The Lobster - Volkstheater München
Zölibat und Zweisamkeit
27. September 2024. Über den Terror der Partnerwahl erzählt Yorgos Lanthimos in seinem düster grotesken, parabelhaften Film "The Lobster" (der Hummer). Lucia Bihler bringt den Stoff jetzt choreographisch ans Volkstheater. Und zeigt eine Welt jenseits der Geschlechteridentitäten.
Von Silvia Stammen
27. September 2024. "Happily ever after" heißt es am Ende englischer Märchen – "glücklich bis ans Ende ihrer Tage". Im Münchner Volkstheater prangen die Worte in schräger Leuchtschrift wie ein drohendes Menetekel über einer blassgrünen Bühne auf der Bühne (entworfen von Jessica Rockstroh).
Hier im Festsaal eines Hotels werden gleich einsame Herzen verzweifelt nach einer neuen Liebe suchen. Es muss nur eine Gemeinsamkeit geben, irgendeine spezielle Eigenart oder einen kleinen Makel. Denn "Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt". So heißt es bereits in der Bibel, ein Postulat, das sich über die Jahrhunderte hinweg fast unwidersprochen gehalten hat: vom familiären Tauschgeschäft arrangierter Zweckehen über staatstragende Heiratspolitik, die Erfindung der Liebe als Passion im bürgerlichen Zeitalter bis hin zum boomenden Geschäft mit Dating Apps und Partner-Agenturen.
Darunter verborgen liegt allerdings auch eine gesellschaftliche Gewaltstruktur, die den Einzelnen als ungenügend und nonkonform disqualifiziert und gemeinsames Glück als Belohnung für Anpassung an das Leistungsprinzip verspricht.
Die Qual der Partnerwahl im Hotelambiente
Der griechische Filmregisseur Yorgos Lanthimos, der letztes Jahr mit seiner fantastisch-feministisch ausstaffierten Frankenstein-Groteske "Poor Things" durch die Decke ging, entwickelt in seinem Film "The Lobster" (2015) zusammen mit Drehbuchautor Efthimis Filippou eine komisch-brutale Doppel-Dystopie: Aufseiten der Zivilisation herrscht ein unbarmherziger Zwang zur Zweisamkeit, während in die Wälder geflohene Singles dort unter einem ebenso rigiden Regime des Zölibats leben, in dem ein Flirt mit blutigen Strafen belegt wird und jeder sich schon mal prophylaktisch sein eigenes Grab schaufeln muss.
Von seiner Frau verlassen, wird David (40, Architekt, Brillenträger) wie alle alleinstehenden Stadtbewohner für 45 Tage in das Hotel am Meer einquartiert, um sich dort nach Möglichkeit neu zu liieren. Ein gemeinsames Merkmal wie Kurzsichtigkeit, Gefühlskälte oder häufiges Nasenbluten sind Voraussetzung für eine glückliche Partnerschaft.
Falls es anfangs Schwierigkeiten gibt, bekommen die frischgebackenen Pärchen fremde Kinder zugeteilt, die dabei helfen sollen, Spannungen zu überwinden. Wer dennoch versagt, wird in ein Tier seiner Wahl – für David wäre es ein Hummer – verwandelt und in den Wald ausgewildert, in dem auch die Outlaw-Singles unter ihrer strengen Anführerin leben und regelmäßig bei Jagdausflügen von den Hotelgästen mit Betäubungspfeilen zur Strecke gebracht werden, die sich so zusätzliche Aufenthaltstage als Belohnung verdienen.
Die Blendung der Kulleräugigen
Regisseurin Lucia Bihler hat die harsche Vision mit choreografischem Humor für die Bühne adaptiert und dabei die gewaltsam lakonische, mit Streichermusik pathetisch aufgeladene Bildsprache des Films in eine verspielte Körperkomik zum hingetupften Elektrosound von Fabian Kalker verwandelt und viel Liebe in die Zeichnung der einzelnen Charaktere gelegt.
Wie früh gealterte, aber noch in ihren Schuluniformen und Kinderkleidchen steckend gebliebene Zöglinge wirken die Anwärter, während die dominante Hotelmanagerin (Luise Deborah Daberkow), ihr unterwürfiger Gefährte (Lukas Darnstädt) und das beflissene Zimmermädchen (Lena Brückner) in hummerrotem Lackleder (Kostüme von Leonie Falke) in Lauerstellung gehen.
