Die Zehn Gebote – Annette Pullen und Dedi Baron inszenieren in einer Doppeluraufführung in Kiel Stücke von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel sowie Shlomo Moskovitz
Die Gewissensmaske der Eselin
von Michael Laages
Kiel, 15. April 2016. Der Heimspiel-Bonus gilt für diesen Autor immer – im allerhöchsten Norden schlug der türkischstämmige Feridun Zaimoglu ja Wurzeln, und das Kieler Publikum hat sich nicht nur gewöhnt an den smarten Grobian, seit er mit "Kanak Sprak" vor vielen Jahren den Sound seiner Generation beschwor. Gemeinsam mit Ko-Autor Günter Senkel übertrug Zaimoglu in der Folge einige Shakespeare-Klassiker in zeitgenössische Sprache. Die beiden gingen dabei gern recht ruppig zu Werke, fanden aber den eigenen Ton – und speziell daheim in Kiel können sie sich des Zuspruchs immer sicher sein.
Fragen nach der Gültigkeit der Moral im Krieg
Rhythmisch klatscht das Publikum sich jetzt in pure Begeisterung, als die beiden die zehn biblischen Moral-Gebote zum Thema machen. Obwohl nicht recht auszumachen ist, worum es ihnen wirklich geht. Der israelische Autor Shlomo Moskovitz markiert dagegen in dieser Doppel-Uraufführung am Kieler Schauspielhaus sehr viel deutlicher die Fragen, die sich mit den ewigen "Du sollst nicht!"-Vorschriften verknüpfen müssen in Zeiten des Krieges.
Weil Zaimoglu und Senkel die zehn Szenen für den eigenen Dekalog nicht etwa (wie beispielsweise in der Film-Serie des Polen Krzysztof Kieslowski) in verschiedensten Regionen bürgerlichen Alltagslebens ansiedeln und dort die Moral nach Gültigkeit befragen, sondern in der extremstmöglichen Verirrung aller Menschlichkeit, in der Belagerung der Stadt Leningrad im Zweiten Weltkrieg, müssen sie scheitern.
Zombies fern aller Gebote
Denn wer fragt im Armageddon nach Moral. Niemand – nicht auf der Seite entmenschter deutscher Belagerer, auch nicht wirklich unter den Verteidigern in Hunger und Verrohung. Und weil niemand im Kriegspanoptikum dieser "Zehn Gebote" letzte Reste von Menschlichkeit zu behaupten versucht, kein letzter versprengter Apostel und kein Janusz Korczak wie im Warschauer Ghetto zu einem Gegenbild zur Apokalpypse werden soll, bestätigen Zaimoglu und Senkel nur: Krieg ist böse, Krieg ist dumm. Er verwandelt Menschen in Marionetten, in Zombies fern aller Gebote.
Ein deutsches Bilderbuch-Monstrum in schwarzer SS-Uniform, einer also vom Orden unter dem Totenkopf, steht im Zentrum. Den Bruder opfert er, nachdem er fern der Front schon dessen Frau geschwängert hat. Die eigene Truppe malträtiert er derart, dass einer in Feldgrau schließlich zum mörderischen Rache-Engel in der Familie des Killers wird. Mit dem charismatischen Führer des Leningrader Widerstands hat der Gottseibeiuns des deutschen Horrors zuvor Russisch Roulette gespielt. Doch da driftet das Pappkameraden-Kabinett in der Inszenierung der Osnabrücker-Noch-Schauspielchefin Annette Pullen nachgerade ab in blanke Albernheit.
Wie belanglos und beiläufig aber auch herum gemordet und gestorben wird in diesem ersten Teil der Doppel-Uraufführung von Kiel – zentral bleibt das Fehlen jedes Motivs im Text von Zaimoglu und Senkel: Wann hätte vor Leningrad jemals jemand Gedanken verschwendet auf zehn Gebote?
Belagerung von Beirut
Shlomo Moskovitz im zweiten Teil beschwört hingegen eine echte Auseinandersetzung: Adam, zu Beginn ein Funktionsträger auf der mittleren Führungsebene der israelischen Armee, widersetzt sich im Libanon-Krieg und bei der Belagerung von Beirut den Befehlen der Führung. Er fragt moralisch nach Sinn und Ziel des eigenen Tuns. Die schematischen Antworten staatlich-israelischer Moral genügen ihm nicht. Dem Gebetsmühlen-Mantra des "Nie wieder wehrlos sein nach dem Holocaust!" misstraut dieser Adam. Beirut will er nicht erobern. Er setzt für diese Erinnerung an moralische Gebote die eigene Karriere aufs Spiel. Am Ende ist er dann Israels jüngster General (es gibt ein historisches Vorbild für die Geschichte, wie Moskovitz sie erzählt). Aber zum Feiern ist ihm nicht zu Mute. Alle ungelösten Fragen in der eigenen Familie sind diesem Adam auf die Füße gefallen.
