Gutes tun und drüber reden

von Michael Laages

Hamburg, 5. Oktober 2008. Eins vorneweg: der Theaterkritiker im engeren, vielleicht auch ein bisschen beschränkten Sinne hat an diesem Abend im Theater eigentlich nichts zu suchen. Es gibt ja kein Stück zu besichtigen, keinen Text, ob neu oder alt, dessen Umsetzung nun Sache einer guten Inszenierung wäre – stattdessen gibt es Geschichten, ach was, Fragmente von Geschichten, Momente aus der Erinnerung ganz normaler Menschen; keine Poesie, kein Gleichnis, nichts. Nur Alltag in Splittern.

Und es gibt auch keine Inszenierung dieser oft sehr (oder auch nur) persönlich gefärbten Alltagsdokumente – nur Arrangement und Organisation; was schon schwer genug ist. Also gibt es natürlich auch nicht die Spur, nicht die Ahnung einer künstlerischen Behauptung, destilliert aus der von Schauspielerinnen und Schauspielern getragenen Interpretation von Material – denn es gibt ja auch keine Schauspieler, auch keine, die etwa Interpreten ihrer eigenen, persönlichen Geschichten wären.

Schnipseln, verteilen, zusammenfügen

Stattdessen gibt es Menschen wie Du und wie Sie und wie ich, die vortragen (oder aufsagen oder ablesen), was sie sich vorher zur Darstellung ihrer selbst ausgedacht und dann aufgeschrieben haben; das Produktionsteam am Deutschen Schauspielhaus unter Leitung des Jenenser Theaterhaus-Leiters Markus Heinzelmann hat diese Selbstzeugnisse dann auseinander geschnipselt und sie – verteilt auf eineinhalb Dutzend Hamburgerinnen und Hamburger – wieder zusammengefügt, unter dem etwas hochgestochenen Titel "Dokumentartheater"; hochgestochen, weil eben nicht Dokument gleich Dokument ist. Ein wenig Welthaltigkeit möcht' schon sein.

Wer "Dokumentartheater" sagt, setzt sich immerhin mutwillig dem Vergleich mit den Großtaten in dieser sehr speziellen Theaterdisziplin aus; bis hin zu Peter Weiss und der "Ermittlung" auf der historischen und den Arbeiten von Rimini Protokoll auf der zeitgenössischen Ebene. Die Arbeiten des 60+-Projektes am Hamburger Schauspielhaus dokumentieren (ausgerechnet im Theater) ganz anderes und viel schwierigeres Material: unfertigen Text, Worte und Sätze, deren öffentlicher Vortrag dem Sprecher vielleicht nicht immer nützt.

Immerhin stehen sie auf einer Theater-Bühne – aber so war das mit den "Brettern, die die Welt bedeuten" doch eher nicht gemeint. Die jüngste Dokumentar-Bemühung um die Geschichten älterer Menschen, die zweite immerhin nach Jacqueline Kornmüllers erstem Versuch, bedeutet nicht mehr, als was sie ist: eine mehr oder weniger gut sortierte Sammlung von mehr oder weniger interessanten Selbstzeugnissen, von den Zeugnisgebern persönlich vorgetragen.

Deutschland sucht den Super-Kümmerer

Das ist, was es ist: mehr oder weniger interessant. Und nicht viel mehr. Es wird auch nicht wirklich interessanter dadurch, dass die Zeugnisse von Sonja und Helga, Addi und Jan und wie all die netten, freundlichen 18 Hamburger "Kümmerer" heißen, gelegentlich mal nach Jahrzehnten geordnet werden: unter der Rubrik "Die 40er" dann natürlich mit Erinnerungen an den Bombenkrieg, unter der Rubrik "Die 60er" an Wirtschaftswunder und Polit-Revolte. Vorhersehbar ist das alles. Auch wenn sie alle schön singen und die 60+-Rentnerband ihr Bestes gibt.

Ärgerlich ist aber vor allem der Grundgedanke, die (wenn's denn eine sein soll) "Idee" des Abends – die nämlich, Menschen aus der Nachbarschaft auf die Bühne zu stellen, die davon erzählen, wie prima fit sie noch sind und was für gute Taten sie tun. Teilweise tun sie das auch noch in einer Art TV-Parodie: "Deutschland sucht den Super-Kümmerer!" Da machen sich die sympathischen Damen und Herren dann wirklich zum Deppen. Und es nützt auch nichts, dass sie sich gegen Ende höchst theatralisch gegen derlei Schwachsinn zu wehren beginnen. Zu spät.

