Chiffren - Bernhard Mikeska mit der Deutschen Erstaufführung von Dawn Kings Stück in Bielefeld
Doppelagenten sterben einsam
von Kai Bremer
Bielefeld, 20. Januar 2018. "Blödsinn, der ist nicht echt."
- "Aber, es hat sich bewegt."
"Die setzen doch keinen echten Hasen auf die Bühne."
- "Das ist kein Hase, das ist ein Kaninchen."
"Kaninchen sind klein und gescheckt. Der da ist groß und grau-braun, wie der Hase von Dürer."
- "Aber ein Hase ist schlanker und hat lange Ohren."
"Bist du Hasen-Experte, oder was?"
- "Auf jeden Fall ist der echt."
Tiere auf der Bühne locken aus der Reserve. Und so setzt ein angeregtes Getuschel über das possierliche wie beeindruckend mächtige Kerlchen auf der Bühne ein, da sich das Publikum im Theater am Alten Markt in Bielefeld setzt, um die deutschsprachige Erstaufführung von Dawn Kings "Chiffren" zu sehen. Laura Maria Hänsel mit strähnig grau-blauem Haar, knielangem Oversize-Pulli und ohne Hose oder Rock (Kostüme Hannah Petersen) war da im ersten Moment Nebensache auf der komplett in weiß gehaltenen Guckkastenbühne, die Steffi Wurster wie einen Schminkspiegel mit Glühbirnen gerahmt hatte. Nachdem die das erste Mal gold-gelb erstrahlt waren, war das Kaninchen nicht mehr auf der Bühne – sein kurzer Zauber rasch verflogen.
"Chiffren" erzählt mittels knapper, nicht chronologisch angeordneter Szenen die Geschichte von der Rekrutierung Justines beim britischen Geheimdienst über ihren wohl gewaltsamen Tod bis zu den schließlich scheiternden Aufklärungsversuchen ihrer Schwester Kerry. Ein echter Krimi wird das, weil Justine eine Doppelagentin ist, die mit ihrem Kontaktmann Koplov (Thomas Wehling) sogar Russisch spricht (mit Übersetzungen über der Bühne). Zudem lässt King je zwei Figuren von nur einer Schauspielerin beziehungsweise einem Schauspieler darstellen. Hänsel etwa spielt Justine wie deren Schwester Kerry. Welche Figur sie ist, ergibt sich oft nur aus dem Dialog, manchmal wird es durch eine Zigarette in der Hand ergänzend verdeutlicht – nur die etwas ältere Kerry raucht. King schlägt aus der Doppelung amüsante szenische Funken, etwa wenn im Dialog wiederholt betont wird, wie unterschiedlich die beiden Schwestern seien.
Aktenzeichen ungelöst
Das alles erinnert mit seiner Whodunit-Struktur und seiner Sprachvielfalt an Simons Stephens Three Kingdoms, das 2011 Sebastian Nübling an den Münchener Kammerspielen uraufgeführt hatte und im Anschluss an verschiedenen Theatern erfolgreich nachgespielt wurde. Doch während Stephens' Kriminalspiel zugleich die Frage nach der kulturellen Identität verhandelt, beschränkt sich Kings Drama letztlich auf Justines Geschichte, ohne dass die aufgeklärt wird und ohne dass King Justine psychologisch derart fundiert, dass man Motive für ihr Doppelagententum finden könnte. Kurz: Derart überzeugend wie Dawn Kings wiederholt ausgezeichneter Erstling Foxfinder ist "Chiffren" nicht.
Dass der Abend gleichwohl nicht vor die Wand fährt, ist zunächst den Schauspielern zu verdanken. Neben Hänsel und Wehling sind das Lukas Graser als Maler Kai und Sozialarbeiter Kareem sowie Doreen Nixdorf als Justines Vorgesetzte und Kais vermögende Ehefrau. Alle vier meistern das Hin und Her zwischen ihren Figuren souverän.
