Das hier ist kein Land

von Theresa Luise Gindlstrasser

Wien, 18. Juli 2017. Belgien! Also: Bier, Pommes und Schokolade. Jede Menge Bier. Aber: "Ceci n'est pas un pays". So Jan Fabres Ausgangsthese für den knapp vier-stündigen Abend "Belgian Rules / Belgium Rules", uraufgeführt im Wiener Volkstheater im Rahmen von ImPulsTanz. "Ceci n'est pas un pays", also dass dies kein Land ist, also dass dies eine Darstellung ist, mit dieser Pointe zitiert Fabre den, ebenfalls belgischen, Surrealisten René Magritte. Dessen Bild La trahison des images bringt 1929 ein ganzes Gewusel philosophischer Fragestellungen auf den paradoxen Punkt.

BelgianRules BelgiumRules 560 WongeBergmann uNur eines von zahlreichen opulenten Bildern © Wonge Bergmann

Gewusel auch bei Fabre. Belgische Folklore, Karnevals-Kostüme und Tanz. Streng symmetrisch arrangiert, 14 Kapitel und 42 Bilder lang. Ein harter Übergang nach dem anderen; mehr und mehr Konfetti bedeckt den Boden. Der Abend ist eine umgekehrte Archäologie, die das, was sie freilegt, zuallererst aufschüttet. Aber auch eine aktive Gemäldegalerie, die das, was sie zeigt, immer auch schon kommentiert. So unterhalten sich die Performenden, in schweren Stoffen und satten Farben, beim Reenactment der "Arnolfini-Hochzeit", einem Gemälde des flämischen Malers Jan van Eyck von 1434, über Besonderheiten der belgische Architektur und also über den Nachsatz zum Happy-End, dem Häuslebauen.

Belgischer Profit und Postkolonialismus

Reich an disparaten Verweisen in die belgische Kunstgeschichte (Hieronymos Bosch, Peter Bruegel der Ältere, Paul Delvaux, Peter Paul Rubens und andere), spart der Abend auch nicht an Erzählsträngen. Was Kostümwechsel, Bühnennebel-Einsatz, Ausdauer-Sport und Bier-Verschleiß angeht, ist er ganz das Gegenteil von Sparsamkeit und also durchwegs eine satte Augenweide. Aber Erzählstränge! Was der Titel verspricht, das hält der Abend. Die "Belgian Rules" kommen in drei Abschnitten: "It is forbidden", "It is obliged" und "It is possible". Dass "Belgium Rules", also Belgien herrscht, dafür findet Fabre gemeinsam mit dem Autor Johan de Boose zwei eingängige Darstellungen.

Zum einen: Sieben Performerinnen stehen nackt in Pelzmänteln, stellen ein Porträt von Rubens aus 1638 nach. Erzählen auf Englisch, Französisch, Flämisch und Deutsch, erzählen von belgischem Waffenhandel und belgischem Profit, recken Schusswaffen bedrohlich Richtung Publikum. Gesprochen wird hier, wie den ganzen Abend lang, stets ausgestellt, ironisierend und mit penetranten Konsonanten. Zum anderen: Wird der, den Kolonialismus beerbende, "Carnival Dance of Les Noirauds de Bruxelles" getanzt. Inklusive opulenten Kostümen und Blackfacing. Andrew Van Ostade, nicht nur Performer, sondern mit Raymond van het Groenewoud verantwortlich für die nie endende Soundkulisse, rappt: "I'm rich and you're not". Und kommt in einem Aufwischen auf die rassistische Tradition des "Zwarte Piet", einem Helfer des Nikolaus, zu sprechen.

Bis zur Erschöpfung

Aber Erzählstränge! In unregelmäßigen Abständen betritt einer oder eine der insgesamt 15 Performenden in ein ober-opulentes Igel-Kostüm gehüllt die Bühne und beschwört die Geburt von Belgien aus dem Geiste des Theaters. Auf "The Theatre of Compromise" folgt "The Theater of Cruelty", "The Theater of Death" und "The Theater of Image". Da dann fällt ein Schlüsselsatz: "Es wiederholt den Kern der Schönheit bis zu Erschöpfung". Das Theater Jan Fabres tut das jedenfalls auch, Erschöpfung auf der Bühne, Erschöpfung auch im Publikum. Je länger der Abend dauert, desto mühsamer gerät die Bilderfolge.

