Matrosenaufstand - Die Gruppe Limited Blindness zeigt Historie im Dunkeln
Revolution im Kopf
von Jens Wellhöner
Kiel, 3. September 2008. Theater im Dunkeln, geht das überhaupt? Anderthalb Stunden in völliger Finsternis auf einem Stuhl sitzen, Schauspieler hören, die man nicht sieht? Es funktioniert, und zwar sehr gut. Die freie Berliner Theatergruppe Limited Blindness bewies es mit ihrem Stück über den Matrosenaufstand von 1918 im Kieler Flandernbunker.
Am Anfang ist man als Zuschauer einfach nur irritiert. Der Aufführungsraum ist komplett abgedunkelt, man geht im Gänsemarsch zu den Sitzen und fasst sich dabei wie bei einer Polonäse gegenseitig an die Schultern, um nur ja nicht den Kontakt zum Vordermann und damit die Orientierung in der Dunkelheit zu verlieren. Vorneweg gehen Mitglieder des Blinden- und Sehbehinderten-Vereins Schleswig-Holstein als Führer, und sie geleiten tatsächlich jeden sicher zu seinem Platz.
Zeitreise in die Nacht
Derart wohlbehütet angekommen, muss man sich erst einmal an die undurchdringliche Finsternis gewöhnen, die einen die nächsten anderthalb Stunden auch nicht mehr los lassen wird. In den Klauen der eigenen Angst vor der Dunkelheit, merkt man erst gar nicht, dass es längst losgegangen ist. Ein Akkordeon spielt auf, erst ganz leise, dann immer lauter. Dann schmettert ein veritabler Basssänger (Hans-Georg Ahrens von der Kieler Oper) ein Loblied auf Kaiser Wilhelm II. Und mitten hinein geht es, in das Jahr 1918.
Das Stück "Matrosenaufstand" ist eine Zeitreise zu den revolutionären Ereignissen in Kiel am Ende des 1. Weltkrieges, die zwischen Oktober und November 1918 Geschichte schrieben. Damals befahl das Oberste Flottenkommando einen letzten, "heldenhaften Endkampf" aller deutschen Kriegsschiffe gegen die überlegene britsche Royal Navy. Ein Himmelfahrtskommando, diktiert vom Ehrgefühl preußischer Offiziere nach der Devise: "Lieber heldenhaft sterben als schmählich leben." Aber die Offiziere hatten die Rechnung ohne ihre Untergebenen gemacht.
Rebellion in der Provinz
Der Befehl zum Auslaufen wurde verweigert, im Marinehafen Kiel wurden die Offiziere entwaffnet, die Matrosen rotteten sich zusammen, zogen demonstrierend durch die Stadt. Und irgendwann hissten sie gemeinsam mit Fabrikarbeitern die rote Fahne der Revolution. Schnell wie ein Flächenbrand breitete sich die Nachricht vom Aufstand im ganzen Deutschen Reich aus. Die Erhebung fand rasch Nachahmer. Überall im Land wurden Arbeiter- und Soldatenräte gegründet. Sogar im katholisch-konservativen Bayern. Und Kaiser Wilhelm II. mußte schließlich abdanken, am 9. November 1918. Deutschland wurde das erste Mal in seiner Geschichte eine Republik. Die Zeit der Weimarer Republik begann.
An ihrem Anfang stand die Rebellion in der Provinz, eben in Kiel. Und genau die will das Gruppe Limited Blindness dem Publikum vor Augen führen. Genau, vor Augen, denn das Theater im Dunkeln soll dem Zuschauer die Möglichkeit geben, sich aus Geräuschen und Texten ein eigenes Bild der Ereignisse von 1918 zu machen, unbeeinflusst von Kostümen oder Gesichtern der Schauspieler. Kino im Kopf, das ist die Devise an diesem Abend.
Das Stück gehört in eine Serie von Produktionen, die unter der Überschrift "Kino der Freiheit" in völliger Dunkelheit historische Stoffe mit Freiheitsbezug an historischen Orten verhandeln. 2001 hat sich das Ensemble in Berlin gegründet, das neue, experimentelle Wege gehen wollte.
Tagebuch eines Schiffsingenieurs
"Matrosenaufstand" ist eine Collage aus Zeitzeugenberichten, die die Schauspieler zum Teil selber aus den Archiven geholt haben. Das Tagebuch eines Schiffsingenieurs bildet das Grundgerüst der Handlung. Mit gedehnt-quäkiger Stimme zitiert ein Schauspieler im Rücken des Publikums die Eintragungen, in dem der Matrose scheinbar unbeeindruckt und lakonisch das Wetter, die Windrichtung und die wichtigsten Ereignisse in Kiel und im Deutschen Reich notiert, Tag für Tag.