Mats Südhoff hat dazu eine unterschwellig präsente Choreografie entwickelt, die von der schiefen Schulter bis zur gerunzelten Stirn jeden Gesichtsausdruck, jede Körperhaltung definiert.
Paulina Alpens David kämpft ergreifend mit seiner Schüchternheit und einer unbestimmten Sehnsucht, Silas Breiding als chancenlose Kandidatin mit dem Charme und der Penetranz der Verzweiflung. Pauline Fusban ist die herzlose Jägerin und Anne Stein erst ein kulleräugiges Mauerblümchen und später im Wald dann Davids große kurzsichtige Liebe, die von der unbarmherzigen Anführerin (Henriette Nagel) aus Neid kurzerhand geblendet wird.
"Ich versuche immer aus der Binarität herauszukommen, sie aufzulösen", sagt Lucia Bihler in dem Interview-Band "Status quote" (Henschel 2023) und das gelingt ihr hier absolut überzeugend und wie nebenbei. Ob Mann oder Frau – die Frage nach der Freiheit, zu lieben oder nicht, gegen die jeweils herrschende Doktrin, stellt sich für beide Geschlechter gleichermaßen.
Liebe macht blind zwischen kahlen Baumstämmen
Ein gewisses Problem des Theaterabends ist dagegen, dass die possierlichen Details – es gibt auch Tiere: ein weißes Pony, einen Papagei und den Hund, in den Davids Bruder Bob verwandelt wurde – dem Schmerz und der Grausamkeit über weite Strecken die Schärfe nehmen, die der Film in jeder seiner kühl komponierten Einstellungen ausstrahlt.
Nach der Pause, wenn David aus dem Hotel in den Wald geflohen ist und bereit, sich selbst das Augenlicht zu nehmen, um mit seiner erblindeten Geliebten wieder eine Gemeinsamkeit zu teilen, bleibt die Bühne in nebligem Dunkel. Doch noch immer blitzt der Schriftzug vom endlosen Glück grell zwischen den kahlen Baumstämmen und gewinnt das Bonmot "Liebe macht blind" eine ganz neue Konsequenz.
The Lobster
nach dem Film von Yorgos Lanthimos und Efthimis Filippou
Deutsche Übersetzung von Linda Kokkores
Regie: Lucia Bihler, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüm: Leonie Falke, Mitarbeit Kostüme: Felix Loeffelholz von Colberg, Musik: Fabian Kalker, Licht: Anton Burgstaller, Choreografie: Mats Süthoff, Dramaturgie: Hannah Mey.
Mit: Paulina Alpen, Silas Breiding, Lena Brückner, Luise Deborah Daberkow, Lukas Darnstädt, Pauline Fusban, Julian Gutmann, Lorenz Hochhuth, Henriette Nagel, Anne Stein.
Premiere am 26. September 2024
Dauer: 2 Stunde 45 Minuten, eine Pause
www.muenchner-volkstheater.de
Kritikenrundschau
Von einer "zumindest im ersten Teil brillante Aufführung" schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (27.9.2024). Besonders Paulina Alpen als David hat es dem Kritiker angetan, die "den von Bihler verordneten, kontrolliert artifiziellen Spielstil" aus seiner Sicht perfekt beherrscht. "Extrem präzise, nuanciert, ihr David ist verdattert, scheu, wird immer bockiger, und egal, wie künstlich die Welt ist, in die er hineingerät, immer schimmert bei Alpens Spiel auch Paulina Alpen durch. Letzteres gilt allerdings für alle, die hier agieren und mit Nuancen der Durchlässigkeit der geschlossenen Welt ein Leben einhauchen."
"Die kluge Regie, ohne eine Minute Leerlauf, ist dabei auch noch extrem unterhaltsam, vor allem für alle, die den Film nicht kennen. Wie Verpaarung ertanzt und anerzogen werden soll, wie sich der Hund der Hauptfigur als Bruder herausstellt, dessen Hotelaufenthalt vor ein paar Jahren leider nicht zum Erfolg führte, wie krampfhaft nach paarbildenden Gemeinsamkeiten gesucht oder selbst bei einem Nachleben im Tierreich noch perfekte Paarung-Chancen reflektiert wird: Dieser Humor ist bittersüß und bietet Anlass zu einem kurzen Griff an die eigene Nase", schreibt Sabine Busch-Frank vom Donaukurier (28.9.2024).
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