Das Fremde in uns

6. Februar 2022. Das Theater an der Ruhr hat schon mehrmals mit dem italienischen Theaterkollektiv ANAGOOR zusammengearbeitet. Der neue Abend wurde von Simone Derai  inszeniert und holt deutsch-italienische Belagerungs-Geschichte in großer Sprachkonzentration auf die Bühne. Roberto Ciulli ist auch dabei.

Von Sascha Westphal

Sinnsuche zwischen Skelettteilen: "Germania. Römischer Komplex" am Theater an der Ruhr © F. Götzen

Mülheim, 6. Februar 2022. Eine Geschichte aus den 1960er Jahren. Ein Arbeiter, den es aus dem Süden Italiens nach Deutschland verschlagen hat, bekommt seinen Wochenlohn in bar ausgezahlt. Er zählt das Geld, mehrfach. Aber es bleibt dabei. Der Betrag stimmt nicht mit dem überein, der ihm genannt wurde, als er die Arbeit angenommen hat. Er ist niedriger. Also wendet er sich an den, der ihm das Geld in die Hand gedrückt hat. Aber er spricht kein Deutsch und kann sich nur schwer verständlich machen. Die Antwort, die er erhält, beschränkt sich auf ein Wort, "brutto", und verstört ihn zutiefst. Denn im Italienischen bedeutet "brutto" "hässlich". Er, den das Leben und die harte Arbeit gezeichnet haben, weiß, dass er hässlich ist. Aber kann das ein Grund für einen geringeren Lohn sein? 

Roberto Ciulli erzählt diese Geschichte wie ein Märchen aus der Wirklichkeit. Er spricht die Worte und Sätze langsam ins Mikrophon, das vor ihm steht. In seiner Stimme liegen neben einer tiefen Melancholie, auch Resignation und Mitgefühl für diesen Arbeiter, der an der Sprach-Grenze innerlich fast zerbricht. Der verzweifelte Versuch des Mannes zu verstehen, wo der Zusammenhang zwischen seinem Lohn und seinem Aussehen liegt, wird zum Sinnbild eines Lebens in der Fremde und mit dem Fremden.

Sichtbare und unsichtbare Grenzen

An die teils sichtbaren, teils auch unsichtbaren Grenzen, die das Leben in einem anderen Land, aber nicht nur dort, prägen, ist Roberto Ciulli immer wieder gestoßen. Auch davon erzählt er in diesem Teil von Simone Derais Inszenierung "Germania. Römischer Komplex". Seine Erfahrungen zeugen von einer doppelten Fremdheit, zunächst in Deutschland, später dann in Italien. Und immer ist es die Sprache, die Grenzen zieht, die ausschließt und Menschen zu Fremden macht.

Am Ende seines Auftritts spricht Ciulli dann über Jean-Luc Nancy und dessen Werk "L’intrus. Der Eindringling. Das fremde Herz". Mit dieser Referenz stellt er allen Konstrukten vom Eigenen und vom Fremden, aus denen immer Gewalt erwächst, eine Idee des Menschen entgegen, der das Fremde fortwährend in sich trägt, der akzeptiert, dass es keine Kontrolle über das Leben gibt. Und wer das einmal akzeptiert hat, wird andere immer als Mit-Menschen und nicht als Fremde und damit womöglich als Feinde sehen.

Archäologie auf dem Totenfeld

Roberto Ciullis Erzählungen stehen im Zentrum dieser Koproduktion zwischen dem Theater an der Ruhr und dem italienischen Theaterkollektiv ANAGOOR, und das im wörtlichen Sinne. Während seines Auftritts sitzt Ciulli auf einem Barhocker, der vor der eigentlichen Spielfläche steht, einem mit ausgeblichenen Gebeinen übersäten Totenfeld, und blickt direkt ins Publikum. Er spielt nicht, sondern spricht einfach. Und so ist es auch in den Szenen, die Ciullis Monolog rahmen.

Germania 3 FGoetzen uWas sagen die Reste der Geschichte, die Toten und Skelettteile? Simone Thoma als Archäologin © F. Götzen

Simone Thoma, Bernhard Glose, Marco Menegoni haben zwar erkennbare Rollen. So kommt Simone Thoma als Archäologin auf die Bühne, die in den verstreuten Skelettteilen, in den Bergen von Toten, die von der Geschichte der Menschheit angehäuft wurden, einen Sinn sucht. Und Menegoni ist zu Beginn der römische Annalenschreiber, Glose der von ihm beschriebene Germane. Später verkörpern sie dann die zu Feinden gewordenen 'Brüder' Flavus und Arminius, von denen Tacitus in seinen "Annalen" berichtet. Aber im klassischen Sinn spielen sie praktisch nicht. Sie arbeiten vor allem mit ihren Stimmen und mit den Effekten, die ihre Mikrophone erzeugen können.