Neben, vor und mitten im Publikum agieren die übrigen drei Schauspieler, flüstern und schreien die Berichte der Augenzeugen, versetzen sich in die Situation der Revolutionäre. Dazu hört man Schiffsmotoren, wie in einem Hörspiel. Und tatsächlich – im Kopf des Zuhörers entstehen durch die Worte und Geräusche Bilder: Von wütenden Demonstranten, ängstlichen Offizieren und verwirrten Kieler Bürgern, die nicht begreifen können, was in ihrer kaisertreuen Stadt auf einmal geschieht.
Im Bunker wird es stickig
Eine Illusion, die nur im Kopf des Zuhörers Gestalt annimmt, ganz nach dem Plan von Regisseur Heiko Michels und Dramaturg Fabian Larsson. Sie haben die Zeitzeugenberichte geschickt miteinander verwoben, zu einem in sich meist stimmigen Ablauf, der auch dem historisch unbeleckten Zuschauer bzw Zuhörer die Ereignisse von 1918 verständlich macht. Dabei verkommt das Stück aber nie zum Geschichtsunterricht, dafür agieren die Darsteller viel zu emotional. Und die beklemmende Atmosphäre in einem stockdunklen Luftschutzbunker, gleich neben dem Marinehafen (einen besseren Ort für das Thema gibt es wohl nicht) tut ihr Übriges.
Nur am Schluss hat der Abend seine Längen. Nach etwa 70 Minuten ist im wahrsten Sinne die Luft raus. Im Bunker wird es stickig, die Revolution ist längst vorbei. Aber die Darsteller deklamieren noch fast fünfzehn Minuten aus dem Tagebuch des Schiffsingenieurs. Aber sei's drum, wer keine Angst vor Dunkelheit hat, experimentelles Theater und Hörspiele liebt, ist beim Kieler "Matrosenaufstand" an der richtigen Adresse.
Matrosenaufstand
von Limited Blindness
Regie: Heiko Michels, Dramaturgie: Fabian Larsson, Musik: Juri Petrich. Mit Caroline du Bled, Thomas Gerber, Martin Heesch, Frank Schweewe und Hans Georg Ahrens (Gesang) und Mitgliedern des Blinden- und Sehbehindertenvereins Schleswig-Holstein.
www.limited-blindness.eu
www.matrosenaufstand.de
Kritikenrundschau
Jens Raschke von den Kieler Nachrichten (5.9.2008) findet (was im Print oder online auf der Seite der Veranstalter lesbar ist), dass man schon "eisernen Durchhaltewillen" bräuchte, um nicht nur 80 Minuten in völliger Dunkelheit, sondern auch noch ununterbrochenen Geschichtsunterricht in den verschiedensten Textformen auszuhalten: Ein "lebendiges Hörstück zwischen expressivem Pathos, sperrigem Formalismus und norddeutscher Drögheit". "Höhepunkte" hätte die Inszenierung zwar, "wenn es mal nicht um das pflichtbewusste (...) Abarbeiten der Chronologie geht", sondern "im Dunkeln tatsächlich greifbare Figuren entstehen". Den Eindruck des konstanten Belehrtwerdens kann dem Kritiker jedoch weder dies noch die musikalische Seite des Abends nehmen: das zum "sanft wogenden Akkordeon" von Kammersänger Hans Georg Ahrens vorgetragene zeitgenössische Liedgut. Ganz "naseweis" werde am Ende dann auch noch das Deutschlandlied mit dem "Tingeltangel der anbrechenden 'Goldenen Zwanziger'" vermischt.
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Leider ist außer vollständiger Dunkelheit als Clou nicht viel übrig geblieben.
Die Akteure waren laut, schrill und schrecklich und leider nicht frei von Sprachfehlern und nicht zu versteckenden Akzenten. Wieso muss man dann noch probieren, Dialekte zu imitieren, die man nicht kann? Wieso wird versucht, dem Sprechakt noch zusätzlich Künstlichkeit aufzusetzen, die den Text langweilig und sinnentleert macht? Was ist die Botschaft, wenn es denn eine geben soll? Über die innere Haltung der Matrosen, die Kriegsmüdigkeit erfuhr ich wenig. Da interessiert mich dann auch die letzte Viertelstunde gar nicht mehr, wenn es in Zeitsprüngen hin und her über den Spartakusbund und die Folgen in Berlin geht. Die peinlichen Witzchen der Darsteller, die ein Regisseur auch noch erlaubte, vielleicht sogar förderte, haben das Maß für mich voll gemacht.
