Schule der Empathie

von Gerhard Preußer

Mülheim , 13. Dezember 2019. Den Anfang macht eine Bildinterpretation: Francesco Botticinis Renaissance-Bild vom jungen Tobias, dem Heiligen der Reisenden, der auf seiner Reise von Ninive nach Ekbatana von den drei Erzengeln geleitet und geschützt wird. Die Details des Bildes werden vergrößert gezeigt: ihn begleitet ein kleiner Hund, unter dem Arm trägt er einen Fisch. Vor der Projektionswand aber steht ein Bootswrack, ein Skelett mit Rippen wie ein toter Riesenfisch. Erzengel bräuchte man, um die im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge zu schützen. Diesen anonymen Toten, die ihr Leben ließen auf dem Weg zu uns, widmet Roberto Ciulli ein szenisches Requiem.

Requiem vor einem Bootswrack

Das Wrack steht in einer flachen Wasserfläche. Um es herum steht zunächst das Ensemble mit gelben Gummischürzen und hellblauen Schutzanzügen wie die Hilfskräfte in einem Leichenschauhaus. Langsam beginnen sie Geräusche zu machen. Es klingt wirklich wie das Meer, das zunächst ruhig ist, dann tobt und Menschen verschlingt. Ein wortloses Gesumme und Gelalle, lautmalerisch und doch abstrakt und klangschön (Musikalische Leitung: Matthias Flake). Dazu ahmen sie die Gesten der Engel des Botticini-Bildes nach. Doch retten können sie nur Überreste: im schwarzen Wasser schwimmen Kinderhosen, T-Shirts, Spielzeug, Brillen, Schuhe.

BoatMemory 2 560 KnutMaron uWer zählt die Toten? Ensemble in Roberto Ciullis "Boat Memory" in Mülheim © Knut Maron

Alles wird eingesammelt, sorgfältig auf zwei Leuchttische platziert. Nun beginnen die forensischen Engel zu sprechen. Sie sprechen Texte aus Youssouf Elalamys Roman "Gestrandet", erfundene, aber realitätsnahe Biographien von Marokkanern, die auf der Bootsfahrt nach Europa ertrunken sind. Von Marco Martinelli stammt der Monolog eines Offiziers, der auf einer Insel im Mittelmeer die Ertrunkenen zählen muss. Die Inszenierung verwendet Texte von Autoren, die die Mittelmeerkatastrophe in fiktiven Texten behandelt haben, aber auch eigene Texte von Ensemblemitgliedern (Simone Thoma und Maria Neumann).

Individuelle Motive

Die Mittel der Inszenierung sind vielfältig: Sprechgesang, tänzerische Bewegung, eingefrorene Gesten, emphatische Deklamation – alles im gemessenen Duktus. Plötzlich wird eine blaue Jacke ins Wasser geworfen. Sie wird kunstvoll seziert und zum Vorschein kommt ein französisch geschriebenes Schulzeugnis. Einer der Ertrunkenen hatte es sicher und wasserfest in seiner Jacke verwahrt, um in Europa zeigen zu können, was er kann: In allen Fächern "très bien". (Diesen Fund hat die italienische Pathologin Cristina Cattaneo tatsächlich 2015 in der Jacke eines 15-jährigen Jungen aus Mali gemacht.)

BoatMemory 1 560 KnutMaron u Lebensrettung oder Bestattungsritual? © Knut Maron

So werden immer wieder Motive für die Emigration aus Afrika geschildert, nicht plakativ, auch nicht analytisch oder diskursiv, sondern emotional, individuell. Als Schule der Empathie.

Mit Eselsmütze

Zum Schluss sitzt Roberto Ciulli, der 85-jährige "Migrant" aus Italien, der gerade den Faust-Preis für sein Lebenswerk als Leiter des Theaters an der Ruhr erhalten hat, alleine an einem Lesepult, eine Eselsmütze auf dem Kopf und liest langsam und deutlich die Betonungen abwägend in seinem kultivierten italienischen Akzent vor – na, was wohl? Hitlers "Mein Kampf", genauer gesagt eine leicht auf aktuelle europäische Verhältnisse umfrisierte Version.

