihrer Intendanz bildeten und trotz erheblicher Kürzungen doch weithin Hebbels Trauerspiel folgten, ist hier nicht der Autor Shakespeare das Maß aller Dinge. Vielmehr das lockere, freie und deftige Improvisieren: seit jeher (und das heißt bei der Regisseurin Beier von Beginn an in der Beschäftigung mit Shakespeare) ihre Stärke und gelegentlich ihre Schwäche, verursacht durch zu große Nachgiebigkeit.
Basisdemokratie statt Ambivalenz
In Shakespeares herber Komödie vollzieht sich ein kaum mehr unterscheidbarer Wechsel von der guten zur schlechten Ordnungsmacht: vom Herzog Vincentio, der zum Schein seine Heimatstadt verlässt und die Regentschaft Lord Angelo überträgt, auf den bigotten Stellvertreter. Nach außen kehrt der den Tugendbold hervor und installiert ein rigides lustfeindliches, sittenstrenges Regime, um im Geheimen jedoch die fromme Isabella mit Leben oder Tod ihres Bruders Claudio zu erpressen und die Gunst der keuschen Novizin zu erzwingen.
Bei Beier wird aus dem Drama der Ambivalenz eine gewissermaßen basisdemokratische Angelegenheit. Volkes Stimme übertönt lautstark alles andere. Adel und Hof sind (am Anfang mehr, am Ende weniger) des Amtes enthoben, Vincentios Palast weicht einem Verwaltungsapparat, der in Gestalt des ministeriellen Vollzugsbeamten Angelo den moralischen Sumpf trocken legen will. Nicholas Ofczarek passt sich mittels abgezirkelter, ausgeklügelter gestischer Rhetorik eine gestriegelte Charaktermaske an, mit der er kokett seine Neurosen Gassi führt und nonchalant die Abgründe überschreitet, um wohlbehalten in der flach gehaltenen Kolportage anzukommen.
Trainingszeugträger vorm Transistorradio
Eine Art verwahrlostes Asyl (Bühne: Thomas Dreißigacker) bietet dem Prekariat Heimstatt, wo es mit seinem Bodensatzbau das große Wort führt, über Biertischthemen schwadroniert und Abzocke-Mentalität mit Fremdenfeindlichkeit zur braun-weißen Melange mischt. Was "die da oben" verzapfen, ist der rabiaten Bagage eh "Wuascht".
Neuigkeiten erfahren die parasitären Existenzen in Asi-Kluft (buntes Trainingszeug, Schuhschlappen, beiger Strick) nebst einer mit eindeutigen Berufsbekleidungs-Attributen ausgestatteten Chantal (Regina Fritsch) aus dem Transistorradio. Wenn es nicht deutsche Schlager dudelt (das Abhören des "Melodien für Millionen"-Repertoires und der Zank um die Sender-Einstellung gehört zum potenzierten Spaßfaktor des Abends), verkündet es die Nachrichten.
Etwa, dass Angelo jetzt der kommunale Saubermann ist, null Toleranz für das Prostitutionsgewerbe aufbringt ("Köpfen fürs Hosen-Aufknöpfen") und den Wohlfahrtsstaat einschränkt. Den Hartz IV-Empfängern oder vergleichbaren Einkommensschichten geht es an die Stütze. Da hört der Spaß auf – oder fängt erst richtig fett an, wenn etwa "das Recht auf Arbeitslosigkeit bei vollem Lohnausgleich" gefordert wird.
Auch Bielefelder Subproletariat tritt auf
Die Agenda 2010-Hardliner wären für diese Kanaille im Reservat ihrer Tagesstätte, die wahlweise zum Massagesalon oder zur Sammelzelle umfunktioniert wird, keine Wunschkandidaten. So prall die depperte Unterschicht ausstaffiert ist und so lustvoll sie agiert, so wenig Kennung besitzen die Führungskader samt der betulich entwickelten Haupt- und Staatsaffäre.
Die in ihren schwankenden Stilmitteln sichere Inszenierung, die mit weichen Schnitten das (durch Doppelrollen verbundene) Zwei-Klassen-System trennt, hat allerdings Mühe, deren wenig passgerechte Kanten zu verleimen. Die soziale, gar sozialpolitische Kompetenz der zweidreiviertel Stunden muss man nicht für voll nehmen.
Bleibt also die Zote, das F-Vokabular, das typengewitzte oder auch nur witzelnde Knallchargentum und sein Blödeln. Dass das Wiener Subproletariat indes keine lokalspezifische Besonderheit, sondern beliebig ausdehnbar ist, bringt Michael Wittenborn in die präpotente Prol-Runde als "Lachender Vagabund" aus Bielefeld ein, womit Karin Beier schon mal vorsorglich ihren NRW-Bezug hergestellt hat.
Maß für Maß
von William Shakespeare
deutsch von Frank Günther
Kölner Premiere
Regie: Karin Beier, Bühne: Thomas Dreißigacker, Kostüme: Maria Roers.
Mit: Regina Fritsch, Julia Wieninger, Simon Eckert, Jürgen Maurer, Markus Meyer, Nicholas Ofczarek, Hermann Scheidleder, Tilo Werner, Michael Wittenborn, Peter Wolfsberger.
www.schauspielkoeln.de
Kritikenrundschau
Karin Beier, schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (25.11.2007), gehe mit ihrer Inszenierung von Shakespeares "Maß für Maß", die sie vom Burgtheater nach Köln geholt hat, "aufs Ganze" und zwar so, dass sie "nur so kreislert und qualtingert". Die bittere Komödie aus dem fiktiven "Vienna" ins Praterviertel zu verlegen, erweise sich als "Verlegenheitslösung". Karikaturen, Klamauk und Kalauer, Zoff und Zoten würden streckenweise "famos gespielt" doch bleibe die Aufführung dem Drama "zu viel schuldig". Shakespeare werde "tiefergelegt, doch die Regisseurin zeigt sich nicht auf der Höhe."
Es gehe von Anfang an hoch her, vermeldet Brigitte Schmitz-Kunkel für die Kölnische Rundschau (26.11.2007), "auch wenn Thomas Dreissigackers graues Bühnenbild und Maria Roers ranzige Jogginganzüge auf den ersten Blick furchterregend nach politisch korrektem Lehrbühnentheater aussehen". Doch "korrekt" sei bei dieser Inszenierung "eben gar nichts". Vielmehr setze Karin Beier "beeindruckend präzise" die "vollkommen ernsten Szenen um Würde und Anstand zwischen rasend komische „Milljöh“-Skurrilitäten". "Ton und Botschaft des Originals trifft die Shakespeare-Expertin genau." Deshalb "einhelliger Jubel für Karin Beier und das Ensemble".
Auch Christian Bos (Kölner Stadt-Anzeiger, 26.11.2007) hat eine "Komödie mit viel Hintersinn" gesehen. Obwohl "Maß für Maß" im Grunde ein Problemstück und keine Komödie sei, dürfe man in "Beiers schwungvoller und mutig kürzender Bearbeitung" dennoch "herzlich lachen". Denn "das Ensemble darf im breitesten wienerischen Dialekt improvisieren. Fast hätten wir gesagt, so richtig die Sau rauslassen, aber dann übersieht man die große Detailliebe, mit der Beier und ihr Ensemble diese Szenen erarbeitet haben". Schauspielerisch sei der Abend jedefalls "ganz große Klasse".
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