Endstation Sehnsucht – Bei Claudia Bauer gerät eine Mischung aus Echtheit und Lüge zur Wirklichkeitsfalle
Prekariatsfantasie und Traumweltflucht
von Sarah Heppekausen
Wuppertal, 24. Februar 2012. In Wuppertal wird noch immer auf den Ratsbeschluss gewartet, der über die Zukunft des Schauspielhauses entscheidet. Die Stadt ist hoch verschuldet, die Zuschüsse für das Theater sollen um zwei Millionen Euro gekürzt werden. Das würde das Aus für diese Sparte der Wuppertaler Bühnen bedeuten. Seit über zwei Jahren harrt das Ensemble in prekärer Lage. Die großen Premieren finden im Opernhaus statt, weil der Saal im Schauspielhaus zu marode und geschlossen ist. Wuppertals Theater befindet sich im Schwebezustand.
Bei Blanche ist die Sache längst klar. Der familiäre Landsitz ist verspielt, ihren Job hat sie verloren, das Portemonnaie ist leer. Die Südstaaten-Lady steht in Tennessee Williams Psychodrama "Endstation Sehnsucht" schon zu Beginn am Abgrund. Das Stück beschreibt die letzten Schritte ihres Niedergangs. Blanche flüchtet zu ihrer Schwester Stella, die mit dem "Pollacken" Stanley Kowalski in New Orleans ein proletarisches Eheleben führt. Ein Clash der Kulturen ist unvermeidbar: Paranoikerin mit Plantagenvergangenheit trifft gewaltbereiten Instinkt-Menschen im Arbeiterviertel.
Auf Highheels nach den Sternen greifen
Sophie Basses Blanche überragt die Kleinbürger, die wie Tiere nach Fleischklumpen gieren statt sich für ihre schicken Kleider zu interessieren, tatsächlich. Nicht nur in gefühlter Überlegenheit, auch körperlich. Die Schauspielerin ist groß, Blanches Bedürfnis nach Geborgenheit verleiht dieser naturgegebene Umstand tragikomische Züge. Dass ihr weder die kleine Schwester noch der schmächtige und impotente Verehrer Mitch Halt geben können, ist allzu offensichtlich. Blanche ist ein Fremdkörper in dieser schäbig-engen Welt aus zwei Zimmern ohne Wand dazwischen und einer schmalen Stiege in die obere Nachbarwohnung. Auf ihren hohen Schuhen ist sie dem Himmel mit seinen Sternbildern und Illusionswolken näher als dem Boden der Tatsachen.
Und selbst der neigt in Claudia Bauers Inszenierung immer wieder zur Selbstauflösung. Blanches Wirklichkeitsverdruss und ihre alkoholgetränkte Traumweltflucht ("Ich will keinen Realismus, ich will Magie") scheinen sich zu übertragen. Blanche ist nicht nur Hauptfigur, sondern auch Konzeptgeberin. Die anderen treiben's zwar realistisch zwischen Wollust und Brutalität, Zigarette rauchend und Karten spielend. Aber sie können ihre Texte auch mal als Oper singen. Und während der Szenenwechsel werden sie zu hibbeligen Comicfiguren im Zeitraffer-Modus. Prekariatsphantasien aus dem Geiste der Kopfmusik. Die treibt Blanche in den Wahnsinn. Und Bauer in den Slapstick. Leggins-Stella (Anne-Catherine Studer) wird ihr breites, dümmliches Grinsen nicht los, die Männer entblößen sich bis zum ausgestopften Tiger-Slip, und Blanche mutiert zur Männer verschlingenden Tarantel. Das gerät bisweilen platt, bemüht und ausgestellt.
Tragische Wirksamkeit der Einfühlung
Aber dann gibt es diesen überraschenden Moment, da sich Echtheit und Lüge überrumpelnd zur Realitätsfalle vermischen. Und der zeigt, was möglich gewesen wäre in dieser Inszenierung, hätte sie das wahnsinnige Spiel von Phantasie und Wirklichkeit häufiger so genau herausgearbeitet. Kurz bevor Stanley seine Schwägerin vergewaltigen wird, unterhalten sich die zwei im vertrauten Gesprächston. Holger Kraft und Sophie Basse nehmen kurzzeitig jede Verfremdung, jede Übertriebenheit aus ihrer Stimme. Der Effekt: die tragische Wirksamkeit der Einfühlung. Die Gewalttätigkeit berührt. Täuschung entlarvt Wahrheit und umgekehrt.
Holger Krafts Stanley wechselt seine emotionalen Zustände so schnell wie sein T-Shirt. Ungebremst wird aus dem verspielten Jungen ein brutaler Schläger, aus dem triebgesteuerten Tier ein über sich selbst verzweifelter Masochist. Genau der Typ Mann, den sich Blanche in ihrer modernen Unabhängigkeit vom Leibe halten muss. Sophie Basse sinkt immer wieder in der freistehenden Badewanne zusammen. Ihre Blanche scheitert würdevoll an Selbstillusion. Sie ist keine zerbrechliche Träumerin, aber sie zerbricht an den Lebensumständen. Bei ihrem Abgang schimpft sie noch einmal auf die Realisten. Blanches Burnout ist eben von dieser Welt.
Endstation Sehnsucht
von Tennessee Williams
Deutsch von Helmar Harald Fischer
Regie: Claudia Bauer, Bühne und Kostüme: Patricia Talacko, Bernd Schneider, Musik: Smoking Joe, Dramaturgie: Sven Kleine.
Mit: Sophie Basse, Anne-Catherine Studer, Holger Kraft, Lutz Wessel, Amber Schoop, Marco Wohlwend, Hendrik Vogt, Götz Vogel von Vogelstein, Claudia Schulz.
www.wuppertaler-buehnen.de
Martina Thöne konstatiert in der Westdeutschen Zeitung (27.2.2012), dass die Aufführung beim Publikum gut angekommen sei, wendet dann aber ein: "In Zeiten, in denen Depressionen zum Glück kein Tabuthema mehr sind und der Begriff Burnout boomt, hätten Bühne und Regie jedoch durchaus modernere Akzente setzen können. So fühlt man sich in die 50er Jahre zurückversetzt und trauert bisweilen der Chance nach, dass 'Endstation Sehnsucht' eine höchst aktuelle Produktion sein könnte – in jeder Hinsicht." Anfangs spiele "das Ensemble stark mit den eigenen Stimmen und Tonlagen – ein schöner Regieeinfall, der jedoch nicht konsequent durchgehalten wird." So verdiene die Inszenierung "zwar nicht das Prädikat 'wahnsinnig gut'. Kurzweilig und sehenswert ist das Theater aber allemal."
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