Der Blitz (Fukushima Sunrise) - Marcus Lobbes inszeniert in Wuppertal einen dunklen Abend über die Absurdität des Machbarkeitsglaubens
Zurück zur grünen Wiese!
von Dorothea Marcus
Wuppertal, 16. März 2012. Wer dem Theaterbetrieb abspricht, zeitnah auf aktuelle Ereignisse zu reagieren, hat keine Ahnung. Wie sonst ist zu erklären, dass exakt zwei Tage nach dem Jahrestag von "Fukushima" an den Wuppertaler Bühnen bereits ein Stück Uraufführung hat, das die japanische Atomreaktorkatastrophe im Titel führt? "Der Blitz (Fukushima Sunrise)" wird "Dramma giocoso", sprich: "lustiges Drama oder heitere Oper" untertitelt und stammt aus der Feder eines gewissen Dramatikerneulings Fred Hundt, ein Pseudonym, dessen wahre Identität von den Wuppertaler Bühnen nicht preisgegeben wird. Das Stück ist auf den ersten Blick: eine Ansammlung von Politikerzitaten zu Ereignissen von vor einem Jahr, die heute unvorstellbar fern scheinen – und dennoch in Deutschland in atemberaubender Geschwindigkeit zum epochalen Ausstieg aus der Atomenergie führten, als sei's ein Sonntagsspaziergang. Das hört sich nicht gerade theatralisch an und liest sich äußerst mühsam, man kann sich nicht vorstellen, dass Begriffe wie "Biodiversitätsschutz" oder "Evakuierungsradius" poetische Kraft entfalten.
Platschen und Tröpfeln
Auf der Bühne des kleinen Wuppertaler Schauspielhauses jedoch passiert Erstaunliches. Marcus Lobbes, der einst Operngesang studiert hat und 2008 Nachwuchsregisseur des Jahres war für die hochgelobte musikalische Theatralisierung von Felicia Zellers Kaspar Häuser Meer in Freiburg, hat eine Grundidee, die den Abend zu einem Metaphernfeld macht. Denn auf der Bühne ist es: dunkel. Kein Strom, nirgends. Allein eine grün verwischte, bedrohlich dunkel schimmernde Wand leuchtet leicht. Vier Figuren stehen in einem knöcheltiefen Wasserbassin, das an das radioaktiv verseuchte Wasser erinnert, das Techniker in Fukushima das Leben kostete. Jeder Schritt verursacht ein schön und leicht gruselig klingendes Platschen und Tröpfeln.
Im Stück steht als Regieanweisung "leicht unsortierte Politikerkleidung". Gregor Henze, Maresa Lühle, Juliane Pempelfort und Philipp Sebastian tragen in Wuppertal dagegen streng hochgeschlossene, schwarze Gründerzeit-Kleider, die Herren Anzug, die Damen Corsage und lange Rüschenröcke aus der Zeit der Industrialisierung, von damals, als man noch so richtig an den Fortschritt glaubte. Mittelalterlich muten die Verhältnisse an: Die Beleuchtung stammt ausschließlich von Streichhölzern. Sie werden von den Schauspielern in schwarzen Taschen bei sich getragen und rhythmisch entzündet, sie beleuchten schemenhaft die Gesichter der Sprechenden, wenn sich einer mal die Finger verbrennt, sagt er "aua"; sie fliegen wie Glühwürmchen durch die Nacht des menschlichen Geistes, Schwefelgeruch liegt in der Luft.
Brennt an beiden Enden
Ein schlichter wie genialer Einfall, einen Abend über Atomkraft ohne Strom zu gestalten, und die schlichten Lichter zünden (man kommt fast automatisch ins Kalauern) im Kopf Metapher-Kaskaden: Das Bunker-Szenario nach dem Super-GAU, wenn alle Lichter erloschen sind, ist zugleich ein Bild für jenes Licht der Aufklärung, das sich, wenn überhaupt, im Menschen nur sekundenartig entzündet – denn wie sehr fiel vor einem Jahr bei der japanischen Kataststrophe wieder mal auf, dass das arme Tierchen einfach nicht fähig ist, Weitblick zu entwickeln. Wie Sternschnuppen verglühen in Wuppertal die Streichhölzer, verzischen im Wasser und bieten viel Platz für kleine Scherze: "Hotline", schreit einer, der sich fast den Finger verbrennt. Sie spielen im wahrsten Sinne mit dem Feuer, reichen sich die Flammen hektisch zu, basteln kleine bengalische Feuerwerke, thematisieren zugleich das grotesk Kurzlebige, Kurzsichtige und Verschwenderische eines Streichholzes, das auch der Mensch an sich sein könnte: brennt an beiden Enden, ist bald wieder weg. Zurück zur grünen Wiese! bellen die Darsteller die Slogans der AKW-Gegner und zeigen zugleich, wie es sich wirklich anfühlt ohne Strom auf einer Bühne.