Eine persönliche Anmerkung

Noch mal und ganz im Ernst: Dass die herrliche 91-Jährige nicht nur dem KZ entgangen ist, sondern heute den Computer und die sogenannte Weltsprache Esperanto bevorzugt, dass der frühere Teppichhändler und Hobby-Fünfkämpfer heute für die CDU streitet, seine Kollegin auf der Bühne aber für "linke Initiativen"; dass einer erzählt, wie er den Springer-Verlag in Hamburg boykottieren half und der andere davon, wie er "Stolpersteine" für schwule NS-Opfer vor Hamburger Häusern platzierte – ganz toll ist das alles, wunderbar, unbedingt nachahmenswert. Aber muss darüber wirklich geredet werden, in platitüdeligstem Gutmenschen-Deutsch überwiegend, öffentlich, vor zahlendem Publikum? Tut mir leid: ich finde nicht. Ich finde, dass derlei pädagogisch-therapeutische Veranstaltungen ins Freizeitheim gehören. Zum Unkostenbeitrag.

Und wo doch alle an diesem Abend schon so persönlich werden, sei auch dies noch gesagt: Mein Vater starb vor Jahresfrist; aber ich weiß, wie hochnotpeinlich ihm jede halbwegs öffentliche Erwähnung all der kleineren und größeren Unterstützungen gewesen wäre, die er gern mit vollen Händen verteilt hat. Gutes tun und nicht drüber reden – auch das ist ein Motto. Noch eins: In jenem ziemlich noblen Altenstift, wo er zum Schluss wohnte und meine Mutter weiterhin wohnt, gibt's auch eine Seniorentheatertruppe. Eine Aufführung im Gemeinschaftssaal würde ich mir vielleicht ganz gern ansehen – im größten Schauspielhaus des deutschsprachigen Raums aber fände ich auch diese Truppe eher deplatziert.


Die Kümmerer
Dokumentartheaterprojekt mit Menschen aus Hamburg [60+]
Regie: Markus Heinzelmann, Bühne: Jan Müller, Kostüme: Anne Buffetrille, Musikalische Leitung: Vicki Schmatolla, Künstlerische Mitarbeit: David Gieselmann, Licht: Rebekka Dahnke.
Mit: Sonja Barthel, Uwe Bartholl, Jürgen Engel, Ulrike Haeselich, Addi Janssen, Rolf Mico Kaletta, Klaus Köpke, Rainer Losereit, Ursel Mazkouri, Heinrich C. Möller, Elena Nikolov, Helga Rohbohm, Evamarie Scheibe, Henry Schönewald, Jan Thiem, Walger Wagner, Wofgang Grätschus, Manfred Noll, Art Regis, Dieter Horns, Kai Röpstorff.

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Das Problem dieses Theaterabends, heißt es im Beitrag von Elske Brault für die Sendung Fazit auf Deutschlandradio (5.10.2008), sei, dass die Laien ihren eigenen Text auswendig lernen müssten. So sei es bereits bei Jacqueline Kornmüllers Vorgängerprojekt gewesen. Die Darsteller würden, wie es die Theaterkritikerin Sophia Stepf formuliert habe, zu "schlechten Imitatoren ihrer selbst" - doch Regisseur Markus Heinzelmann fände es wichtig, dass sie selbst ihre Vorbildfunktion ausüben.

"Erwartungsgemäß entzieht sich das Projekt weitgehend den Maßstäben der Kritik - man begegnet schließlich echten Menschen", schreibt msch im Hamburger Abendblatt (7.10.2008). Und zwar "Senioren, die sich um jemanden oder etwas kümmern, um singende Kinder oder vernachlässigte Gefängnisinsassen." Aber ist das Theater der richtige Ort, um einem Ü-60-Jährigen zu applaudieren, der noch Liegestütze kann? fragt der Rezensent. Die auffällige Selbstbezogenheit der Alten auf der Bühne hinterlasse "einen Beigeschmack", das aber bei einem Abend, "der den Beteiligten viel Mut abverlangt und dem Premierenpublikum großen Applaus entlockt hat."

