Schnee im Sommer

von Katrin Ullmann

Kiel, 1. Juni 2018. Das Sofa ist schäbig und durchgesessen, das Blumenmuster von vorgestern. Großmutter (Claudia Macht), Mutter (Ellen Dorn) und Tochter (Claudia Friebel) sitzen darauf, blicken wortlos ins Publikum. Stop, nein, da ist noch einer, der Freund der Tochter. Begeistert springt er manchmal vom Sofa auf. Immer dann, wenn er von seinen Beobachtungen erzählt. Nervös, stolz und herrlich aufgeregt. Zuletzt hat er eine Schneeflocke gesehen, mitten im Sommer. Bei fünfunddreißig Grad. Man stelle sich das vor! Aus dem Nachthimmel war sie gefallen und dann sanft zum Fenster hereingeweht, um schließlich auf dem nackten Knie seiner Freundin zu landen. Die hatte ja nur ein kurzes Kleid an. Die Freundin hatte aufgeschrieen vor Schreck, die Schneeflocke war geschmolzen.

Stift, Paket und Großvater

Den drei Frauen auf dem Sofa kommt diese Geschichte recht spanisch vor. Verlegen gucken sie zur Seite, wenn sich der junge Mann (Jasper Diedrichsen) ereifert, rutschen abwechselnd von einem Oberschenkel auf den anderen. Sie schmunzeln, fast unbemerkt, über seine Fantasie, über diese merkwürdige Poesie. Sie wirkt irgendwie fehl am Platz in dieser ärmlichen Umgebung, in ihrem schlichten Leben.

Doch vermutlich hat der junge Mann zu diesem Zeitpunkt schon den Kugelschreiber gefunden, jenen magischen Stift, der aus einfachen Worten grandiose Gedichte zaubern kann. Der Kugelschreiber wiederum war mit dem Paket gekommen. Jenem Paket, auf das der Großvater 42 Jahre lang gewartet hatte. Das Paket ist also endlich da, der Großvater hingegen wird das ganze Stück über nicht auftauchen.

StrassederAmeisen2 560 Olaf Struck u"Die Straße der Ameisen" in Kiel: Magisches Erzählen vom Rand aus  © Olaf Struck

Das Stück, "Die Straße der Ameisen", hat Roland Schimmelpfennig geschrieben. Mit seinen zahlreichen spanisch-karibischen Anklängen spielt es vielleicht im kubanischen Havanna, der Wahlheimat des Autors und dem Ort der Uraufführung des Stücks (in Eigenregie). Die deutsche Erstaufführung des viel gespielten deutschen Dramatikers inszeniert Ulrike Maack nun in Kiel.

Omnipräsente Abwesenheit

Ganz absichtlich bleibt in Schimmelpfennigs Drama so einiges ungeklärt: nicht nur die omnipräsente Abwesenheit des Großvaters und die wundersame Schneeflocke im Sommer. Der Autor nimmt sich insgesamt viel Raum für Fantastisches, Surreales, Magisches. Beim Lesen denkt man an Márquez, an Haratischwili, an Almodóvar.

Im Aufbau recht vorhersehbar erzählt Schimmelpfennig eine kleine Familiensaga und drumherum zahlreiche Geschichten aus der Nachbarschaft. Deren Protagonisten sind: betrogene Ehefrauen, betrunkene Busfahrer, schöne Gemüseverkäuferinnen, uniformierte Polizisten, dicke Krankenschwestern, Prostituierte aus Geldnot und ein nachdenklicher alter Mann, der Großvater. Die Klischees umspielt Schimmelpfennig sprachlich so charmant, dass man sie gerne überliest. Und, auf der Bühne erzählt, werden sie – das ist ja das Herrliche an Klischees – sofort und schnell zu Bildern im Kopf.

Die Bild-Erstellung überlässt Ulrike Maack klugerweise den vier Darstellern. Abwechselnd erzählen sie von ihren Sehnsüchten, ihren Wünschen, den letzten Ereignissen der Telenovela und der kaputten Waschmaschine der nervigen Nachbarin. Sie fallen sich freundlich ins Wort, ergänzen abgebrochene Sätze, schildern Erlebtes und Gesehenes, träumen von Vergangenem und Verpasstem. Sie machen das allesamt großartig, rührend und berührend. Meist sitzen sie dabei einfach auf dem Sofa, das der Bühnenbilder Lars Peter vor den eigentlichen Bühnenraum gerückt hat. Dort hinten liegt jede Menge Plastik, das bei goldenem Licht zu glitzern beginnt.