BelgianRules BelgiumRules 560b WongeBergmann uBelgien, einig Taubenland © Wonge Bergmann

Bis dann ganz am Ende sich noch ein weiterer Erzählstrang einlöst. Performende in Tauben-Kostümen stören und ergänzen den Abend lang die Szenerie. Verweisen auf die belgische Tradition der "Duivenmelker", die Taubenverehrung bzw. das Taubenzüchten für den Wettbewerb. Fragen: "Haben wir es nicht verdient, ein wenig menschlicher behandelt zu werden?" Sagen: "Bastarde aller Länder, vereinigt euch!" Imaginieren gegen Ende dann, als Friedenstauben, zuerst die Einheit der belgischen Regionen, dann den Frieden schlechthin. Tanzen so in weiß gekleidet, mit Zweigen im Schnabel, schwingen die reinweißen Fahnen. Eine Plattitüde. Und Plattitüden zeigt der Abend viele. Im Bilderrausch-Verband zur insgesamt überwältigenden Darstellung arrangiert. Ganz bestimmt: "Ceci n'est pas un pays".

 

Belgian Rules / Belgium Rules
von Jan Fabre / Troubleyn
Konzept/Regie: Jan Fabre, Text: Johan de Boose, Musik: Raymond van het Groenewoud, Andrew Van Ostade, Dramaturgie: Miet Martens, Kostüm: Kasia Mielczarek, Jonne Sikkema, Les Ateliers du Théâtre de Liège, Catherine Somers.
Mit: Annabelle Chambon, Cédric Charron, Tabitha Cholet, Anny Czupper, Conor Thomas Doherty, Stella Höttler, Ivana Jozic, Gustav Koenigs, Mariateresa Notarangelo, Çigdem Polat, Annabel Reid, Merel Severs, Ursel Tilk, Kasper Vandenberghe, Andrew James Van Ostade.
Dauer: 3 Stunden und 45 Minuten, keine Pause

www.impulstanz.com


Kritikenrundschau

Über einen Abend "zwischen Pathos und Grand Guignol" berichtet Barbara Petsch in der Presse (20.7.2017). "Fabres donnernde Chorus Line kennt man schon von anderen Aufführungen, er zeigt die gnadenlose Körperarbeit, die für die Kunst notwendig ist, treibt seine Performer bis zur Erschöpfung, am Bühnenrand stürzen sie nieder." Im Ganzen "erschüttert, irritiert, und manchmal langweilt die Produktion. Man muss einen Hang zum meditativen Verweilen haben, einige flohen."

"In dreieinhalb deftigen Stunden heizt Fabre seine zum Bersten gefüllte Bilderbühne an“, schreibt Helmut Ploebst im Standard (20.7.2017). Es sei hier etwas "zusammengebraut" worden, das dem "Selbstverständnis der miteinander zerstrittenen Belgier besser auf die Sprünge helfen könnte als jede staatliche Versöhnungsdidaktik". Eine "ausgesprochen raffinierte Mischung aus Provokation und Leistungsschau" stellt diese Produktion für den Kritiker dar.

"Fabre, der selbsternannte Krieger der Schönheit, fasst seit je noch die schlimmste Selbsttortur in berückende, grausam-schöne Bilder", so hebt Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung (20.7.2017) an. Am Wiener Volkstheater wohnte die Rezensentin "Fabres derb-zarter Liebeserklärung an seine Heimat" in "vier größtenteils vergnüglichen, atemberaubend schön bebilderten, mit Verve getanzten Stunden" bei. "Einen farbensatten, aber auch nebelfahlen, mit viel Bier geduschten, komisch-horriblen Comic spult Fabre da in halsbrecherischem Tempo ab. Und immer, wenn man fürchtet, dass der Choreograf den zitierten Klischees erliegt, kriegt er noch die Kurve."

Einen "postmodernem Zitierschwall", bei dem tief in die "Museumslade" gegriffen werde, erlebte Hans Haider von der Wiener Zeitung (20.7.2017). "Für die Körperschinderei kassiert das Ensemble Beifall. Oder wollen die klatschenden Hände nur sagen: Hört auf zu wiederholen, wir wissen jetzt, wie's geht."

"Am besten beschreibt man die ganze Aufführung, die tatsächlich, sehr genau choreographiert, die im Voraus angekündigten drei Stunden und fünfundvierzig Minuten, leider völlig ohne Pause, nicht überschreitet, als Revue selbstironischer Belgien-Klischees", schreibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.7.2017). "Das ist alles, zumindest jeweils anfänglich, durchaus unterhaltsam, die Willensstärke des Ensembles mehr als bewundernswert, aber über eine bunte und viel zu lange Bilderabfolge ohne erkennbaren inhaltlichen Zusammenhang kommt Jan Fabre nicht hinaus."

 

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