Fabel vom Reißbrett, grandiose Regieidee
Die Tochter will lieber sterben als auch zur Pflicht-Armee. Der Vater, KZ-Überlebender, hat einst die eigene Tochter missbraucht und in den Selbstmord getrieben. Und er selber, dieser beispielhafte "erste Mensch" Adam, wird wohl nie treu sein können. Auch Moskovitz hat die Fabel am Reißbrett konstruiert. Nicht wirklich zwingend an die Gebote geknüpft, und ein bisschen geschwätzig, zwingt er aber immerhin Macht und Krieg in den Konflikt mit Menschlichkeit und Moral.
Und wenn der sehr viel intensiveren und lustvolleren Inszenierung der Regisseurin Dedi Baron (der künstlerischen wie persönlichen Partnerin des Autors) auch nach etwa der Hälfte komplett die Luft ausgeht und nur noch herum konstruiert wird, hat sie immerhin eine richtig grandiose Idee – sie stellt diesem Adam, diesem Macho-Militär, ein weibliches Gewissen gegenüber: in Gestalt einer pfiffigen Eselin. Wer in der Bibel nachschlagen möchte – das ist Bileams Eselin.
Last des biblischen Themas
Mit dieser Idee überfallen Moskovitz und Baron das Publikum und im Grunde auch die übermächtige Ambition der Dramaturgen-Idee von den doppelten "Zehn Geboten“; und für ein halbes Stündchen funkelt dieser Kieler Theater-Abend klug und frech. Dann verlieren sich Moskovitz wie Baron in der Familiengeschichte. Am Schluss, bei der Karriere-Party des frisch gebackenen Generals, tragen alle Gäste die Gewissensmaske der Eselin – hier steckte ein kluges Motiv im Spiel.
Und zwei komplette Ensembles, ziemliche Mengen also an Kieler Schauspiel-Personal, werfen sich mit starkem Engagement in die moralischen Schlachten. Doch letztlich bricht der Abend immer wieder zusammen unter der Last des biblischen Themas: zu Beginn, weil er nicht weiß, was er anfangen soll damit. Am Ende, weil er nicht weiß, wohin er wirklich will.
Zehn Gebote
von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel
Uraufführung
Regie: Annette Pullen, Bühne: Lars Peter, Kostüme: Barbara Aigner, Dramaturgie: Jens Paulsen, Licht: Joachim Mohr.
Mit: Isabel Baumert, Martin Borkert, Rudi Hindenburg, Christian Kämpfer, Magdalena Neuhaus, Zacharias Preen, Yvonne Rupprecht, Almuth Schmidt und Felix Zimmer.
Zehn Gebote
von Shlomo Moskovitz
aus dem Hebräischen von Adina Stern
Uraufführung
Regie: Dedi Baron, Bühne: Lars Peter, Kostüme: Elina Schnizler, Dramaturgie: Jens Rasche, Licht: Joachim Mohr.
Mit: Jennifer Böhm, Marius Borghoff, Ellen Dorn, Marko Gebbert, Immanuel Humm, Werner Klockow, Claudia Macht und Jessica Ohl.
www.theater-kiel.de
Zaimoglu und Senkel präsentierten das Grauen in einer Nussschale, so eine beeindruckte Antonia Stahl in der Landeszeitung Schleswig-Holstein (18.4.2016). Der "gnadenlose Bilderreigen" gelinge nicht zuletzt dank der kontrastreichen Inszenierung durch Annette Pullen, die auf Neonlicht im kargen Bühnenbild, düstere Atmosphäre und stimmgewaltiges Spiel setze. Komisch sei zunächst Moskovitz' Stück, eine "bunter inszenierte, klarer am Individuum orientierte Erzählung".
"Dürr sind die Sätze, karg und archaisch die Worte, die in denen das Kieler Autorenduo ausgegend von der Belagerung Leningrads durch die Deutschen Zerrbilder entwirft, in denen sich die fortschreitende Brutalisierung beklemmend spiegelt", schreibt Ruth Bender in den Kieler Nachrichten (18.4.2016). Pullen schärfe die Ort- und Zeit-entrückten Episoden klar nach. "So klar, dass am Ende kaum Fragen übrig bleiben." Moskowitz wiederum dekliniere im wortreichen Disput die Versatzstücke israelischer Identität durch – inszeniert "mal handfest, mal poetisch" von Dedi Baron.
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