Er kann zaubern

Dass die Figuren aus Schimmelpfennigs Stück sich ebenfalls eine glitzernde Welt wünschen, ist offenkundig. Und zunächst beschert ihnen der Inhalt jenes mysteriösen Pakets – der eingangs erwähnte poetische Kugelschreiber, außerdem ein Löffel der tausend Geschmäcker, eine blonde Zauberperücke, ein Kalender der Vergangenheit, ein Glas, das nie leer wird –, all das: Reichtum, Erfolg und magische Kräfte. Später jedoch – wie soll es anders sein? – stellen sie fest, dass man sich von all diesen Dingen weder Glück noch Liebe kaufen kann. Doch das Paket, die Büchse der Pandora ist da schon weit, ganz weit geöffnet.

Es liegt an der liebevollen Figurenzeichnung, die Ulrike Maack durchgängig zelebriert, an den kleinen, fein gesetzten Gesten der Schauspieler, den genau gearbeiteten Szenen und an der ingesamt zurückhaltenden, heiteren Inszenierung, dass aus Schimmelpfennigs dramaturgisch eher schwachem Stück, schließlich eine gelungene deutsche Erstaufführung wird. Allein nicht zu vergessen, die Sprache. Mit ihr kann Schimmelpfennig zaubern und eine liebenswerte Leichtigkeit gewinnen. In die sich Ulrike Maack mühelos einhakt.

 

Die Straße der Ameisen
von Roland Schimmelpfennig
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Ulrike Maack, Bühne: Lars Peter, Kostüme: Irmgard Kersting, Musik: Matthias Schubert, Dramaturgie: Jens Paulsen.
Mit: Ksch. Claudia Macht, Ellen Dorn, Claudia Friebel, Jasper Diedrichsen.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause  

www.theater-kiel.de

 

 

Kritikenrundschau

Andrea Ring von NDR 1, Welle Nord wusste offenbar schon nach der Generalprobe (online 31.5.2018), dass die Inszenierung "etwas mehr Dynamik" und "mehr Regieeinfälle" hätte vertragen können.

"Zwischen Traum und Realität bringt Ulrike Maack das 2015 in Havanna uraufgeführte Stück zum Schweben", schreibt Ruth Bender in den Kieler Nachrichten (2.6.2018). Mit minimalen Mitteln male die Regisseurin das Familienporträt aus zu einer Fabel von Sehnsucht und Enttäuschung, mache "das märchenhaft Irreale darin so selbstverständlich wie den Realismus, und so hebt dieser kleine intensive Abend immer wieder locker ab."

Schimmelpfennigs Stück "erzählt von Wünschen und Begierden, von Verführbarkeiten und deren ungebetenen Konsequenzen, wirft Fragen zu Glück und Reichtum auf – und verzichtet auf plakative Antworten", schreibt Sabine Christiani in der Schleswig-Holsteinischen Zeitung (4.6.2018). "Regisseurin Ulrike Maak jongliert mit dem wunderbar leicht gefassten Ungefähren und bietet dem Zuschauer die Möglichkeit, eigene Bilder für die unglaubliche Geschichte zu finden, die aus der Erinnerung der Protagonisten erzählt wird."

