Birkenbiegen - Die Risiken einer Rückkehr aus dem innerdeutschen Westexil zeigt das Volkstheater Bautzen mit Oliver Bukowski
Heimkehr in die Fremde
von Michael Bartsch
Bautzen, 10. November 2017. Es sind im wörtlichen und im metaphorischen Sinn rutschende Landschaften, vor deren Kulisse Oliver Bukowski seinen Mix aus Familien- und Ost-West-Drama ablaufen lässt. Jederzeit kann es wieder rumpeln, und ein Stück Sandufer rutscht in den See, der einmal ein Braunkohlentagebau war. "Setzungsfließen" lautet der bergmännische Fachbegriff. Sogar das biedere kleine Gartenidyll, das Bühnenbildnerin Katharina Lorenz aufgebaut hat, wird in Mitleidenschaft gezogen. Die Masten für die Wäscheleinen schwanken, das Schild "Lebensgefahr" kippt, die Erde tut sich gar auf und droht zwei Männer zu verschlingen. Der gebürtige Cottbuser Autor Bukowski paart seine Ortskenntnis mit mehr als nur einer Prise Hintersinn. Hier ist unsicherer Boden, schwankendes Terrain, verlorenes Land.
Und ausgerechnet hierher, in ihre Heimat irgendwo im Lausitzer Kohleseenland, wollen Sabine und Volker aus dem zwanzigjährigen badischen Westexil zurückkehren. Als "Wirtschaftsflüchtlinge" waren sie nach der Wende ins gelobte Westland abgerückt, hatten sich eine bescheidene Existenz erschuftet. Warum sie mit ihrer kessen 17-jährigen Tochter Ruby heimkehren, erhellt sich nicht ganz, jedenfalls winkt hier ein Stück Grund und Boden. Auf dem sitzen schon Sabines vor Ort gebliebene Schwester mit Mann und Sohn und Großmutter Ruth, deren Mann bereits in der Heimaterde ruht.
Wiederentdeckung der verletzten Ossi-Seele
Familienzusammenführung oder Clash of Cultures? Dass die Welt der scheinbar Erfolgreichen mit der des Stillstands kollidieren muss, ahnt man sofort. Bukowskis "Birkenbiegen" wurde 2016 in Senftenberg uraufgeführt, in diesem Jahr hatte bereits die sorbische Fassung am Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen Premiere. Nun also, am gleichen Haus, "Birkenbiegen" in einem Lausitzer Deutsch, worin sich das sehr aufgeschlossene Premierenpublikum wiedererkennt. Die Wiederentdeckung der verletzten ostdeutschen Seele in diesem Jahr muss der Autor geahnt haben, denn das Thema passt genau zu den jetzt laufend wiedererzählten Brüchen der 1990-er Jahre.
Vor die Heimkehr auf die schwankende Ost-Scholle setzt Bukowski den Aufbruch im badischen Freiburg. Hier spielt er wirklich mit Stereotypen und Klischees, denn die ausgewanderte Familie Sabine, Volker und Ruby wirkt affektiert wie in einer amerikanischen Sitcom. Das kann auch Absicht von Intendant Lutz Hillmann sein, der selbst Regie führt. Denn ansonsten gelingt eine differenzierte Zeichnung, merkt man gerade diesem Paar den Ost-Ursprung an, dem westliches Normverhalten übergestülpt wurde.
Tochter Ruby muss sich darum nicht bemühen. Durchgeknallt aber sympathisch zählt sie gerade nicht zu den oft kolportierten Schlaffis der Spaßgeneration und avanciert am Ende sogar zu einer Heldin. Mit einer schwarz-rot-goldenen Burka provoziert sie Nazis, die zuvor schon ihr Pendant Karl, den gleichaltrigen Sohn der spiegelbildlichen Ostverwandtschaft, zusammengeschlagen hatten. Sie wird selber verletzt, hilft damit aber, die Täter zu identifizieren. Die junge Lisa Lasch mit ihrem omnipräsenten Handy setzt die rotzige Textvorlage Bukowskis mit viel Neusprech dankbar um, auch zum Vergnügen des gereifteren Bautzener Publikums.
Innere Einheit vollendet
In der Hierbleiberfamilie mit Vera, Peter und Sohn Karl dominiert der Bierkasten zwischen Gartenstühlen und Hollywoodschaukel. Vor allem Jan Mickan als Vater Peter bringt sich nachhaltig in Erinnerung, ein proletarisch-direkter Kumpeltyp, der nach seiner Entlassung beim Energieriesen Vattenfall nie wieder richtig Fuß gefasst hat und vom Ramschverkauf über ebay lebt. Schon äußerlich sind beide Familien klar zu unterscheiden, kariertes Hemd und Blümchenkleid hier, Hosenanzug und gestyltes Outfit dort. Und doch freuen sich die Schwestern jenseits aller Statusmerkmale ehrlich über das Wiedersehen, erinnern sich an das gemeinsame "Birkenbiegen", das Klettern auf junge Birken, mit denen man wie mit einem Peitschenmast schwingen konnte.
Zur alten neuen Heimat aber will dieses leere Land mit seinen Nazis nicht geraten. Es rumst auch zwischen den Familien und zwischen den Partnern, die Umkehr von der Rückkehr steht unmittelbar bevor. Über allen Konflikten steht jedoch die Großmutter, hier gezeichnet als ein aussterbender Typus. Majka Kowarjec ist der Publikumsliebling, wie sie handfest und weise zugleich mahnt und schlichtet und am Grab ihres Mannes einen starken Monolog hält. Neben ihr haben aber auch die beiden Kinder entscheidenden Anteil daran, dass zumindest diese kleine Großfamilie die innere Einheit schließlich vollendet und zusammenbleibt. Ruby und Karl finden sich, tragen sogar einen Hauch von Poesie in die Szene, reißen schließlich gemeinsam aus. Sie zeigen die von Altlasten unbeeindruckte Generation.
Bei allem Biss, bei aller Schärfe und gekonnter Zuspitzung ist "Birkenbiegen" kein hoffnungsloses Stück. Der Text und die geradezu liebenswürdige Inszenierung lassen ohnehin keine "Schuldigen" an deutsch-deutscher Entfremdung erkennen. In Bautzen hatte Bukowksi jedenfalls ein Heimspiel.
Birkenbiegen
von Oliver Bukowski
Regie: Lutz Hillmann, Ausstattung: Katharina Lorenz, Dramaturgie: Madlenka Solcic
Mit: Majka Kowarjec, Katja Reimann, Mirko Brankatschk, Lisa Lasch, Petra-Maria Wenzel, Jan Mickan, Jurij Schiemann
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.theater-bautzen.de
Für die Sächsische Zeitung (13.11.2017) berichtet Rainer Kasselt: "Bukowski spielt souverän mit Ost-West-Klischees. Die Ostseele wird nicht gestreichelt, aber sie bekommt viel zu lachen. Manchmal etwas plakativ, manchmal kritisch und subversiv." Lutz Hillmanns Inszenierung "meistert den Spagat zwischen Groteske und Gegenwartsdrama". Seine "turbulente und temporeiche Inszenierung reichert mit Videoeinspielen und kontrapunktischer Musik das Geschehen an".
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