 

Kommentare  
Die Hamburger Kümmerer: unterhaltsam und berührend
Ich finde diese Menschen gehören sehr wohl auf die Bühne. Vor allem wenn sie so sympathisch, energiegeladen und unverstellt zu erleben sind, wie bei den Kümmerern im Deutschen Schauspielhaus. Ich genieße Theater und große Literatur und finde die Bühne gehört vornehmlich den Schauspielern.Aber es war für mich, und ich hatte das Gefühl für die meisten Zuschauer, ein unterhaltsamer, sehr emotionaler und berührender, Abend (Ich und die meisten Zuschauer, standen sogar beim Schlußapplaus). Diese 15 Menschen zu erleben, zu wissen, dass sie ihre eigenen Geschichten erzählen, hat eine ganz eigene Qualität und hat meiner Meinung nach in dem doch oft elitären Theaterbetrieb ganz gut Platz. Mir hat es auf jeden Fall sehr gut gefallen.
Die Hamburger Kümmerer: theatralisches Statement
Mir schien - als seit Jahrzehnten regelmässige Theaterbesucherin - die Form des ganzen Abends als ein klares theatralisches Statement. Und nicht als zufälliges Gut-Menschliches Kunstversagen (Gut-Mensch - sowieso ein Wort, das aus der Theaterkritik verbannt gehört).
Markus Heinzelmann hat sich offenbar dazu entschieden, die Darsteller nicht zu benutzen. Für einen Regisseur seines Kalibers und seiner Erfahrung bestimmt nicht eine leichte Entscheidung. Ich bin entäuscht darüber, dass eine ernstzunehmende Theaterkritik dies nicht als künstlerisches Angebot wahrnimmt, sondern bloss als Schwäche.
Die Hamburger Kümmerer: Talkshow-Format mit anderen Mitteln
Ich habe diesen speziellen Abend in Hamburg nicht gesehen, gebe aber zu, dass mir der Kritiker aus der Seele gesprochen hat. Schon die Talkshows im Fernsehen überrennen einen mit 100ten von Geschichtchen, die alle nett und respektabel sein mögen, die aber ungefasst kaum von Interesse sind. Warum nun also das Talkshow-Format mit leicht veränderten Mitteln auf das Theater übertragen? Klar, man kann das machen, man soll ja nichts verbieten, aber man darf auch sagen, dass es herzlich uninteressant ist. Das gilt übrigens auch für vieles von Rimini Protokoll, das maßlos überschätzt wird. Bei der von dem Kritiker beschriebenen Art von Veranstaltung fühlen sich vielleicht deswegen so viele Leute so wohl, weil sie das sehen, was sie aus dem Fernsehen schon kennen.
Die Hamburger Kümmerer: Mutig! Echtes Leben!
Ich habe die Premiere am Sonntag gesehen, und mir hat es gerade deshalb so imponiert, weil sich einmal mutig nicht verstellt wurde. Die Darsteller haben das wahre Leben verkörpert und mutig, politisch und engagiert ihre eigenen Geschichten vertreten. Ich kann die Vorstellung als sehr gelungene Interpretation des echten Lebens nur empfehlen.
Die Hamburger Kümmerer: Was man erinnert, ist Kunst
Im letzten Satz sagt Michael Laages, worum es ihm eigentlich geht: in das größte Schauspielhaus des deutschsprachigen Raumes gehört eine solche "Laienveranstaltung" nicht.
Man mag auch darüber streiten, ob mit Blut übergossene Riesenplastikbrüste hierher gehören, wenngleich solche Experimente von "Kritikern im engeren Sinne" als modernes Theater bejubelt werden.
Anderswo las ich eine einfache, aber einleuchtende Definition von Kunst: was man erinnert, ist Kunst, alles andere Entertainment. Ich fand diesen Abend unvergeßlich.
Hamburger Kümmerer: Wer gehört auf die Bühne?
Sehr geehrter Herr Michael Laages,

beim Lesen Ihrer Kritik, zu diesem sehr menschlichen Stück, kann ich Ihnen nur in einem einzigen Punkt Recht geben. Sie schreiben,

Zitat: „Eins vorweg, der Theaterkritiker im engeren, vielleicht auch ein bisschen beschränkten Sinne hat an diesem Abend im Theater eigentlich nichts zu suchen.“ Zitat Ende.

