Faust - In Trier zeigt Ronny Jakubaschk zum Saisonstart Goethes Denkertragödie als LSD-Trip
Träume, Räusche, Kopfgeburten
von Rainer Nolden
Trier, 3. Oktober 2016. Der Wind, der Karl Sibelius nach seiner ersten Trierer Amtszeit ins Gesicht weht, ist ein veritabler Sturm von der Sorte, der mächtige Bäume zum Kippen bringen kann. Und da der Intendant mit seinem ersten Spielplan viele Stadttheaterbesucher vor den Kopf gestoßen, provoziert, schockiert hat (auch mit manchen Inszenierungen, die künstlerisch ausgezeichnet waren), hat er sich vorgenommen, in seiner zweiten Runde vom Gas zu gehen und das Programm ein wenig "konventioneller" zu gestalten. Weniger revolutionär. Weniger gewagt. Mehr klassisch.
Auf Kritik folgt Klassik
Nun also denn: "Faust I". Goethe, Johann Wolfgang von. Mehr Klassik geht nicht zu Beginn einer Spielzeit. Aber klassisch heißt ja nicht notwendigerweise konventionell. Bedeutet nicht weniger Spannung. Meint nicht, den "Faust" nachbuchstabieren von "Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten ..." bis zum Schlussschrei "Heinrich, Heinrich!" Ronny Jakubaschk streicht das Vierstundenstück auf etwa die Hälfte zusammen und begnügt sich mit neun Schauspieler*innen statt der knapp dreißig, die Goethe eingeplant und mit viel Text versorgt hat.
Und, tatsächlich, sie reichen aus für das Konzept, das der Regisseur erarbeitet hat. Denn Träume funktionieren auch mit wenig Personal. Und das ist der Trierer "Faust" im Grunde: ein Traum, ein Nachtmahr, ein Rausch, eine Kopfgeburt, und, ja, auch das, ein ziemlich mieser LSD-Trip, denn obwohl der lebensüberdrüssige Faust die braune Flüssigkeit aus der Phiole sofort wieder ausspuckt, müssen wohl doch ein paar Tropfen auf der Zunge haftengeblieben sein.
Zu Beginn sehen wir den Kopf dieses Heinrich Faust, überlebensgroß auf eine Leinwand projiziert, den sich der Faust in Fleisch und Blut minutenlang anschaut, ehe er zu einer Kurzversion seines Eingangsmonologs anhebt. Auftritt Erdgeist, Pudel und Mephisto – es geht alles rasend schnell in diesem Traum. Dann hebt sich die Leinwand, und wir sind mitten drin in Fausts Schädel, in seinem Kopf, in seiner Gedankenwelt: ein Stahlgerüst mit angedeutetem Gesicht und halbem Ohr (Ausstattung: Birgit Klötzer und Anna Sörensen), das gleichzeitig ein ewig kreisendes Jahrmarktskarussell mit blinkenden Lichtern und überdimensionaler Lichterkrone ist; eine Krone, deren kleinere Version sich Faust vom Kopf des Herrn klaut (der sich fortan mit einer roten Clownsnase begnügen muss).
Bei diesem Faust wohnen die Seelen, ach, nicht in seiner Brust, sondern im Kopf, und es sind nicht nur zwei, sondern gleich acht Gestalten. Sie klettern durch seine Ganglien, trampeln auf seinen Synapsen herum, fallen ihm ins Wort, klauen ihm seinen Text, soufflieren ihm oder machen sich über ihn lustig, wenn ihm bei der ersten Begegnung mit Gretchen die Worte fehlen. Und bis auf Gretchen sind die sieben alle Alter Egos der Hauptfigur: ebenso gekleidet wie er, egal ob Gott oder Teufel, ob Engel oder Erdgeist.
Besser, man hat seinen "Faust" parat
Jakubaschk reduziert also den archaischen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen auf den inneren Konflikt eines Zweifelnden und Unzufriedenen, macht aus dem Himmel- und Höllenspiel ein Kammerspiel im Hirn eines verunsicherten und vom Leben angeödeten Gelehrten. Da wirbeln dann auch schon mal die Textzeilen durcheinander, werden nicht von den Figuren gesprochen, denen sie ursprünglich zugedacht waren, und wer versucht, mithilfe der Zeilen dem vertrauten Handlungspfad zu folgen, läuft Gefahr, sich im Wortdickicht zu verirren. Da wär's gut, wenn jeder im Zuschauerraum seinen Faust parat hätte.
Tilman Rose in der Titelrolle spielt den Düpierten und Getäuschten quasi als Faust "light": Die großen Probleme und Fragen, die Goethe seiner Figur aufhalst, streift er nur im Vorübergehen; er hat genug damit zu tun, die Dämonen in seinem Kopf zu bändigen. Dass er sich auf Leben und Tod in ein vierzehnjähriges Mädchen verliebt, mag man ihm dagegen nicht so recht abkaufen: Trotz wilder Knutscherei bleibt er seltsam distanziert. Ganz im Gegensatz zu Gina Hallers Gretchen, die sich mit Inbrunst in den Liebeswahn und ins Verderben fallen lässt (dabei leidet bei ihren Ausbrüchen bisweilen die Textverständlichkeit): Anrührend und erschreckend gleichermaßen entblößt sie ihr gebrochenes Herz.
