Endstation Sehnsucht - Theater St. Gallen
Ein Lügengespinst in Nahaufnahme
Von Valeria Heintges
St. Gallen, 7. Juni 2019. Suchend tastet eine Hand, von der Kamera begleitet, die Schränke entlang. Sie zittert leicht, da sucht jemand regelmäßig das Vergessen. Blanche Dubois genehmigt sich ein Glas Whisky. Und wird später noch eines trinken. "Nie mehr als ein Glas", wird sie beim zweiten behaupten. Es ist einer ihrer ersten Sätze. Sie wird noch viele sagen, Blanche Dubois redet gern und viel und nur über sich. Der Satz ist eine Lüge. Auch die erste von vielen.
Schein und Sein aus vielen Perspektiven
St. Gallens Schauspieldirektor Jonas Knecht hat sich auf der großen Bühne Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht" vorgenommen und dafür ein dickes, großes Mobile Home auf die Drehbühne des Theaters gesetzt. Oben drüber hängt eine Leinwand, groß wie eine Verdopplung, die mit Hilfe zweier Live-Kameras das Kleine ins Große zieht, den Widerstreit zeigt zwischen Innen und Außen, Schein und Sein, Lüge und Wahrheit (Video: Clemens Walter). Das Mobile Home präsentiert sich auf der Drehbühne von allen Seiten. Zuweilen wechselt die Perspektive, zeigt die Kamera das Geschehen hinter dem Haus, während die Zuschauer direkt ins Innere schauen.
Bei Tennessee Williams ist vieles nicht so, wie es scheint. Da besucht Blanche Dubois ihre Schwester Stella und gebärdet sich, als käme hier die Upper Class zu den Working Dogs, der Reichtum zu den Armen. Doch hat Blanche das Gut der Familie und ihre Stelle als Lehrerin verloren. Sie wurde auch der Stadt verwiesen, als sie sich in einem zwielichtigen Hotel einnistete, um dort Freier zu empfangen, und ihr Verhältnis mit einem 17-jährigen Schüler ans Licht kam. "Auf die Freundlichkeit von Fremden habe ich mich immer verlassen", ist ihr letzter Satz – ausnahmsweise sagt sie da die Wahrheit. Doch braucht Blanche die Lüge, die Illusion, um sich vorzugaukeln, dass es noch einen Ausweg aus der Misere geben könnte. Wie sie noch versucht, die Täuschung aufrechtzuerhalten, als längst alles gegen sie spricht, das hat auch tragikomische Elemente. Und heutzutage eine hochpolitische Dimension.
Die Kamera als Akteur
Trotzdem lässt Blanche keine Gelegenheit aus, ihrer Schwester Stella die Ehe mit Stanley Kowalski vorzuwerfen. Die Kowalskis haben allerdings deutlich weniger Geldsorgen. Zudem ist die Ehe auf starker sexueller Anziehung gegründet, doch auch das will Blanche nicht sehen. Für sie ist Stanley das "Tier", der "Affe", ohne Manieren, vulgär und brutal, der "Polak". Das hindert sie aber nicht, gleich ihr erstes Zusammentreffen erotisch aufzuladen und ihn anzumachen. Das Programmheft scheint uns glauben machen zu wollen, hier ginge es um "die Kultur" in Person von Blanche und "die Natur" in Person von Stanley. Doch hat schon Williams die Sache komplizierter angelegt.
Spannend wird das Spiel der Kameras, wenn sie von Voyeuren zu Akteuren werden. Wenn Blanches toter Ehemann im Film direkt zu ihr geschnitten wird, auf der Bühne aber mehrere Meter entfernt steht. Oder wenn die Kameras Blanche wie ein lästiger Stalker bedrängen, sich ihr Gesicht mehrfach im Spiegel bricht oder in vielen Perspektiven gleichzeitig auf der Leinwand erscheint. Denn als eine Lüge nach der anderen ans Licht kommt, scheint irgendwann nur noch sie selbst ihren Worten zu glauben.
