Ungeheuerliche Fakten

13. Mai 2023. Tuğsal Moğul rekonstruiert mit vier Schauspieler*innen aus Münster und Oberhausen den rechtsextremen Mord-Anschlag von Hanau, macht krasses Behördenversagen sichtbar und nimmt radikal die Perspektive der Opfer ein.

Von Max Florian Kühlem

"And now Hanau" von Tuğsal Moğul bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen © Bettina Stöß

13. Mai 2023. Die vier Darsteller*innen von "And now Hanau" machen sich keine Illusionen über ihr Vorhaben des Abends: "Sie werden hier nichts hören oder sehen, dass sie nicht schon gehört oder gesehen haben." In dieser Ballung und klugen wie schockierend klaren Zusammenstellung der Uraufführung von Tuğsal Moğul hat jedoch sicher bisher niemand der Anwesenden das krasse Behördenversagen vor, während und nach den rechtsextrem motivierten Morden von Hanau vor Augen geführt bekommen.

Trotz der Dauerbeschallung mit dem Thema, wie sie derzeit vom deutschen Theaterbetrieb ausgeht, können sie auch noch etwas dazu lernen über das Problem des strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft. Denn "And now Hanau" ist ein klassisches Stück Recherche- und Dokumentartheater, in dem sich Regisseur und Autor Tuğsal Moğul – zuletzt am Theater Münster – schon häufiger hervorgetan hat.

Option Deutscher Bundestag

Der Coup daran ist, dass es nicht in Theaterräumen, sondern an Orten gespielt wird, wo sonst politische Entscheidungen getroffen werden. Seine Premiere fand im Programm der Ruhrfestspiele im Großen Ratssaal des Rathauses Recklinghausen statt. Die kooperierenden Theater Münster und Oberhausen bringen es in Rathäuser und Gerichte ihrer Städte. Und weil auch das Maxim Gorki Theater Kooperationspartner ist, wird es zum vierten Jahrestag der Anschläge am 19. Februar 2024 in Berlin gespielt – wo ist noch nicht ganz klar. Da sich die Staatsministerin für Kultur Claudia Roth für eine der Vorstellungen angekündigt hat, wäre vielleicht eine Option, über eine Aufführung im Bundestag zu verhandeln – denn da gehört das Stück eigentlich hin.

AndnowHanau4 Bettina Stoess cMinutiöse Rekonstruktion: Regina Leenders, Tim Weckenbrock und  Alaaeldin Dyab © Bettina Stöß

Das Ensemble, das aus jeweils zwei Schauspieler*innen des Theaters Münster und des Theaters Oberhausen besteht, kehrt in den dichten 90 Minuten immer wieder zu einer minutiösen – nein, sogar sekundengenauen Rekonstruktion des Anschlags zurück. Wer es damals nicht so genau verfolgt hat oder wessen Erinnerung wieder geschwunden ist, erfährt nun noch einmal ganz genau, wie der Täter vorgegangen ist, an welchen Orten er wen wie umgebracht hat, wie viel Zeit er dafür hatte und welche Wege er dafür wie zurückgelegt hat.

Nach dem Morden

Vorher und währenddessen beschäftigen sich die Darsteller*innen mit der Frage, warum er nicht schon weit vorher gestoppt wurde: Seine rechtsextreme Gesinnung war genauso bekannt wie seine Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik und Strafanzeigen aufgrund wahnhafter Vorstellungen – die trotzdem nicht dazu führen, dass ihm seine Erlaubnis zum Waffenbesitz entzogen wurde.

Viele der ungeheuerlichen Fakten rund um den Anschlag sind nur ans Licht gekommen, weil Anwält*innen der Opfer-Familien die Agentur Forensic Architecture mit Nachforschungen beauftragt hat, die nun wiederum die Stückentwickler nutzen: So weiß man heute zum Beispiel, dass das Haus des Attentäters, in dem er mit Vater und Mutter lebte, und in das er nach den Morden gefahren ist, über Stunden nicht richtig polizeilich bewacht wurde und er leicht durch die Vordertür hätte entkommen können. Geradezu absurd wirkt die Szene, in der Alaaeldin Dyab und Tim Weckenbrock die Kommunikation der Polizei-Hubschrauberpiloten nachstellen, denen trotz mehrfacher Nachfrage keine Adresse mitgeteilt wird. Auf einem Monitor wird die konfuse Flugbahn kreuz und quer über die Stadt abgebildet.

Perspektive der Opfer und Angehörigen

Das Besondere an der Uraufführung ist allerdings, dass sie nicht nur bis heute ungeklärte Fragen und Widersprüche über den Tathergang und die Rolle der Polizei- und Ermittlungsbehörden aufwirft, sondern immer wieder einen klaren Fokus auf die Perspektive der Opfer und Angehörigen legt. Seit den NSU-Morden hat sich glücklicherweise mehr und mehr durchgesetzt, dieser Perspektive größte Relevanz einzuräumen – zum Beispiel die Namen und Bilder der Opfer im öffentlichen Gedächtnis immer wieder wach zu rufen. Auch in Recklinghausen sind die Namen der in Hanau Getöteten sehr präsent: Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Mercedes Kierpacz, Said Nesar Hashemi, Sedat Gürbüz und Vili Viorel Păun.

