Ödipus / Bock - Theater an der Ruhr, Mülheim
Wie man (s)einen Körper findet
25. August 2024. Festivalgedanke: In Mülheim setzt sich die Saison aus thematischen "Theaterinseln" zusammen. Zum Auftakt befragen Alexander Klessinger, Mats Süthoff und Katharina Stoll das "Geheimnis" der Mensch- beziehungsweise vielmehr: Mannwerdung. Mit Masken und Fanfaren.
Von Sarah Heppekausen
25. August 2024. Ist das der Mensch? Die Geste? Dieser verstärkende körperliche Ausdruck einer Emotion, einer Haltung? In beiden Premieren des "Geheimnis"-Projekts am Mülheimer Theater an der Ruhr gibt es Szenen und Momente, die das zumindest vermuten lassen. Da versuchen Aliens, die Erdbewohner zu verstehen, indem sie deren Hand- und Kopfbewegungen nachahmen, indem sie sich körperlich ins Erleben hineinversetzen. Und der heranwachsende junge Mann im nächsten Stück, der sich nicht nur Freundschaft, sondern vor allem Sex mit Frauen wünscht und zur theoretischen wie praktischen Hilfe Dating-Online-Kurse ausprobiert, der untermalt sein neues Selbstbewusstsein mit breitbeinigem Schritt und großer Pose. Der Mensch als Körperausdruck. Aber von vorn.
Sophokles unterm Abendhimmel
Das Theater an der Ruhr eröffnet die zweite Saison unter dem neuen Spielplan-Konzept. Sogenannte Theaterinseln haben den Repertoirebetrieb abgelöst. Dreimal pro Spielzeit gibt es ein mehrwöchiges Festival mit Inszenierungen, Konzerten, Workshops, Diskurs und Kunstparcours. Nach dem Thema "Rausch" in der vergangenen Saison folgt jetzt das "Geheimnis". Neu ist die Formation eines fünfköpfigen künstlerischen Programmteams (statt der bisherigen kollektiven künstlerischen Leitung, zu der noch Regisseur Philipp Preuss gehörte). Am Konzept ändert das erst mal nichts.
Gespielt wird auch wieder draußen, im Raffelbergpark. Sophokles unterm Abendhimmel wie im alten Griechenland. Nur dass sich bei dieser "Ödipus"-Version der jungen Regisseure Alexander Klessinger und Mats Süthoff eben erst mal Aliens durch den Park zur knallroten Bühne bewegen – gesichtslose Wesen aus einer fernen Zukunft in weißen Kleidern (Kostüme: Sophie Leypold), trippelnde Schritte, gerader Oberkörper, starre Bewegungen. Dazu hören wir nachrichtliche Ankündigungen der Voyager-Sonde, die 1977 ins All startete, mitsamt der Goldenen Schallplatte, die Musik, Grußbotschaften, Sounds und Grafiken enthält, die Außerirdische über das Leben auf der Erde informieren sollen. Die Mülheimer Aliens allerdings finden Masken – auch ganz nah dran am Theater der griechischen Antike – und darunter die verhängnisvolle Geschichte des Ödipus, diese Tragödie um Vatermord und Mutter-Sohn-Inzest.
Schmerzliches Menschsein
Setzen die ahnungslosen, naiven Wesen diese Masken auf, ist das qualvoll. Sie stürzen, schreien, stöhnen, ein Geburtsakt. Sie atmen und finden die Sprache. Überwältigt vom Mensch-Sein, müssen sie die Masken immer mal wieder absetzen. Zu heftig, zu verwirrend sind diese großen Gefühle und Geschichten. Aber offensichtlich auch zu spannend, um sie sich gänzlich fernzuhalten. Und dann wird – in der Übersetzung von Roland Schimmelpfennig und gekürzt – fix und berührend erzählt von Macht und Ohnmacht, von Schuld und Selbstzweifel, von Hybris und Verzweiflung. Mensch-Sein als Tragödie. Und Paulina Alpen spricht diesen Ödipus so unaufgeregt aufgebracht, so selbstverständlich menschlich, dass es tatsächlich keine Rolle mehr spielt, ob sie eine Maske trägt oder nicht. Was zu Beginn noch seltsam manieriert wirkte, erschließt sich nun zum klaren Bild: Wir tragen immer auch Geschichte(n) in uns. Das ist so tröstend wie beunruhigend.
Den Menschen, nein, den Mann in seiner nackten Körperlichkeit zeigt die zweite Premiere des "Geheimnis"-Auftaktwochenendes. Katharina Stoll vom Theaterkollektiv Glossy Pain hat gemeinsam mit Angelika Schmidt eine Theaterfassung von Katja Lewinas Recherche- und Interviewbuch "Bock" entwickelt. Es geht um Männer und Sex. Und um gleich mal den Grundton der Inszenierung festzulegen, startet der Abend mit einem Klischeemotiv: Im Video von Astrid Gleichmann reitet ein Cowboy, nicht durch die Prärie, eher über die Ruhrwiesen.
