Sofie im Wunderland

von Max Florian Kühlem

Kiel / online, 8. April 2021. "Alice" – dieser Titel ist Verheißung und Drohung zugleich. Wofür musste Lewis Carrolls Geschichte über ein Mädchen aus gutem Hause, das durch ein Kaninchenloch in das Wunderland purzelt, nicht schon alles herhalten? Für unzählige Fortschreibungen, Parodien, Verfilmungen und natürlich Bühnenadaptionen, die mal handzahm, mal morbide daher kommen und manchmal mit Musik von Tom Waits. Das Theater Kiel hat jetzt seinen Theaterfilm "sehr frei nach Lewis Carroll" online gestellt, der in das Loch schaut, in das Kulturmenschen im Lockdown gerne mal fallen.

Falten im Green-Screen

Theater und Film, das sind ja eigentlich zwei verschiedene Kunstformen, die den Status ihrer Ausdifferenzierung sonst auch gern beibehalten und wortreich verteidigen. Wenn die Politik das Spiel vor Publikum verbietet, bleibt Theater-Regisseur*innen allerdings nicht viel übrig als zu Film-Regisseur*innen zu werden. Anna-Elisabeth Frick tut für ihre erste Arbeit am Schauspiel Kiel erstmal gut daran, nicht dem Kino (oder für die, die sich nicht mehr erinnern: den Streaming-Anbietern) Konkurrenz machen zu wollen. Ihr "Theaterfilm“ ist keine mit Kameras eingefangene Inszenierung auf der Theaterbühne, aber auch kein Spielfilm. Er ist eine Art Werkstatt-Einblick, Bewegtbild-Brainstorming, eine Alice-Collage.

Alice1 560 TheaterKielIt's Teatime mit der verdreifachten Alice: Jennifer Böhm, Ellen Dorn, Tiffany Köberich © Theater Kiel

Drei Schauspielerinnen sind Alice und geben sich in mehreren Kapiteln freien Assoziationen zu Fragen hin, die sich Carrolls Leser*innen stellen könnten: Was passiert, wenn ich falle? Woher weiß ich, dass ich verrückt bin? Bin ich noch dieselbe, die ich war, als ich heute Morgen aufgestanden bin?

Physikalische Schwarze Löcher

Jennifer Böhm, Ellen Dorn und Tiffany Köberich sind also nicht bloß Alice im Wunderland, sondern auch Sofie aus Sofies Welt und stellen sich die großen Fragen der Existenzphilosophie. Sie tun das an den Orten, an denen die Pandemie spielt: Im mehr schlecht als recht mit Requisiten verhüllten privaten Raum ("Das ist mein Refugium. Hier fühle ich mich sicher. Wirke ich sicher?" sagt eine Darstellerin), draußen oder vor dem Green Screen – den die digitale Technik bekanntlich in jeden Ort der Welt verwandeln kann. Sie tut es bloß nicht.

Alice2 560 TheaterKielEinblicke ins eigene Refugium: "Alice" © Theater Kiel

Der Green Screen bleibt grün und wirft Falten – wahrscheinlich ist er bloß ein Bettlaken. So hat Anna-Elisabeth Fricks Film, für den auf der Theaterseite keine Video-Editoren oder Kameramenschen ausgewiesen sind (ein digitales Programmheft wird auch nicht verschickt), den Charme des Unperfekten, Selbstgemachten, Improvisierten. So wie unsere Existenz, könnte man wohlwollend anführen.

Wir beobachten die drei Alice bei charmanten Amateur-Filmtricks: Sie kommen wieder und wieder hinter einem Baumstamm hervor gelaufen als hätten sie sich wundersam vermehrt. Eine geht in großer Langsamkeit über eine Fußgängerbrücke und im Zeitraffer sieht es so aus, als würde der Rest der Welt an ihr vorbeirasen. Das sind bildliche Entsprechungen für Lewis Carrolls Wunderland, in dem die Gesetze der Physik und der Logik nicht mehr gelten, die man ohne großes Budget haben kann.

Einsame Inseln

Aber es geht hier wie gesagt offenbar auch nicht um filmische Opulenz, kann es gar nicht gehen. Es geht um die Bebilderung der Verrückung, die eine Welt im Ausnahmezustand besorgen kann: "Wer bin ich denn", fragt sich Alice bei der improvisierten Tee-Party, zu der der Film immer wieder zurück findet: "Zu allererst bin ich ein Mensch", fällt ihr dazu ein. Dann, dass sie ja ein gesellschaftliches Wesen ist: "Wie würde ich mich auf einer einsamen Insel verhalten? Wenn ich mich so hinsetze, denkt ihr ja schon hunderttausend Sachen über mich." Und schließlich, dass unsere Realität möglicherweise nur von uns selbst konstruiert ist: "Zitiere ich mich die ganze Zeit selbst? Bin ich eine wandelnde Energie, geleitet durch das Universum?"

Es ist nicht ganz uninteressant, solchen Gedankenspielen zu folgen, wie durch die Löcher im gewohnten Tagesablauf (Kino zu, Theater zu) in die eigene Wunderwelt zu fallen. Doch über die reine intellektuelle Beschäftigung hinaus, die auch ein Hörstück hätte bereit halten können, bietet dieser Theaterfilm nichts: kein gutes Schauspiel, keinen roten Faden einer irgendwie gearteten Geschichte, keine gelungene performative Ausarbeitung einer motivischen Verdichtung – und auch keine Bilder, die mehr sagen als: Lockdown-Tristesse, in Kiel wie überall.


Alice
Uraufführung
Theaterfilm sehr frei nach Lewis Carroll
Regie: Anna-Elisabeth Frick, Ausstattung: Martha Pinsker, Dramaturgie: Elisa Elwert.
Mit: Jennifer Böhm, Ellen Dorn, Tiffany Köberich.
Online-Premiere am 8. April 2021 am Theater Kiel
Dauer: 50 Minuten

www.theater-kiel.de

 

Kritikenrundschau

"Anna-Elisabeth Frick nutzt die Mittel des Films und lässt dem Theater seinen Raum", schreibt Ruth Bender in den Kieler Nachrichten (10.4.2021). "So entsteht ein anarchisch poetisches Spiel mit den Mglichkeiten, in dem die drei Schauspielerinnen den Raum ganz befreit erobern und erweitern. (…) Und auch, wenn das Assoziationstheater am Ende ein wenig in der Endlosschleife steckenbleibt – gerade die Uferlosigkeit macht Laune, und wie hübsch die Welt dabei aus den Fugen gerät."

"Das Chaos aus bewegten und starren, stummen und tönenden Bildern ist schwer zu durchdringen – bleibt allerdings spannend bis zum Schluss", schreibt Sabine Christiani in den Zeitungen des Schleswig Holsteinischen Zeitungsverlags (10.4.2021). "Auch wenn der poetische Zauber der Romanvorlage sich nicht so recht einstellen will: Einen großen Applaus hätten die drei Schauspielerinnen (…) unbedingt verdient."

Kommentare  
Alice, Kiel: Gedankensplitter
Treffende Nachtkritik zu einem assoziativen Theaterfilm, der seine schwierigen Lockdown-Produktionsbedingungen überdeutlich ausstellt und Gedankensplitter an Gedankensplitter reiht, dabei auf einen Plot bewusst verzichtet.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/04/08/alice-theaterfilm-kiel-kritik/
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