Schnee - Lars-Ole Walburg bringt Orhan Pamuks Roman auf die Bühne
Von Kopftüchern und Katastrophen
von Willibald Spatz
München, 1. März 2008. Es sieht so aus, als sei das Mädchen Ipek leicht zu haben: Lebt mit Vater und kleiner Schwester in der faden, türkischen Provinzstadt Kars, hat sich vor drei Jahren von ihrem Mann scheiden lassen und sollte eigentlich darauf warten, dass einer kommt und sie fortführt aus dieser Öde. Der Journalist und Schriftsteller Ka, der seit langem in Frankfurt lebt, kehrt kurz heim in die Türkei, um seine Mutter in Istanbul zu beerdigen, eine Reportage über Vorfälle in Kars zu schreiben – wo mehrere Mädchen sich umgebracht haben, weil ihnen verboten wurde, ein Kopftuch zu tragen – und um eben jene Ipek zu heiraten und mitzunehmen nach Deutschland.
So viel erfährt man zu Beginn von Orhan Pamuks Roman "Schnee", der in einer Bearbeitung von Lars-Ole Walburg und seinem Dramaturgen Malte Jelden nun an den Kammerspielen Premiere hatte. Die beiden haben es geschafft, aus dem Riesen-Roman Pamuks eine in gut zwei Stunden spielbare Fassung zu bauen, die die ruhige Atmosphäre des Originals beibehält und nie ins Hetzen kommt.
Zuerst rieselt der Schnee
Als Ka in den Bus steigt, der ihn nach Kars bringen wird, fängt es zu schneien an. Auf der von Robert Schweer eingerichteten Bühne der Kammerspiele sitzt Bernd Moss, der diesen Ka spielt, an einem Tisch und liest die ersten Sätze aus dem Buch. Hinter ihm türmt sich ein Berg aus Fernsehern, auf deren Schirmen es rieselt. In Kars knallt er Annette Paulmann als Ipek sein Vorhaben vor die Füße, kühl, klar, ohne große Regung, als trüge er das Anliegen einer anderen Person vor.
"In Istanbul habe ich gehört, dass du dich von deinem Mann getrennt hast. Ich bin hierher gekommen, um dich zu heiraten." Ihr ist das zu wenig, sie fordert wenigstens einen Flirt von ihm. Ihr Vater, von Jochen Striebeck schnauzbärtig und gemütlich dargestellt, sitzt im Hintergrund, verfolgt das Fernsehprogramm und entnimmt der Zeitung des nächsten Tages, dass der Dichter Ka am Abend im Volkstheater ein neues Gedicht vortragen werde. Damit hängt dieser fest in der Stadt. Er wird dieses Gedicht schreiben und es vortragen im Theater, es vorher jedoch noch wortlos bezaubernd Ipek vortanzen.
Blutiges Ende eines Vortragsabends
Ipeks Schwester ist bei den Kopftuch-Mädchen. Sie verweigern sich der Säkularisierung ihres Lebens. Mit ihr wird auch Kas privates Leben in die Politik gezogen. Er kann nichts dagegen tun, dass der Anführer der Religiösen, Lapislazuli, ihn zu einem geheimen Treffen zwingt. Dabei steht Bernd Grawert breitschultrig hinter einem Keyboard und erzählt eine alte Geschichte, der Ka nicht folgen kann, weil Tabea Bettin als Kopftuch tragende Schwester ihn im Vordergrund an einem Mikrofon bearbeitet.
Hans Kremer ist der weltliche Gegenspieler, ein ehemaliger Schauspieler, der einst durch ein dummes Interview seine Karriere versaut hat; er steht in der Bühnenmitte und schildert das blutige Ende des Gedicht-Vortragsabends, der in einem Putsch aufgeht, und schießt selbst ein paar Mal ohrenbetäubend mit einem Maschinengewehr in die Luft. Im Hintergrund flackert der Fernseherhaufen rot.