Geburt des Mannes aus dem Planschbecken
Schauspieler Joshua Zilinske packt sein Pferd mit festem Griff, Grashalm im Mund, die Jeans sitzt. Dann springt er auf die Bühne, um sich auszuziehen und nackt und eingefettet mit einer Art Käseschmiere seinen Anfang zu zelebrieren. Als passende Musik für die Geburt des Mannes aus dem aufblasbaren Pool wird Strauss' "Zarathustra" ausposaunt. Die festliche Fanfare fürs Naturereignis. Lewina geht in ihrem Buch die sexuellen Stationen des Mannes durch, Regisseurin Stoll folgt ihr von der Geburt bis zum Tod und entwickelt daraus einzelne Szenen – zwischen Eltern und Sohn, zwischen prahlenden Männern am Kartentisch, zwischen Mann und Frau; aneinandergereihte Miniaturen, die vom muskeltrainierenden Elfjährigen erzählen, von geil machender Grausamkeit der Pornografie, vom Sex im Rollstuhl und mit Callboy Tim.
Dieser Reigen männlicher Gelüste und Sorgen ("Ich habe Angst vor Sex, wie er in Zeitschriften, auf Plakaten, in der Werbung und im Kino gezeigt wird.") wird von vier Schauspieler*innen (neben Cowboy Joshua Zilinske außerdem Marie Schulte-Werning, Leonard Grobien und Klaus Herzog) charmant auf die von Wicke Naujoks mit Kunstrasen ausgelegte Bühne gebracht. Ein Kiosk, ein Tisch mit Plastikstühlen, hinten die große Leinwand, auf der die Wiese zum Ende hin fast in der Abenddämmerung verschwindet.
Es sind mal witzige, mal bittere, mal melancholische Bilder. Nie anbiedernd, aber auch selten erhellend. Was bleibt, aus beiden Inszenierungen, ist das Bild vom Menschen, der sich seines Körpers, seiner Körperlichkeit bewusst wird. In jeglicher Hinsicht.
Ödipus
von Sophokles
Übersetzung: Roland Schimmelpfennig
Regie, Konzept, Textfassung: Alexander Klessinger; Regie, Maskenspiel: Mats Süthoff, Bühne: Christopher Dippert, Kostüm & Maskenbau: Sophie Leypold, Musik & Komposition: Alexander Schweiß, Dramaturgie: Alexander Weinstock, Maskenbau: Franziska Schubert, Lichtgestaltung: Jochen Jahncke.
Mit: Paulina Alpen, Albert Bork, Dagmar Geppert, Bernhard Glose, Fabio Menéndez, Lea Reihl, Steffen Reuber, Gabriella Weber.
Premiere am 23. August 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
Bock
Ein Abend über Bilder und Gegenbilder männlicher Sexualität
Nach dem gleichnamigen Buch von Katja Lewina in einer Fassung von Glossy Pain
Regie & Text: Katharina Stoll, Text: Angelika Schmidt, Bühne & Kostüm: Wicke Naujoks, Video: Astrid Gleichmann, Musik: Hannes Gwisdek, Dramaturgie: Constanze Fröhlich, Licht: Lucy Gerauer.
Mit: Leonard Grobien, Klaus Herzog, Marie Schulte-Werning, Joshua Zilinske.
Premiere am 24. August 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
theater-an-der-ruhr.de
Kritikenrundschau
Als "Reise der Erkenntnis" hat Klaus Stübler den "Ödipus"-Abend erlebt und schreibt in den Ruhr Nachrichten (26.8.2024): "Das gelingt grandios, denn die acht Mülheimer Schauspieler liefern trotz einheitlicher, farbloser Kleidung und des erzwungenen Verzichts auf mimische Gestaltung packende Rollenporträts ab."
"Es ist wohl dieses tragische Gefühl, das dem antiken Stoff Aktualität verleiht: mit jedem Schritt, den man unternimmt, um einer absehbaren Entwicklung zu entkommen, eben diese sogar noch voranzutreiben", schreibt Jens Dirksen in der Neuen Ruhr/Rhein Zeitung (26.8.2024). Der Konzentration des Dramas darauf diene auch die Besetzung der Titelrolle mit Paulina Alpen - "das schließt jede psychoanalytische Verirrung aus", so Dirksen. "Dass die Aliens erst fähig werden, wie Menschen zu sprechen, wenn sie eine der herumliegenden Masken aufsetzen, zieht dem ganzen Stück einen doppelten Boden ein. Darin steckt das Wissen, dass wir alle Sternenstaub sind. Und auch das Bewusstsein, wie in der Antike unter freiem Himmel im Theater zu sein, eingebettet in einen kultischen Zusammenhang." Dirksen lobt außerdem die "geschmeidige, sehr heutige Übertragung von Roland Schimmelpfennig", die "umsichtige, präzise Lichtregie von Jochen Jahncke" und tadelt den Einsatz der Mikroports, der (auch) in dieser Inszenierung nicht immer gut funktioniere.
Ein "Gesamterlebnis“ mit Musik im "Ödipus" sah Stefan Keim für die Sendung "Mosaik" auf WDR 3 (26.8.2024) und würdigt insbesondere die "hinreißende Bühne" von Christopher Dippert. Aber abseits des "großartigen" optischen Aufschlags werde die "Ödipus"-Geschichte eher "normal" erzählt, was etwas "schade" sei. Die zweite Wochenend-Premiere "Bock" sei "eine ganz nette Revue", die über männliche Sexualität aufklärt. "Das ist zwischendurch witzig, immer auch ganz unterhaltsam, auch ein bisschen melancholisch. Es geht nicht wirklich in die Tiefe. Ich hatte den Eindruck, der Abend ist auch sehr schulklassenkompatibel", sagt Keim.
Einen Radio-Bericht über "Bock" mit O-Tönen der Regisseurin hat Martin Burkert für "Skala" auf WDR 5 (26.8.2024) verfasst.
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