Zugleich erinnern die permanent aufleuchtenden und erlöschenden Hölzer an den preisgekrönten Dokumentarfilm "Into Eternity" über Atommüllendlager in Finnland, bei der der Autor die drohende Frage stellte: Wie kann sich der Mensch mit seiner kurzen Geschichte anmaßen, radioaktiven Müll für die nächsten 100.000 Jahre sicher unterzubringen? Auch dort wurden auf der Reise in die Bunkeranlagen permanent Streichhölzer entzündet.
Zkft ohne Krftwrke
Die Figuren, denen nichts weiter als ihre Kurzzeit-Erleuchtung geblieben ist, rekapitulieren die erfolgte Katastrophe erstaunt bis ironisch, in Sprachkaskaden und sinnfrei verschränkten, in der Mitte abgebrochenen Politikerzitaten, die man als Zuschauer automatisch selbst im Kopf ergänzt. Zuweilen werden bewusst die Vokale weggelassen, so dass sich jene im Überdruss konsumierten Begriffe in ein dadaistisch zischendes, sehr komisches Lautgedicht verwandeln. Die Mrkel, Krftwrke, Bndstg, Zkft fliegen uns nur so um die Ohren und wirken als wahrer Assoziationsdonner nach: wie absurd ist eigentlich der von Merkel geprägte Begriff "planbare Revolution" in Bezug auf Atomkraft? Die vier Schauspieler beherrschen den schweren Text meisterhaft, brillant versteigt sich Maresa Lühle in einen radebrechende Entrüstung, Juliane Pempelfort in liebliche Erstauntheit, brüllen Philipp Sebastian und Gregor Henze die Folgen der Atomkraft erdbebenhaft donnernd heraus: Kerrankheit! Kerrebs!!!
Ein kleiner, kurzweiliger Geniestreich über die erschreckende Absurdität des Machbarkeitsglaubens – und die Atomkraft, die auch nach dem Hauruck-Ausstieg nicht unbedrohlicher geworden ist.
Der Blitz (Fukushima Sunrise) (UA)
Drama giocoso von Fred Hundt
Regie: Marcus Lobbes, Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert, Dramaturgie: Oliver Held.
Mit: Gregor Henze, Maresa Lühle, Juliane Pempelfort, Philipp Sebastian.
www.wuppertaler-buehnen.de
"Das spartanische Bühnenbild von Pia Maria Mackert und die Dunkelheit im Raum wecken Assoziationen an eine Welt nach der atomaren Vernichtung." Streichhölzer, welche die Schauspieler anzünden und die beim Fallenlassen im Wasser verlöschen, werden zum einzigen Mittel, mit dem sich die Nacht durchbrechen lasse, schreibt Marius Nobach in der Süddeutschen Zeitung (23.3.2012). Auf vier Darsteller verteilt, werde ein weiter Bogen an Schlagworten gespannt, der die Neologismen des Politikerjargons ebenso umfasse wie die Forderungen von Atomkraftgegnern nach sofortigem Ausstieg. "Es sind Fragen und konkrete Anklagen, die hier formuliert werden, doch Kläger und Beklagte werden nicht als Personen greifbar." Die Sprache löse sich allmählich immer weiter auf, "was witzig ist, wenn in rasant vorgetragenen Monologen Nachrichtenfetzen aneinandergereiht oder Politikerstatements nur noch halb zitiert werden." Fazit: ein erhellender Abend, "ein Feuerwerk an Einfällen, das Lobbes in Wuppertal entzündet. Und der Funke springt über".
Der "vielgestaltige Text" von Marcus Lobbes alias Fred Hundt und die "unglaubliche Leistung" der Schauspieler erhalten Lob von Veronika Pantel in der Westdeutschen Zeitung (19.3.2012). "Sie zitieren Schlagzeilen von den Reaktorkatastrophen in Japan vor einem Jahr, reihen Zahl an Zahl. Das sollte Informiertheit vortäuschen, zeigte aber nur, wie man Fakten zurück hielt oder mehrdeutig gestaltete Erklärungen abgab." Die Figuren seien "ent-individualisierte Repetiermaschinen", die vorführten, wie wenig atomare Großkatastrophen in Worte zu fassen seien. Den Texten fehlen die Vokale; sie besäßen "eine merkwürdig zerschredderte Sprache, wie sie von Bändern bekannt ist, die durch Strahlung zerstört wurden. Lobbes arbeitet mit Halbsätzen, die Halbwahrheiten transportieren, mit Politikerreden als Phrasen-Dresch-Maschinen. Monologe wechseln mit Dialogen, aber Gespräche finden nicht statt."
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