Mit diesem Coup dreht die Inszenierung die gerade aufgebaute Empathie noch einmal um. Man hört dem freundlichen alten Mann gerne zu und wird hineingezogen in die fürchterlichste rassistische Argumentation für die Überlegenheit der arischen Rasse.

Ciullis Schutzbeschwörung

Das Gegengewicht kommt dann wieder in kulturell verschlüsselter Form. Wie Shakespeares Zauberer Prospero die Gesänge seines Gehilfen Ariel, so ruft Ciulli mit einer Handbewegung die Musik Henryk Góreckis herbei. Aus den Lautsprechern klingt nun der zweite Satz aus dessen "Sinfonie der Klagelieder" die Vertonung des Gebets eines 18-jährigen Mädchens im Gestapo-Gefängnis im polnischen Zakopane 1944: "Oh Mutter weine nicht, nein. Jungfräuliche Königin des Himmels, du beschützt mich immer." So wird die historische Dimension des deutschen Rassismus akustisch in die Inszenierung geholt.

Eine Inszenierung wie eine Feierstunde, die ein Netz von Analogien auswirft, um das Unsagbare an uns heranzuziehen. Eine Schutzbeschwörung, ein Bestattungsritual für die Unbestatteten. Kein aktivistischer Appell, ein gedankenreiches Gedenken, Arbeit an unserer Empathiefähigkeit, der emotionalen Grundlage für alle menschenfreundliche Aktion.

 

Boat Memory / Das Zeugnis
von Roberto Ciulli, mit Texten von Yousouf Armine Elalamy, Marco Martinelli, Maria Neumann, Simone Thoma, Markus Schlappig und Zakes Mda
Regie und Raumgestaltung: Roberto Ciulli, Dramaturgie: Helmut Schäfer, Raumgestaltung und Kostüm: Elisabeth Strauss, Chorkomposition und musikalische Leitung: Matthias Flake.
Mit: Petra von der Beek, Dagmar Geppert, Maria Neumann, Simone Thoma, Albert Bork, Roberto Ciulli, Klaus Herzog, Fabio Menéndez, Steffen Reuber, Jubril Sulaimon.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, ohne Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

Kritkenrundschau

"So weit könnte es einer jener Opfer-Abende sein, (...) die Mitleid evozieren und den Zuschauer dann wieder ruhig – aber ohne Lösung nach Hause gehen lassen. Regisseur Roberto Ciulli macht etwas anderes daraus: eine Art gemeinschaftliche Trauermediation, ein stilles Requiem, eine Art Grabgesang", so Dorothea Marcus im Deutschlandfunk Kultur (13.12.2019). "Dazu leuchten die Seziertische, glitzert das Wasser im Bühnenbild von Elisabeth Strauß." Manchmal gebe es Ausflüge ins Pathetische, doch je zurückgenommener die Schauspieler agieren, je mehr Ruhe auf der Bühne entsteht, "desto mehr ziehen sie den Zuschauer mit hinein in die Bestürzung". Ciulli selbst spreche auf der Bühne einen Text aus Adolf Hitlers "Mein Kampf" – das Wort Juden ist durch Afrikaner ersetzt. "Er trägt dabei eine Kappe mit Hasenohren, anders könnte er den sich in Blut- und Boden-Rassismus steigernden Text wohl kaum selber sprechen." Die Inszenierung gehe über die Themen Flucht und Schuld hinaus, ist wohl bewusst undokumentarisch und stark poetisch verfremdet. "Ein ergreifendes universelles Bild von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit – und nichtsdestotrotz des Glaubens an die Kunst als Verteidigerin der Menschlichkeit."

"Erst stehen die acht Schauspieler lange stumm da, wie unfähig zu handeln. Anschließend ziehen sie behutsam einzelne Fundstücke aus dem Wasser, die zu ihnen zu sprechen scheinen", schreibt Klaus Stübler in den Ruhrnachrichten (online 15.12.2019, 13.52 Uhr). Der Schlussvorhang senke sich wie ein Trauerschleier oder ein Leichentuch. "Ein eindringlicher Abend, der betroffen macht und zum Weiterdenken anregt."

 

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