Kampf und Verhängnis
Lars-Ole Walburg hat eine unaufdringliche und dennoch sehr spannenden Arbeit abgeliefert. Mit sparsamen Mitteln oszilliert der Abend zwischen feierlicher Heiterkeit und düsterer Bedrohlichkeit. Es gibt dort in dieser fremden, fernen Welt Kars' keine Guten und keine Bösen, kein richtig und falsch – und es gibt keine Chance, sich dem dort tobenden Kampf zu entziehen. Ka, der mit einem einfachen Ziel angereist ist, wird das schließlich zum Verhängnis. Die anonyme Obrigkeit, die immer aus einem überdimensionalen Lautsprecher zu hören ist, versucht ihn einzuspannen. Er flieht, kritzelt auf ein Blatt Papier, das groß auf den Fernsehern erscheint eine letzte Botschaft an Ipek und verliert sie dann ganz.
Er wird später in Frankfurt auf der Straße erschossen werden. Sein Freund Orhan Pamuk begibt sich auf seine Spuren und die des irgendwo verloren gegangenen Gedichts. Seine Erlebnisse gibt, während im Hintergrund die Bühne beschneit wird, Wolfgang Pregler wieder, der nach zwanzig Minuten Monolog ein leicht benommenes, aber durchaus begeistertes Publikum in die reale Münchner Sturmnacht entlässt.
Schnee
nach dem Roman von Orhan Pamuk. Fassung von Lars-Ole Walburg und Malte Jelden auf der Grundlage der Übersetzung von Christoph K. Neumann
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne: Robert Schweer, Kostüme: Nina Wetzel, Musik: Theo Nabicht, Video: Sebastien Dupouey. Mit: Bernd Moss, Annette Paulmann, Tabea Bettin, Jochen Striebeck, Bernd Grawert, Hans Kremer, Sebasian Weber und Wolfgang Pregler.
www.muenchner-kammerspiele.de
Mehr zu Lars-Ole Walburg: Orestie am Düsseldorfer Schauspielhaus.
Kritikenrundschau
Orhan Pamuks "Schnee" sei ein Buch, so Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (3.3.2008), "dessen empirische Fülle sich das Theater nicht anzueignen vermag, sondern nur in die Zeichenhaftigkeit seiner eigenen Mittel umschmelzen kann." Doch genuine Theatervorgänge gebe es in Lars-Walburgs Inszenierung an den Münchner Kammerspielen nur ausnahmsweise zu sehen, ansonsten agierten die Schauspieler, "als hätte sich jeder ein schmückendes Fetzchen aus dem Romanteppich herausgerissen, um seine Blöße zu bedecken, statt ihn zum Fliegen zu bringen." Walburg wiederum suche "immer wieder die Kommentar-Ebene": Anstatt etwa "dem Streit der Ideen zwischen dem Lehrer und dem jungen Fanatiker Gewicht zu verleihen, indem er die beiden Figuren so suggestiv werden lässt, wie es nur das Theater kann", löse Walburg "den Antagonismus auf. Hier, wo sich der ganze Konflikt kristallisiert, geht der Text chorisch von Mund zu Mund. Brav aufgereiht, sagen sieben Stimmen die Sätze auf, und weil sie dadurch kommentierend auf Distanz bleiben, trampeln sie nicht nur den politischen Zündstoff aus, sondern auch das Licht der Erkenntnis."
Der Anspruch, mit dem Walburg Pamuks "Schnee" komprimiere, könne "nur der einer stenographischen Hommage an den Nobelpreisträger sein," meint Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen (3.3.2008). "Gelungen ist ihm und seinem Dramaturgen Malte Jelden, Pamuk in einem Netz aus teils dialogischen, teils erzählerischen Miniszenen mit einer feierlichen Leichtigkeit einzukreisen." Walburg schraffiere die wichtigsten Individuen Pamuks nach, dabei beeindrucke er "mit einem flüssigen, respekt- und anspruchsvollen, dabei oft unterhaltsamen 'Schnee'-Best-of." Doch der Regisseur gönne "dem Zuschauer kein Kennenlernen. Die stolzen, starken und dabei liebesbedürftigen Einwohner von Kars bleiben diesem ... unsichtbar". Wenn am Ende Wolfgang Pregler "den autobiographischen Teil der ... Geschichte Kas als lange Coda" an der Rampe rezitiere, "verwehen die noch frischen, aber allzu leichten Spuren des soeben Gesehenen unter der feinen Decke eines reinen, klaren Erzähltheaters."
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