Lüg mich an und spiel mit mir - Vorarlberger Landestheater Bregenz
Über die Schmerzgrenze hinaus
19. Mai 2022. Klimakatastrophe, Pandemie und nun der Ukraine-Krieg. Das aktionstheater ensemble untersucht in Bregenz den Zustand einer Gesellschaft im permanenten Krisenmodus. Ein blutiger Theaterabend, der guttut.
Von Angelika Drnek
19. Mai 2022. So brutal war das aktionstheater ensemble wohl noch nie: Das Theaterblut spritzt, und es wird kräftig ausgeteilt, nicht nur verbal. So manchem Theaterbesucher dürfte ob der mehr oder weniger angedeuteten Vergewaltigungs- und Würgeszenen kurz mal die Spucke wegbleiben. Gegeifert wird aber ohnehin auf der Bühne genug. Als der Krieg in der Ukraine den Rest Europas in eine Art Schockstarre versetzte, waren die Probenarbeiten zur Koproduktion mit dem Vorarlberger Landestheater, die beim Tanzfestival Bregenzer Frühling gezeigt wird, schon voll angelaufen. Regisseur Martin Gruber, bekannt für seine gesellschaftliche Vermessungsarbeit, stieß das alte Stück kurzerhand um und entwickelte gemeinsam mit seinem Ensemble ein neues: "Lüg mich an und spiel mit mir". Die Zusatzarbeit hat sich gelohnt.
Für jedes Problem gibt's eine Lösung
Sechs verunsichert dreinblickende Schauspieler und Schauspielerinnen suchen anfangs mit einem Stuhl in der Hand einen Platz auf der Bühne, die – kreisrund, schneeweiß und vollkommen leer – im Grunde keinen Platz bietet. In gewohnter aktionstheater-Manier retten sich die Figuren ins Plappern. So erfährt man von Babett (Babett Arens), dass die Morde in "Inspektor Barnaby" so ästhetisch sind, "das entspannt". Tamara (Tamara Stern) wiederum hat sich mit Horrorfilmen "auf den Einmarsch vorbereitet". Und kann sich noch jemand an "Die Waltons" erinnern? Genau, die TV-Familie, in der jedes Problem immer gelöst wird, "demokratisch" natürlich. Entspannung eben. Und genau das braucht es jetzt, wo der Krieg der Gesellschaft einen Strich durch das Post-Corona-Aufatmen gemacht hat.
Mit der Entspannung ist es aber nicht weit her, wie man schnell merkt. Denn als Michaela (Michaela Bilgeri) über die Nazigold-Schweiz herzieht, flippt Babett aus. Als geborene Eidgenossin redet sie sich in nationalistische Rage und beschimpft Michaela am Schluss sogar als "Nazi-Sau". Die so angesprochene merkt, dass hier was nicht stimmt und versucht, Babett zu beschwichtigen. Ja, in Österreich wären ja auch 70 Prozent der Leute Nazis. 80 sogar! Und so wird an diesem Abend ordentlich weitergefeilscht: Was ist okay, was ist nicht okay? Ist es okay, einen Russen zu schlagen? (Derzeit ja.) Ist es okay, wenn Bettler sich eine Ukraine-Flagge umhängen? (Schwierig.) Ist es okay, als Hetero-Mann einen schwulen Eindruck zu machen? (Sicher nicht.)
Würden wir wirklich niemals irgendwo einmarschieren?
Wenn dann einzelne Ensemblemitglieder übereinander herfallen, sich würgen, andeutungsweise auch sexuelle Gewalt ausüben und davon noch schnell ein geiles Handyvideo aufnehmen, fragt man sich: Wie gut funktioniert unsere Art des Zusammenlebens eigentlich? Sind wir wirklich die, die niemals irgendwo einmarschieren würden? Die niemals nationalistischen Impulsen nachgeben, die frei sind von Vorurteilen, die niemanden ausgrenzen, die einfach sein lassen, was da ist, die die Spannung halten können?
Zwar ist es wirklich komisch, den Figuren dabei zuzusehen, wie sie sich in ihren Lügengebilden verstricken, wie sie sich zu rechtfertigen suchen, wie sie scheitern. Doch zugleich ist "Lüg mich an und spiel mit mir" eines der düstersten Stücke des aktionstheaters. Das Ensemble, mit Unterwäsche in Nude-Tönen und dem einen oder anderen Tarnhemd samt Knieschützern schon ein wenig aufmunitioniert, vermittelt nicht den Eindruck, mit der Welt in ihrer gesamthaften Andersartigkeit wirklich umgehen zu können.