Vor allem aber liegt das an der Regie von Bernhard Mikeska. Er setzt auf einen scharfen Kontrast zwischen Bild- und Klangsprache. Die Schauspieler lässt er alltäglich sprechen. Ortswechsel realisiert er, indem im Park Vögel zwitschern und am Flughafen Turbinen donnern (Sounddesign Tobias Vethake). Ganz anders das, was zu sehen ist. Die Schauspieler verharren immer wieder in gestisch aussagekräftigen Positionen. Der weiße Raum wird von Szene zu Szene jeweils unterschiedlich farbig ausgeleuchtet, aber nur minimal mit Requisiten ausgestattet. Akustisch setzt Mikeska also auf Naturalismus, optisch hingegen auf Abstraktion. Das sorgt für ästhetische Spannung, die kurz vor dem Ende zudem mittels einer auf die Eingangsszene zurückverweisenden Videoeinspielung klug ergänzt wird. So kommentiert Mikeska ästhetisch facettenreich Dawn Kings Stück. Ein falscher Hase bleibt es gleichwohl.
Chiffren
von Dawn King
Übersetzung: Anne Rabe
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie, Video: Bernhard Mikeska; Bühne, Video: Steffi Wurster; Kostüme: Hannah Petersen; Sounddesign: Tobias Vethake, Dramaturgie: Katrin Enders.
Mit: Lukas Graser, Laura Maria Hänsel, Doreen Nixdorf, Thomas Wehling.
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten
www.theater-bielefeld.de
Mikeska erzeuge Atmosphäre und Ortswechsel durch farbiges Licht, vor allem aber durch Töne: Fluglärm, Vogelgezwitscher, Stimmengewirr in einem Jugendzentrum, schreibt Burgit Hörttrich im Westfalen-Blatt (22.1.2018). "Die Bild- und Klangsprache lenkt vom Verwirrspiel auf der Bühne zwischen den Agenten und den Ahnungslosen nicht ab. Letztlich sind doch alle nur Schachfiguren auf dem Spielbrett von Chefs wie Sunita und Koplov, die die Regeln bestimmen." Die Schauspielern meistern das Hin und Her zwischen ihren Figuren souverän. "Zumal sich der Personentausch optisch allenfalls durch Sprache, Gestik oder mal eine Zigarette, eine auf- oder abgesetzte Brille zeigt. Trotzdem ist das nicht irritierend oder schwierig zu verfolgen."
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Jedes Wesen verleiht seinem 'Sein' Ausdruck - bewusst oder unbewusst. Als Zuschauer von Chiffren haben wir uns eingeladen gefühlt, Anzeichen des Seins der Figuren auf der Bühne zu entschlüsseln; Doppelrollen haben wir als gezielt eingesetzte Doppeldeutigkeit wahrgenommen , die uns auf eine Spurensuche nach den wahren Personen führt. Chiffren geht u. E. weit über den Versuch hinaus, Umstände und Hintergründe eines vermeintlichen (?) Todes-Falls der Geheimagentin Justine darzustellen. Die Suche von Kerry nach Justine verdichtet sich zum Ende des Stückes für uns auf die Frage: Wer war Justine? Wer war Kerry? Gab es tatsächlich 2 Personen oder 2 Identitäten einer Person?
Ein Besucher im Foyer sprach über eine ungeheure Dichte und Intensität mit der der Buch-Stoff seines Erachtens dargeboten wurde.
Über die Symbolhaftigkeit des Hasen klärt uns im Programmheft zwar Joseph Beuys auf, die Interpretation von Zuschauern im Gespräch nach der Aufführung ist für uns eine interessante Ergänzung: Der Hase als Sinnbild für das Bedürfnis nach Nähe und Wärme, emotionale Geborgenheit und Beziehungsfähigkeit, als Gefährte in Kindheit und Jugend, gerade noch greifbar nah, auf dem Arm von Justine und dann quasi aus dem Stück verschwunden. Später die Beziehung zum Vater in kurzer Sequenz auf der Bühne erlebbar und zum Ausklang des Stückes das übergroß projizierte Hasenbild vor dem Justine/ Kerry kauert, mit ausgestreckten Armen nach dem Hasen greifend.
Für uns war dieser Theater-Abend weit mehr als ein Krimi-Stück mit offenem Ausgang. Einfach hingehen und sich selbst ein Bild machen – es lohnt sich in jeder Hinsicht!
http://www.die-deutsche-buehne.de/Kritiken/Schauspiel/Dawn+King/Chiffren/Theater+der+Angst
http://kulturkenner.de/events/dawn-kings-chiffren-im-theater-am-alten-markt