Am eigenen Verführungsspiel berauscht
Die Liveübertragung gibt den Schauspielern, allen voraus Anja Tobler als Blanche, die Gelegenheit, genauer und feiner zu spielen. Beeindruckend, wie Tobler ihre Blanche zwischen Hoffnung und Verzweiflung oszillieren lässt, wie sie sich am eigenen Verführungsspiel berauscht, das sie ausnahmslos allen Männern angedeihen lässt, die ihr begegnen. Am flirrendsten und erotischsten in der Begegnung mit dem Zeitungskurier (Tobias Graupner), der sie an ihren Ehemann erinnert, der sich erschoss, als sie seine Homosexualität entdeckte, und dessen Tod Blanche nie überwunden hat. Wie Tobler hier die Contenance der Lady wahrt und doch den Kurier immer wieder zurückruft, um ihn erneut zu becircen, das hat große Klasse.
Frederik Rauscher gibt Stanley, ihren Widerpart, als groben, brutalen, allzeit bereiten Klotz, doch macht er auch deutlich, dass ihm trotz allem die Lüge fremd ist. Anna Blumer als Stella ist ganz kleine Schwester, die gelernt hat, die exzentrische und sich überlegen glaubende Schwester stillschweigend zu ertragen. Oliver Losehands Mitch bleibt freundlich, aber ein wenig konturlos, sein Entsetzen über Blanches wirklichen Charakter lauwarm.
Stellas Entscheid, die Schwester in eine Klinik einweisen zu lassen, kommt auch wegen Streichungen am Text ein wenig überraschend, und die Geräuschkulisse, die Jonas Knecht etwas phantasielos ab Regieanweisung inszeniert, wirkt zusammen mit einigen billigen Effekten überladen und übertrieben. Doch auch wenn der Abend nach der Pause ein wenig schwächelt, zeigt er doch ein starkes, von Schauspielern getragenes und dem Text vertrauendes Kammerspiel.
Endstation Sehnsucht
von Tennessee Williams
Inszenierung: Jonas Knecht, Bühne: Michael Köpke, Kostüm: Friederike Meisel, Video: Clemens Walter, Dramaturgie: Armin Breidenbach, Licht: Andreas Volk, Live-Musik: Andi Peter, Live-Video: Kristian Breitenbach, Zeno Georgiou.
Mit: Anja Tobler, Anna Blumer, Frederik Rauscher, Oliver Losehand, Jessica Cuna, Christian Hettkamp, Matthias Albold, Tobias Graupner, Dorothea Gilgen.
Premiere am 7. Juni 2019
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten
www.theatersg.ch
Von einer "eindringlichen Wirkung des Abends" berichtet Rolf App im St. Galler Tagblatt und Luzerner Zeitung (online 8.6.2019). "Jonas Knecht hat aus Tennessee Williams' Klassiker etwas Einfaches und zugleich Raffiniertes gemacht, indem er sich jener Kunstform bedient, die Williams erst richtig berühmt gemacht hat – des Films." Die Kameras zoomen ganz nah "an Blanches Gesicht heran, und während sich hinter den Gardinen eine schattenhafte Auseinandersetzung abspielt, enthüllt die darüber ausgerollte Leinwand, was sich da wirklich tut. Das ist anrührend und beklemmend. Der Blick auf Gesichter, auf Gesten, auf Bewegungen verstärkt, was in den Worten liegt, und lässt Zwischentöne sichtbar werden."
Daniel Fuchs schreibt auf dem regionalen Online-Portal saiten.ch (10.7.2019): Michael Köpkes "Szenerie", der halbseitig offene Wohnwagen, sei "toll". Eine raffiniert Lösung für das Innen und Außen der Inszenierung. Anja Tobler als Blanche, von Anfang an "eine Verlorene" gelinge es, das Publikum zu "rühren". Man lasse sich "in den Zauber hineinziehen, den Blanche versprüht". Fast pausenlos würden die Schauspielerinnen durch Kameras verfolgt. "Nahaufnahmen, Seitenaufnahmen, Innenszenen – der Blick des Zuschauers wird multiperspektivisch aufgebrochen." Und doch bleibe am Ende "das Ganze kompakt und absolut stimmig, schwebend zwischen Film und Theater". Was dazu Andi Peters Musik der feinen Töne leiste, stehe "sinnbildlich für die gesamte Inszenierung von Jonas Knecht: "Aus wenig wird viel!" Zwei Stunden Verzauberung seien garantiert.
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