Kommentare  
Die Straße der Ameisen, Kiel: Mitschaffen
Ich kann mich bei der Bewertung und gleichsam weitestgehend inhaltlich den posiven Attributen der Kritikerinnen Ullmann, Bender und Christiani auch für (meinen) Fall , der B-Premiere des Abends, anschließen. Das Schlechteste, was es rund um diese Inszenierung für mich zu sagen gäbe, wäre allerhöchstens, daß es sie insgesamt nur 8 Male im Laufe dieses Junis geben soll (im Zeitraum bis einschließlich 23.6.), nun also noch 6 Male. Frau Christiani erwähnt zurecht die Begeisterung des Publikums; diese war auch am zweiten Abend, am 2.6., ungewöhnlich, so ungewöhnlich, wie es zuvor im Bann dieses Theaterabends sichtlich konstruktiv mitschaffte, das Publikum, bei dieser eben zum Mitschaffen und Mitdenken so anregenden Theatersituation, bei der es ganz wesentlich darauf ankommt, denke ich, mit Regieeinfällen gerade sehr sparsam umzugehen (es ist schon seltsam, wie die NDR-Kritikerin sich dazu eine "Vorkritik ohne Bewährung" zutraut und diesen Mitschaffaspekt des Schimmelpfennigschen Theateransatzes vollends ausblendet, sollte sie sich dazu überhaupt Gedanken gemacht haben bzw. ihn in Umrissen überhaupt kennen) und, wie die anderen Kritikerinnen meineserachtens vollkommen angemessen würdigen, fein zu zeichnen, bei reduzierter Grundanlage; das gelingt, bei sehr guter Sprachführung vor allem bei Claudia Friebel, allen 4 Spielerinnen und Spielern (3:1 !) vorzüglich, Folge eben: das Publikum ist dabei, ist engagiert. Es ist schön, wenn es auf diese Weise still im Raum wird, weil das Publikum zuhört und beschäftigt ist; es ist (beinahe) ein gemeinsames "Arbeitserlebnis".Dabei waren (für eine B-Premiere) die Reihen empfindlich gelichtet im Grunde; es entzieht sich meiner Kenntnis, ob dies vor allem diesen "Hundstagen im Hochfrühling" geschuldet war/ist, die aber eigentlich zu der Grundanlage eines 35-Grad-Settings aus dem Stück eher kongenial wirkten (desweiteren).Fast möchte ich also ausrufen:"Auf zur Kieler Woche und den verbleibenden 6 Abenden; die letzten davon fallen in die Kieler Woche !"
Und wer noch mehr von Schimmelpfennig in Kiel sehen bzw. über Schimmelpfennig ebenfalls in Kiel erfahren möchte, kann vom 12.6. an im Jugendclub des Werftparktheaters noch "Auf der Greifswalder Straße" erleben (4 Vorstellungen im Juni) bzw. in der Bücherei des Literaturwissenschaftlichen Institutes (Seminarapparat) fündig werden
(Prof. Dr. Kai Bremer bietet zu Schimmelpfennig ein Seminar an in diesem laufenden Sommersemester) zu Roland Schimmelpfennig und seinem Theater. 2 Semesterwochenstunden sind genau die Aufführungsdauer; möglicherweise gönnt sich ja auch der Kurs selbst die Theaterpraxis zum Seminar; es wäre spannend, davon zu hören, finde ich.
Straße der Ameisen, Kiel: toll
Auch ich war zur B-Premiere spontan in der Aufführung, als ich meine Heimatstadt Kiel besuchte.
Toll gespielt und umgesetzt, die Reaktionen am Ende ungewöhnlich frenetisch.
Schade, dass es Recht leer war. Kieler, geht hin.Und: Lange nicht in Berlin solch gutes Theater in letzter Zeit gesehen...
Straße der Ameisen, Kiel: Seminarbesuch
Lieber Arkadij Zarthäuser, klar schauen wir uns das an. Diese Woche "Straße der Ameisen", kommende "Greifswalder Straße". Anschließend werden wir die Inszenierungen auch noch im Seminar besprechen. Werde die Studierenden auf die Kommentare hier hinweisen, vielleicht schreibt ja die eine oder der andere was. Dass ich mich als nk-Autor hier nicht noch ergänzend zur starken Kritik von Katrin Ullmann äußern werde, werden Sie verstehen. Beste Grüße, Kai Bremer
Straße der Ameisen, Kiel: Abschweifung
Lieber Kai Bremer ! Das verstehe ich. Ich werde mir in der nächsten Woche die Premiere im Jugendclub des Werftparktheaters ansehen und ggfls. gerne auf Beiträge aus ihrem Seminar eingehen, sofern Nachtkritik dieses zuläßt; meinen gestrigen Kommentar hat nk mal wieder schlichtweg geschnitten, wo immer auch ein vernünftiger Grund dazu bestehen mag (nk unterbindet damit ua. eine Reaktion auf Sie, aber auch meinen Einwurf zur Philosophie von Hermann Schmitz, der bei Roland Schimmelpfennig nahelag (wie auch der Hinweis auf den 90. Geburtstag des ehemaligen Kieler Institutsleiters für Philosophie an der CAU) meineserachtens und auch für Seminare einen Stoff bieten könnte) , als Abschweifung offenbar (dabei ging es darin sehr wohl um die Motive "Stabilität des Bewußtseins" , "Das Phantastische" und "Erinnerung" -die sowohl im Stückheft als auch im KN-Interview mit Roland Schimmelpfennig, der bei der Premiere zugegen war, zentral sind und gewiß auch in Ihrem Seminar eine Rolle spielen- anhand zweier lockerer und harmloser Anekdoten aus meiner eigenen Erinnerung, wie ich seinerzeit, bevor ich "Auf der Greifswalder Straße" im DT (Regie: Jürgen Gosch) besuchte, von dieser Greifswalder Straße her zum DT schlenderte einerseits und zu den "Rahmenbedingungen" der Kieler Premiere von "Die Straße der Ameisen" andererseits). Dem Kurs ein gutes Gelingen und schöne wie produktive Theaterabende !! Ebenfalls beste Grüße. AZ