Wie Recht Sie damit haben! Und ich wünschte, Sie wären einfach mit Anstand gegangen, anstatt diesem Stück und seinen mitwirkenden Menschen Unrecht anzutun!

Weiter bemängeln Sie fehlende Poesie und mangelnde schauspielerische Fähigkeiten, sowie fehlende Gleichnisse – nur Alltag in Splittern!

Ich frage mich, ob Sie das Stück überhaupt begriffen haben. Dieses Stück wird mit dem Herzen und nicht mit dem Kopf verstanden. Aber Ihr Herz haben Sie anscheinend an diesem Abend ausgeschaltet.

Es ist und war beabsichtigt keine Schauspieler, sondern menschliche Originale auf der Bühne wirken zu lassen, die allesamt ihre eigenen, mehr oder minder ergreifenden Lebensgeschichten erzählen. Und das Leben von so vielen unterschiedlichen Menschen, dann auch nur auszugsweise, lässt sich unverfälscht nun einmal nicht "splitterfrei" darstellen.

Die größte Frechheit allerdings, die Sie sich erlauben und, die Sie meines Erachtens als Mensch in kein großes Licht stellt ist Ihr folgendes Zitat:

Zitat Anfang: "Ärgerlich ist vor allem der Grundgedanke, die (wenn´s denn eine sein soll) "Idee des Abends" – die nämlich Menschen aus der Nachbarschaft auf die Bühne zu stellen, die davon erzählen, wie prima fit sie noch sind und was für gute Taten sie tun." Zitat Ende.

Sie meinen also, dass diese Menschen nicht auf die Bühne gehören?! Wer hat Ihrer Meinung nach das Recht auf der Bühne zu stehen? Glauben Sie wirklich, dass 23 Millionen ehrenamtlicher Helfer in Deutschland – die stets etwas Gutes tun, nicht das Recht haben, dass Ihrer Arbeit eine Plattform angeboten wird?

Sie selbst, und das betonen Sie ja mehrfach (soviel zu der Anrüchigkeit der Selbstdarstellung, die Sie verurteilen), stammen aus gehobenen Verhältnissen (Vater bis zum Tode in einer „ziemlich noblen“ Seniorenresidenz, die Mutter noch heute, hätte es nie gewagt etwas über seine guten Taten zu erzählen..etc.). Die Menschen auf der Bühne stammen eben zumeist nicht aus guten Verhältnissen, sondern hatten es zumeist sogar eher schwer im Leben – und dennoch tun sie Gutes und setzen sich selbstlos für andere ein. Das ist allemal lobens- und erwähnenswert. Gutes zu tun, wenn man selbst gut da steht im Leben ist einfach – und dient oft genug nur der Beruhigung des eigenen Gewissens. Nichts gegen Ihren Vater, der sicherlich ein toller Mensch war, aber Ihre schamlose Ver- und Beurteilung der Menschen und Darsteller in diesem Stück – und es ist eben kein Stück, sondern das Leben, ist absolut unerhört und fachlich, wie sachlich nicht tragbar.

Nun zu dem Kommentar von Herrn: „Pan Athinaikos“:

Wer sich zu einer Sache kritisch äußert, die er selbst nicht – und das geben Sie ja offen zu, gesehen hat, ist genau wie die Masse der Menschen, die er selbst verurteilt – nämlich der Talkshow Konsument und Bildzeitungsleser. Sich anhand von Schlagzeilen zu orientieren und es des Abends in der Kneipe am Eck als seine Weisheit präsentieren, dass ist, was Sie hier tun.

Wer es nicht verstanden hat, dem sei es hier nochmals erklärt: Das Format der Castingshow wurde gewählt – um zum Ende der Vorstellung noch einmal deutlich zu machen, dass man Menschen nicht in derart Formaten „verwursten“ darf. Und die Anspielungen auf dieses Format „Castingshow“ nahm von der 2-stündigen Aufführung grade mal 10-15 Minuten in Anspruch.

Ich wünsche mir definitiv mehr solcher Aufführungen. Und ob diese für die Bühne zugelassen sind, oder in einem Freizeittheater aufgeführt werden sollen – das bestimmen Gott sei dank, nicht Sie, lieber Her Laages, sondern das zahlende Publikum, dass sich aussuchen kann was es sehen möchte.

Hochachtungsvoll, André Heinrichs
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