AndnowHanau2 Bettina Stoess cWidersprüche über den Tathergang: Agnes Lampkin, Regina Leenders und Tim Weckenbrock © Bettina Stöß

Die Schauspieler*innen nutzen ihre Kunst, um die Aufmerksamkeit auf scheinbar Nebensächliches zu legen, das in Wirklichkeit aber die großen, strukturellen Probleme einer Gesellschaft sichtbar macht, in der solche Anschläge keine singulären Ereignisse sind: Der Vater des aus Rumänien stammenden Vili Viorel Păun, der den Täter mit seinem Wagen mutig verfolgte, mehrfach vergeblich den nicht besetzten Polizei-Notruf wählte und schließlich durch die Windschutzscheibe erschossen wurde, bekam auf der Wache zu hören: "Das ist der Vater von dem Zigeuner mit Zivilcourage."

Starkes Statemment

Auch mit anderen Angehörigen wurde teils in schockierender Weise umgegangen, die eine rassistische Grundhaltung erkennen lässt. Man ließ sie nachts stundenlang in banger Unsicherheit warten, Abgeordnete lasen Zeitung oder saßen abwesend mit Kopfhörern da als sie ihre Geschichte im hessischen Parlament erzählten. Bei der Uraufführung im Rathaus von Recklinghausen sitzen Angehörige fast aller Oper in der ersten Reihe.

Beim langen Applaus mit Standing Ovations tauschen sie am Ende Umarmungen mit dem künstlerischen Team aus, auf allen Seiten fließen Tränen. Man denkt: Gut, dass das Theater hier Arbeit übernimmt, die deutsche Behörden offenbar sträflich vernachlässigten. Das Stück ist ein starkes Statement, ein Appell, sich doch einmal betroffen zu zeigen und aus dieser Betroffenheit heraus in die Gesellschaft zu wirken, damit derartiges sich nicht wiederholt.

 

And now Hanau
von Tuğsal Moğul
Uraufführung
Regie: Tuğsal Moğul, Bühne, Kostüme und Video: Marcin Wierzchowski, Dramaturgie: Victoria Weich, Saskia Zinsser-Krys.
Mit: Alaaeldin Dyab, Agnes Lampkin, Regina Leenders, Tim Weckenbrock.
Premiere am 12. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-muenster.com
theater-oberhausen.de
www.gorki.de
ruhrfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

"So eine bedrängend politische Debatte hat der schmucke Ratssaal von Recklinghausen wohl lange nicht erlebt", schreibt Ralph Wilms in der WAZ (15.5.2023). Tuğsal Moğul inszeniere in "And now Hanau" eine forensisch erarbeitete Beweiskette zu einem mörderischen Attentat und einem Ermittlungsskandal. Die Uraufführung im Beisein bewegter Angehöriger lasse sich mit üblichen Maßstäben nicht rezensieren, "kein Schauspiel, eine eindrucksvolle Rechercheleistung, gemeißelt in die Form eines Tribunals über eklatantes, nur widerstrebend aufgeklärtes Behördenversagen". 

Anderthalb Stunden lang rekonstruiere Tuğsal Moğul minutiös, ja sekundengenau, was am Abend des 19. Februar 2020 geschah. Und weshalb fünf Fragen bis heute nicht schlüssig geklärt seien, so Bernd Aulich in der Recklinghäuser Zeitung (15.5.2023). "Nicht eine Sekunde gebe die Spannung nach." Es wirke wie ein packender Film, was an diesem Abend ablaufe, "Fahrt aufnimmt, bis der Atem stockt" und von den Ungereimtheiten erzähle.

 

Kommentare  
And now Hanau, Berlin: Minutiöses Recherchetheater
85 Minuten schnörkellose Vermittlung von Fakten und Hintergründen: Das Schauspiel-Quartett von den Theatern Münster und Oberhausen braucht nur einen Video-Projektor für Einspieler, einen Tisch und zwei Stühle. Nichts soll vom Wort ablenken, das sachlich, aber mit unerbittlich anklagenden Ton an das Publikum gerichtet ist.

Die Fakten sind nicht neu, das schickt eine Spielerin aus dem Quartett voraus. Aber die Ballung des Versagens der örtlichen Polizei und die Chuzpe der hessischen Landesregierung, mit der offensichtliche Fehler im Untersuchungsausschuss des Landtags schöngeredet und unter den Teppich gekehrt werden sollten, ist und bleibt haarsträubend.

Dieser von einer Gedenkminute unterbrochene Abend ist politisches Recherchetheater, das minutiös die Tat nachzeichnet, rassistische Strukturen klar benennt und aufrütteln will.

Zum Nachtkritik-Rätselraten im dritten Absatz: die erste der drei Gorki-Vorstellungen fand im Rathaus Schöneberg statt, die beiden nächsten auf der Studiobühne. Wie versprochen war gestern auch Claudia Roth dabei.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/02/10/and-now-hanau-gorki-theater-kritik/
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