Innerer Belagerungszustand

"Germania. Römischer Komplex" ist im Grunde eine Sprach- und Gedankenperformance, die von Mauro Martinuz' Sounddesign begleitet und verstärkt wird. Martinuz' oft dräuende und dumpfe elektronische Klänge schaffen eine Atmosphäre der Bedrohung. Sie versetzen einen in einen ständigen Belagerungszustand, in dem das Äußere immer auch etwas Feindliches in sich zutragen scheint. Von diesem steten Zustand der Abgrenzung, die in jedem Augenblick in Gewalt umschlagen kann, zeugen auch die Texte von Tacitus, Antonella Anedda, Frank Bidart und Durs Grünbein, die Simone Derai miteinander zu einer tiefen und tiefbeeindruckenden Reflexion über Menschen- und Feindbilder verschränkt hat.

Germania 1 FGoetzen uBernhard Glose, Simone Thoma, Marco Menegoni © F. Götzen

Der Verzicht auf typische Spielsituationen, die meist nur sehr sparsame Bebilderung der einzelnen Szenen, die Details aus den Texten aufgreift und so die großen Bilder von Krieg und Zerstörung, Rebellion und Tod in den Köpfen des Publikums entstehen lässt, verleiht Derais Inszenierung eine enorme Konzentration. Nur zwei längere Videosequenzen weiten diesen puristischen Theaterabend, der einen konsequent auf einen selbst zurückwirft.

Sich kreuzende Waldwege

Der erste Film zeigt in extremer Verlangsamung, wie dem Kaiser Augustus das Haupt des Varus überbracht wird. Das Ensemble des Theaters an der Ruhr spielt diese Szene wie in einem expressionistischen Stummfilm. Das Entsetzen über und das Unverständnis angesichts der Niederlage der römischen Legionen provoziert eine Art von Versteinerung, die das Blutvergießen verlängern wird. Der zweite Film zeigt eine heutige Waldszenerie mit spielenden Kindern und Spaziergängern mit Hunden, in die immer wieder kurze Einstellungen von Bernhard Glose als Germanen in der Römerzeit eingeschnitten sind.

Die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart löst sich auf. Was war, ist immer noch in unseren Gedanken und auch in unseren Körpern präsent. Aber es gibt eben auch den von Roberto Ciulli beschriebenen Weg, sich von den vergangenen Zuschreibungen zu lösen, den Antagonismus zwischen dem Fremden und dem Eigenen hinter sich zu lassen.

Germania. Römischer Komplex
von ANAGOOR
Uraufführung
Regie: Simone Derai, Dramaturgie: Simone Derai, Paola Barbon, Patrizia Vercesi, Regiemitarbeit: Marco Menegoni, Bühne & Kostüme: Simone Derai, Musik & Sounddesign: Mauro Martinuz, Videoregie: Simone Derai, Kamera: Giulio Favotto, Videoschnitt: Simone Derai, Giulio Favotto, Lichtgestaltung: Jochen Jahncke, Regieassistenz: Svea Menne.
Mit: Simone Thoma, Bernhard Glose, Marco Menegoni, Roberto Ciulli Schauspieler:innen im Video: Petra von der Beek, Dagmar Geppert, Klaus Herzog, Fabio Menéndez, Steffen Reuber, Gabriella Weber. Koproduktion zwischen dem Theater an der Ruhr und ANAGOOR
Premiere am 5. Februar 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

Kritikenrundschau

"Buchstäblich alles hier – Text, Vortragsduktus, Körperhaltung, Kostüm, Dekor, Videomaterial, Tonkulisse – ist taciteisch gestaltet, also knapp und dunkel, denkbar lapidar", schreibt Patrick Bahners von der FAZ (8.2.2022), der dein Eindruck "überwältigender Prägnanz" mitnahm. Das Werk spreche für sich "und es bringt so etwas wie eine Stimmung absoluter Lokalität hervor, mit bloßen Worten, illus­triert mit einfachsten theatralischen Mitteln".

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