André Meyer, der vom Wiener Burgtheater nach Trier gekommen ist und hier mit Mephisto seinen Einstand gibt, ist ein bulliger Teufel, vom Typ her mehr Türsteher als geschickter Manipulator, der aus seiner Geringschätzung für seinen Zögling kein Geheimnis macht und sein Ziel statt mit diabolischer Verschlagenheit eher mit Brachialgewalt durchzusetzen versteht. Er ist und bleibt natürlich auch hier derjenige, der alle Fäden in der Hand hat und sie nach Gutdünken zieht. Denn Julian Michael Boines Herrgott gerät die Kontrolle seiner Schöpfung und Geschöpfe ziemlich schnell aus den Händen und hat dann nicht mehr viel zu melden. Claudio Gatzke, Nadia Migdal, Ronja Oppelt, Gitte Reppin und Juliane Lang teilten sich die restlichen 23 Rollen von Marthe Schwerdtlein bis zu den Engeln, Erzengeln und Erdgeist: kommentierend, persiflierend, irritierend.
In den freundlichen-verhaltenen Schlussapplaus wurden auch Ronny Jakubaschk und sein Regieteam mit einbezogen. Nach den Erfahrungen der vergangenen Spielzeit hätte man zumindest ein paar verschämte Buhs erwartet. Bislang nämlich waren die Trierer Zuschauer nicht gerade als Fans radikaler Stück-Dekonstruktion bekannt.
Faust. Der Tragödie erster Teil
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Ronny Jakubaschk, Ausstattung: Birgit Klötzer und Anna Sörensen, Musik: Bastian Bandt, Klavier und Orgel: Jan Mareck, Video: Fred Schuler, Dramaturgie: Adrian Jager.
Mit: Tilman Rose, André Meyer, Gina Haller, Claudio Gatzke, Julian Michael Boine, Nadia Migdal, Ronja Oppelt, Gitte Reppin, Juliane Lang.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.teatrier.de
"Die Inszenierung von Ronny Jakubaschk ist durchdacht, weist aber an manchen Stellen Längen und Unsauberkeiten auf", schreibt Stefanie Braun vom Trierischen Volksfreund (5.10.2016). "Unsauber wird es dann besonders, was die Textverständlichkeit angeht." Wunderbar seien dafür die Details im Spiel, dass immer surrealer und kindlicher werde. "Das Baugerüst-Geturne erinnert bald an Spielplatz und verstärkt so die Absurdität und Weltferne der Handlung. Scheinbar hat nichts Konsequenzen, es bleibt eben alles ein Gedankenspiel."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 10. September 2024 Tabori Preis 2024 vergeben
- 10. September 2024 Theaterpreis des Bundes 2024 vergeben
- 10. September 2024 Fabienne Dür wird Hausautorin in Tübingen
- 10. September 2024 Saarländisches Staatstheater: Michael Schulz neuer Intendant
- 08. September 2024 Künstlerin Rebecca Horn verstorben
- 08. September 2024 Österreichischer Ehrenpreis für David Grossman
- 04. September 2024 Görlitz, Zittau: Theater will seinen Namen verkaufen
- 02. September 2024 Trier: Prozess gegen Ex-Intendant Sibelius eingestellt
neueste kommentare >
-
Empusion, Lausitz Weitere Kritiken
-
Essay Osten Bürgerliches Kunstverständnis
-
Essay Osten Kuratieren im Osten
-
Hamlet, Wien Zumutung
-
Sachsens Kultur Ich wünsche ...
-
Leserkritik Vorhang Auf, Rendsburg
-
Nathan, Dresden Unterschätze nicht den Kasper!
-
Nathan, Dresden Verbaute Sicht
-
Hamlet, Wien Welche Warnung?
-
Don Carlos, Meiningen Kraftvoller Opernabend
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Bei allem Mut zu Neuem, und allem Verständnis zum Drang des Künstlers zu Ungewohntem, man könnte den Eindruck bekommen, dass hier nicht nur bei der Aufführung, sondern auch bei der Erstellung der Inszenierung zu viele Drogen im Spiel waren.
Auch der Versuch, Faust durch die Musik in eine Art Dreigroschenoper zu verwandeln, scheitert vollständig. Leider sind auch die Schauspieler dieser Herausforderung künsterlich nicht gewachsen.
Leider eine vergebene Chance, Faust neu zu erfinden. Ein verwirrender Abend wäre noch das Beste, was man sagen könnte.
Als Fremder in Trier hat mich das gnädige Publikum verwundert, das offensichtlich aus vielen Freunden der Schauspieler und anderen Beteiligten bestand, es gab immerhin einen verhaltenen, wenn auch extreme kurzen Schlussapplaus. Die Stimmen der Zuschauer beim Verlassen des Theaters waren allerdings weniger zurückhaltend.