(Lieber Arkadij Zarthäuser - ich weiß nicht genau, welchen Kommentar Sie meinen. Aber jedenfalls wurde der letzte Kommentar von Ihnen, #1, so veröffentlicht wie er ist, ohne Änderungen und ohne "schneiden". (die nachtkritik-Redaktion / sik)
Straße der Ameisen, Kiel: Luxus des Vergessens
(...) Was ich bei Schimmelpfennig ua. spannend finde, ist, was er über das Erinnern sagt (und schreibt: siehe Stückheft), nämlich zum Beispiel, daß er, Roland Schimmelpfennig, "nichts behalten" könne, was aber auch Vorteile habe, tatsächlich immer wieder neu beginnen zu müssen in etwa. Ich sehe das keineswegs als Koketterie des Autoren, was schnell passieren könnte, denn natürlich beißt sich so eine Aussage sehr wohl mit dem "Luxus", immer wieder neue Perspektiven zu einer Sache einnehmen und variieren zu können, denn ich kann nur schwerlich etwas -im Bewußtsein eines Luxus zumal !- variieren, an das ich mich garnicht erinnere; ich finde, daß beispielsweise ein solcher Gedanke zu Schimmelpfennig diskutabel wäre. Das Erste übrigens, was ich von Schimmelpfennig sah, war garnicht von ihm (wohl), trägt aber im Keim gerade dieses "Vergeßlichkeitssyndrom" in sich. In "Kleine Haie" (von Sönke Wortmann) spielt er (als Schauspiel-Nebendarsteller) einen Kandidaten zur Aufnahme an die Münchener Falkenberg-Schauspielschule: So, wie Schimmelpfennig dann später, zB. in "Auf der Greifswalder Straße" den
"Mann ohne Hund" etwa, immer wieder in Shortcuts einblendet, wird im Film sein Vorsprechdesaster in München in kleinen Blenden gezeigt ("Kann ich jemand zum Ansprechen haben" - "Kannst Du Dich nicht dort hinstellen ..." "... oder besser dort" -"Kannst Du Dich vor mir hinknien" - "Ich habn Text vergessen"); ja, tatsächlich "Ich habn Text vergessen !" Schönen Sonntag !

(Die Auslassung umfasst eine Notiz an die Redaktion, Anm. Christian Rakow / Redaktion)
Straße der Ameisen, Kiel: Hinweis auf Jugendclub
Nur ganz kurz ! Lieber Ken, sollten Sie bis einschließlich 15. Juni (wieder, erneut ??) in Kiel weilen, so kann auch diese "kleine" Schimmelpfennigsache nur wärmstens empfohlen werden !! Eine kleine Beschreibung findet sich (von Frau Jänicke) in einem KN-Online-Beitrag von heute früh. Die Regisseurin Karolin Wunderlich hat in einer gut nachvollziehbaren und beherzten Strichfassung "Auf der Greifswalder Straße" als Stationenstück mit dem spielwütig und mutig agierenden Jugendclub erarbeitet und damit,ihrerseits mutig, einen sehr guten Gebrauch gemacht von der inszenatorischen Freiheit, die im Grunde im Schimmelpfennig-Grundsatz des Immerwiederneuanfangens steckt. Wieso dieses Neuanfangen nicht auch gegenüber einem Schimmelpfennigtext als RegisseurIn betreiben und einen Nucleus der Greifswalder Straße ins Werftparktheater und drum herum bauen, der auf positive Weise in den Köpfen des Publikums in einer gewissen Analogie zur Festsetzung der Rudolfschen Liebeserklärung an Maika sich festsetzen wird wohl ?? Variation und Perspektivität dieser Inszenierung erinnern so zB. auch an "Vorher/Nachher" etwa so wie die teilweise -improvisierte, jeweils neue !- Interaktion einiger SpielerInnen mit dem Publikum an die Vehemenz jener "Frau von früher" mühelos anschließt (Stücke, die "ihrerzeit" in Kiel zu sehen waren wie auch "Die arabische Nacht", die ich allerdings nicht sah). Das war eine ENSEMBLELEISTUNG, und es ist dem Jugendclub-Team in nur 2 Jahren offenbar Beglückendes gelungen; von diesem Ensemble werden wir wohl also noch hören, und im Stadtbild wird es dann immer wieder mal heißen "Woher kenne ich dieses Mädchen, diesen Jungen bloß ??", und so trete ich aus Rudolfs Traum wieder auf die "Greifswalder Straßen Kiels" (in der Wik gibt es ja zB. wirklich eine ,,,)..
Kommentar schreiben