Ich hätte gerne etwas über das Thema erfahren - so aber nicht!
Genau die Momente, in denen Sie sich hier angegriffen fühlen, waren doch die Spannungsmomente... hier zerbrach die offizielle Geschichtstaktung und der Akt der Repräsentation. Es ist doch denkwürdig, wenn bei einem Stück, das um den 1. Weltkrieg kreist, ein französischer Akzent der Darstellerin "stört". Genau an Störmomenten, wo die extrem sensibilisierte Wahrnehmung flackert, wurde die Inszenierung virulent. Die Aufführung schafft es, aus historischen Momenten Erfahrungen des jetzt zu organisieren. Die Gruppe inszenierte für mich perfekt das Spiel zwischen Präsenz und Repräsentation, zwischen Historie und dem Anspruch, heute sich historisch zu verorten - mit den spezifischen Bedingungen des Mediums Theater. Theater - auch und gerade im Dunkeln - ist kein Geschichtsunterricht!
Das soll also "zeitgenössisches Theater" gewesen sein? In der Hörfunkästhetik des 60er-Jahre-Schulfunks? Na vielen Dank!
Was man da alles so reinfühlen, -hören und -denken kann - der Mensch ist schon ein wundersames Tier! "hier zerbrach die offizielle Geschichtstaktung und der Akt der Repräsentation" - "aus historischen Momenten Erfahrungen des jetzt [dito!] zu organisieren" - "parallel zur Geschichte" - "heute sich historisch verorten" - vor solch rhetorischem Unfug kann ich nur kapitulieren! "Denken, dann spielen" gilt fürs Theater genauso wie beim Verfassen von Kritikkommentaren: Denken, dann schreiben! Schön, dass der Abend wenigstens dazu angeregt haben soll, zu mehr hat es nicht gereicht? Bei mir jedenfalls hinterläßt es den Eindruck eines unausgegorenen, pseudo-reflektiven Events, das mit Theater, vor allem mit Zeitgenossenschaft, wenig zu tun hat!
da muss ich Sie doch enttäuschen: Das Einzige, was mich nachhaltig beschäftigt, ist die Beliebigkeit, mit der man sich alles schön redet, und der mangelnde Skeptizimus. Und darüber wurde hier geschrieben, falls Sie die Antworten hier richtig gelesen haben.
Den Ärger über den unreflektierten Abend habe ich schnell vergessen. Den Ärger über den Unfug, der hineininterpretiert wurde, leider nicht. Aber das scheint ja inzwischen normal zu sein, den kritischen Diskurs zu fliehen durch aufgeblasene Phrasendrescherei und Betroffenheit. "Dunkelheit war da ... Medium" - grossartig! Ich dachte, Sprechen war das Medium. Aber vielleicht habe ich das Wort falsch verstanden. Im Übrigen steht die Verweigerung von Theater im Verdacht, selbst kein Theater mehr zu sein, und das hat nichts mit Illusionstheatergetue (das Wort schreibt man tatsächlich so und nicht anders!) zu tun. Wieso spielt man denn dann Maschinenmotoren ein und tut an vielen Stellen eben doch so, als identifiziere man sich mit der Rolle? Mal so, mal so, wie es dem Herrn Regisseur (ein ungeschützter Begriff, der heutzutage keine Qualifikation braucht) gefällt.
Da wird es inkonsequent, weil unreflektiert. Ein Gemischtwarenladen der Mittel ohne Inhalt.
5. 11. - 9. 11. jeweils 20:00 im Flandernbunker Kiel.
Karten können ab jetzt reserviert werden. Im Februar sind Aufführungen in München (Gasteig) in Planung.
Wir freuen uns über den anregenden Disput hier!
Genial fand ich persönlich die Kombination von Raum = kaputtem Bunker und dem dazu passenden Inhalt, dessen Wahrnehmung nicht durch Festlegung auf konkrete Personen eingeschränkt wurde. Super!
Und es freut mich sehr, dass das Stück weiter gespielt wird!
www.abendblatt.de/daten/2009/03/14/1085408.html
(kann aus technischen Gründen hier leider nicht verlinkt werden. die red.)