Wie es doch gelingen könnte
Gruber stößt das Publikum aber nicht in den dunklen Keller der westlichen Demokratie, ohne nicht auch zumindest eine Strickleiter hinabzulassen: Denn bricht das Lügengebilde erst einmal zusammen, stehen die Figuren erst einmal nackt voreinander, wird spürbar, wie es doch gelingen könnte. Mit der Sehnsucht nach dem Du, dem Gegenüber, mit der Einsamkeit, die es zu überwinden gilt, der Traurigkeit, die sich Raum nimmt, und der Empathie, die ein "Wir" im Grunde doch erst möglich macht.
Bei "Lüg mich an und spiel mit mir" wundert man sich einmal mehr, warum Martin Gruber und sein hervorragend agierendes aktionstheater ensemble immer noch zu den Geheimtipps im deutschsprachigen Raum zählen. Die große Aufmerksamkeit, das aktionstheater hätte sie verdient.
Lüg mich an und spiel mit mir (UA)
Regie: Martin Gruber, Text: Martin Gruber und Ensemble, Dramaturgie: Martin Ojster, Bühne, Kostüm: Valerie Lutz, Licht: Arndt Rössler, Video: Resa Lut. Live-Musik: Dominik Essletzbichler, Daniel Neuhauser, Gidon Oechsner, Daniel Schober.
Mit: Zeynep Alan, Babett Arens, Michaela Bilgeri, Luzian Hirzel, David Kopp, Tamara Stern.
Premiere am 18. Mai 2022
Dauer: 70 Minuten, keine Pause
www.aktionstheater.at
www.landestheater.org
Kritikenrundschau
"In eineinviertel Stunden arbeiten sich Martin Gruber und sein Ensemble an den großen Krisen ab, Ukraine-Krieg, Klimakrise, Wirtschaftskrise, Demokratiekrise – und kreisen selbstreferenziell nur um sich", beschreibt Julia Nehmiz im Standard (20.5.2022) den Abend. Allerdings sei die ausgiebig zur Schau gestellte Überforderung der Spielerinnen und Spieler, die die Gesellschaft meint, banal. "Angesichts des realen Horrors in der Ukraine wirkt es plump, mit ausgestellter Dummheit und Ironie den Krieg, diesen Krieg, alle Kriege theatral bewältigen zu wollen."
Noch grundsätzlicher wird Valeria Heintges im Tagblatt (online 19.5.2022): "Dieses Mal ist Martin Gruber mit seinem Aktionstheater Ensemble zu weit gegangen. Wenn sogar der Krieg in der Ukraine nur noch dazu dient, die Thesen der Theatermacher zu bestätigen, wenn selbst die Empathie für das Leid der Menschen dort nur Ziel von Hohn und Spott ist." Wenn Gruber ein Bild des zerschossenen Theaters in Mariupol mit einem des Bregenzer Theaterraumes verscheidet als Zeichen für die Ohnmacht des Theaters, werde jede Grenze überschritten. "Und wenn dann auch noch die These im Raum steht, verbale und physische Aggression hier sei auch nur eine Spielart der Gewalt wie der Krieg dort, dann hätten aber allen Dramaturgen alle Sicherungen angehen müssen." Die Langeweile habe allerdings schon viel früher eingesetzt.
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Richtig ärgerlich und unappetitlich wurde es, als dann über die gesamte Rückwand ein riesiges Foto eines zerbombten Hauses gezeigt wurde, offenbar soll das in der Ukraine sein. Also wenn man in einer Zeit, in der sich die Ukraine gerade in einem Überlebenskampf und Vernichtungskrieg befindet, solche Bilder zeigt, dann sollte es einen dezidierten Kontext dafür geben: Warum zeigt uns das der Regisseur? Wo steht dieses Haus? Wer sind/waren seine Bewohner? Was ist mit ihnen passiert? In diesem Stück dienen solche Bilder jedoch lediglich als Hintergrund für wirklich saudumme Sprüche über Russen und Ukrainer. Ich empfinde das als widerlich und geschmacklos.
Zudem war der ganze Abend nur eins: nämlich extrem langweilig. Aber ich denke, dem gut-bürgerlichen Bregenzer Publikum hat's gefallen und wenigstens einer hat seinem Unmut über dieses prätentiöse Kunst-Getue mit lauten Buhs Ausdruck verschafft. Dem kann ich mich nur voll anschließen.