"Where Are Your Phones?"

von Martin Thomas Pesl

Wien, 6. August 2018. Ich hatte mir vorgenommen, kein Selfie mit Ivo Dimchev zu machen. Aber irgendwann kam er dann halt zu mir und kniete sich neben mich, und ein Boykott des grundlegenden, titelgebenden, ja einzigen Konzepts seines Impulstanz-Abends "Ivo Dimchev, A Selfie Concert" erschien mir unverhältnismäßig. Also habe ich ein Selfie mit Ivo Dimchev gemacht.

Selfie Concert 560 pesl uKritikerselfie mit Künstler: Martin Thomas Pesl (rechts) mit Ivo Dimchev © Martin Thomas Pesl

Man ahnt es schon ...

Das Festival Impulstanz nutzt seit einigen Jahren verstärkt die Räumlichkeiten der Wiener Museen als Spielorte und stimmt seine Inhalte so weit wie möglich mit deren Programmen ab. Im Museum moderner Kunst (mumok) läuft derzeit die Ausstellung "Doppelleben", die Schnittstellen zwischen Kunst und Musik beleuchtet. Das kam wohl auch dem bulgarisch-britischen Performancekünstler Ivo Dimchev zu Ohren, der spätestens seit seinem Stück Icure 2014 als schockierend unerschrockener Radikalperformer gilt und sich seither zu einem Impulstanz-internen Superstar entwickelt hat, der jährlich mehrere Projekte im Rahmen des Festivals verwirklicht. Diesen Sommer sind es zwei Workshops und vier Performances – eine davon das "Selfie Concert" in einem White Cube des Mumok. Es geht, man ahnt es schon, so: Ivo Dimchev singt, und die Leute machen Selfies mit ihm.

... und das Falsett mäandert

Das ist erstens ziemlich selbstverliebt, zweitens auch wirklich alles, was in dieser guten Dreiviertelstunde passiert (danach passiert noch das, dass T-Shirts mit Dimchevs Konterfei verkauft werden). Drittens sollte man ihm deswegen aber nicht grollen, denn nichts anderes hat er angekündigt. Mit blonder Perücke, kurzen Hosen und einer Jacke, die er immer wieder die nackten Schultern herabgleiten lässt, tritt er in die Mitte des Raumes, in dem die meisten auf Kissen am Boden sitzen, und säuselt Begrüßungsworte ins Mikro: "Where are you phones?" Nun, und dann spielt er eben ein Konzert, teils sitzend mit Keyboard, teils durch den Raum gehend, wobei die Instrumentals aus dem Laptop kommen. Sein Falsett mäandriert auf und ab, die Songtexte sind schwer zu verstehen, hier ein bisschen "love", da ein "some time", alles für Nicht-Fans recht ähnlich klingend. Aber der Mann hat eine tolle Stimme. Nicht-Fans scheinen an diesem Abend außerdem gar nicht so viele anwesend zu sein.

ASelfieConcert 560 EmiliaMilewska uIvo Dimchev umringt von Selfie-Shooter*innen © Emilia Milewska

Lustige Bärenohren

Man sollte meinen, die konzeptuell auferlegte Interaktion mit den Zuhörenden stelle den Künstler vor größere Herausforderungen. Vielleicht gilt es eine anfängliche Scheu des Publikums zu überwinden? I wo! Die ersten Selfie-Willigen stehen schon da und werfen sich in Pose. Nur zweimal muss Dimchev für wenige Sekunden seine Drohung wahrmachen: "If you don’t come, I will stop singing." Es wirkt, als hätte er das Premierenpublikum choreografiert: Alle scheinen genau zu wissen, was sie zu tun haben, richten sich am Weg nach vorne die Haare, aktivieren den Selbstauslöser und lehnen ihr Handy an einen Lautsprecher oder stellen auf Snapchat oder wie das heißt schon mal die Funktion ein, die Dimchev lustige Bärenohren aufsetzt. Einmal stehen gut dreißig Personen auf einmal auf – ein Flashmöbchen, wahrscheinlich hat sich die Gruppe das vorher bei einem Impulstanz-Workshop ausgemacht. Nur der Performance-Kritiker der Tageszeitung versucht zur allgemeinen Erheiterung, sein Gesicht vor der Handykamera zu verstecken.

Möglich, dass Ivo Dimchev eine angewandte Kritik am Selbstdarstellungswahn seiner Szene oder der modernen Jugend bezweckt. Schließlich verzichtet er auf einen Live-Feed zur Sofortpräsentation der Bilder, es gibt kein gemeinsames Hashtag. Was aus den Selfies wird, bleibt wohlig egal. So wird die performative Grundidee hauptsächlich durch den Charme der Ausführenden getragen.

Heile Welt der Tanz-Blase

Obwohl sich der Hintergrund des Abends vermutlich eher in einem "Ivo, mach doch was Musikalisches im Mumok!" erschöpft, regt er zwei Gedanken an: Ist nicht heute jedes Konzert ein Selfie-Konzert (außer bei manchen Bands, die davon mittlerweile so genervt sind, dass sie für ihre Auftritte Handyverbote erteilt haben)? Und: Wann ist das passiert, dass Selfies-Schießen das Autofahren der Gegenwart geworden ist? Alle wirken, als wären sie Expert*innen darin, obwohl es doch gar nicht so einfach ist, es richtig zu machen, und es scheint ein Konsens darüber zu herrschen, dass man es können und tun wollen sollte. Andererseits gilt das vielleicht auch nur für die heile Welt der Impulstanzblase. So oder so, ich habe jetzt dieses Foto, damit ich weiß, dass ich da war. Trotzdem wäre mir lieber, ich hätte nicht dieses Doppelkinn.

 

Ivo Dimchev, A Selfie Concert
von und mit Ivo Dimchev
Dauer: 50 Minuten, keine Pause 

www.impulstanz.com
www.ivodimchev.com

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