Zeit für Freude - Theater Oberhausen
Mit Mutti kuscheln
14. Oktober 2023. Der Norweger Arne Lygre erzählt in seinem neuen Stück vom Alleinsein und Verlassenwerden, von der Sehnsucht nach Geborgenheit. Kathrin Mädler inszeniert das in Oberhausen als intensives Gemeinschaftstheater.
Von Karin Yesilada
14. Oktober 2023. Gerade erst hat Bühnen- und Kostümbildnerin Franziska Isensee den Oberhausener Theaterpreis für ihre oft überzeugende Ausstattungsarbeit erhalten. Jetzt legt sie nach: Im schwarzen Bühnenraum bilden die großen, von der Decke hängenden Lichterketten ein nächtliches Sternenzelt, durch das acht eigenartige Figuren in überdimensionierten Reifrock-Gewändern und mit riesigen Tierschädeln umherwandeln. Dazu singt Sopranistin Ekaterina Isachenko im schwarzen Overall "In der Fremde" aus Robert Schumanns "Liederkreis": "Aus der Heimat hinter den Blitzen rot / da kommen die Wolken her, / aber Vater und Mutter sind lange tot, / es kennt mich dort keiner mehr." Damit wird der Ton für die folgenden gut drei Stunden gesetzt, in der sich die acht Personen jeweils ihres Totenschädels entledigen, aus dem Bühnenhintergrund nach vorne treten und ihre Perspektive auf das große Menschheitsthema vom Alleinsein, Verlassenwerden, von der Sehnsucht nach Geborgenheit und Gemeinschaft darlegen.
Wenn einer verschwindet
"Zeit für Freude" heißt das in Oslo bereits gefeierte neue Stück des norwegischen Dramatikers Arne Lygre. In gewohnter Weise lotet er Tiefen und Untiefen der menschlichen Existenz aus, diesmal in Bezug auf Freundschaft, Liebe und Verlust, schnörkellos übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. In Oberhausen hat Intendantin Kathrin Mädler jetzt die deutsche Erstaufführung als wuchtiges Sprechtheater inszeniert, großartig ausgestattet und musikalisch stimmig gerahmt von romantischer Kunstmusik. Keine leichte Kost, aber intensives Theater.
Lygre hat seine Figuren archetypisch angelegt, es gibt "eine Mutter", "einen Sohn" (als einziger mit Namen versehen: Aksle), "eine Schwester", Nachbarn und Witwen, "vaterlose" oder "mutterlose" Figuren, die den Mikrokosmos bilden für eine Gemeinschaft aus Menschen, die sich auf einem imaginären Friedhof begegnen. Sie alle müssen sich mit dem Loslassen, dem Verlassensein und dem Sterben auseinandersetzen. Doch da sind auch glückliche Momente, in den Erinnerungen an vergangene Liebe oder in der gegenwärtigen Wiederbegegnung von Mutter und Kindern; dann versichern sie sich gegenseitig der "Zeit für Freude". Der finale Bruch erfolgt, als Aksle erscheint und ankündigt, für eine Weile oder auch für immer "verschwinden" zu wollen. Er ist seines Lebens überdrüssig, dissoziiert und hadert, spätromantisch-musikalisch untermalt, geht ab und lässt seine verzweifelte Familie zurück.
Die Trauer aushalten
Die Schauspieler*innen, allen voran die starke Anke Fonferek als Mutter und Tim Weckenbrock als Aksle (und später als David), tragen den Abend weitgehend mit vollem Einsatz und großem Ernst. In ihren eigenartig barock-königshaften Gewändern, die nur wenig Bewegung zulassen, muten sie wie archaische Figuren an und deklamieren die Texte mehr, als sie auszuagieren. Das wirkt bisweilen steif und zäh, doch meistens zieht das Tempo dann doch wieder rechtzeitig an.
Im zweiten Teil des Stückes werden die Figuren jeweils durch komplementäre Personen gespiegelt ("eine andere Mutter", "eine andere Schwester" usw.), die jeweils eine alternative Daseinsform repräsentieren. Die gleichen Schauspieler*innen, in Doppelrolle und alle in braunem Teddyfell-Plüschmantel, geben nun einen glücklich verliebten Mann (im ersten Teil von der Frau verlassen), eine euphorische Geliebte (im ersten Teil verlassene Schwangere) oder fröhlich-empathische Freunde (im ersten Teil zerstrittene Familie). Sie variieren den ersten Teil oder führen ihn fort. Aksles Mutter sucht seinen verzweifelten Geliebten David auf, um mit ihm die Trauer auszuhalten, und bald schon gesellen sich Freunde und Nachbarn hinzu.
Im ödipalen Nest
Trotz der Tragik ist der zweite Teil versöhnlicher, fester im gemeinschaftlichen, einander zugewandten Leben verankert. Das spielt sich vor allem auf dem kleinen Podest in der Mitte des Bühnenraums mit nun am Boden liegenden Lichtern ab: Dort stehen, sitzen oder lümmeln die Figuren nun dicht gedrängt miteinander. Ein Mensch sein, zusammen mit anderen Menschen, das gibt allen den nötigen Sinn. Auch hier findet die Regie wieder schöne Bilder: Wie sie da zu sechst auf dem kleinen Bühnenpodest kuscheln, zu einem großen Plüschteddy-Wesen mit sechs Köpfen verschmelzen und über den Wert der Freundschaft sinnieren, hat was.
Zuletzt aber crasht Davids Mutter die Gemütlichkeit und gebärdet sich – ebenso wie ihre Wiedergängerin – als Furie: "Verschwindet, alle!" schrie Aksles Mutter im ersten Teil. "Haut ab! Alle!", kreischt Davids Mutter im zweiten. Der Sohn soll die Leerstelle der Einsamkeit füllen, wird ins ödipale Nest zurückgezerrt und muss mit Mutti kuscheln: "Jetzt wollen wir Freude finden", versichern sie sich am Ende gegenseitig. Dass dieser Grusel mit Schumanns "Mondnacht" beschlossen wird, lässt keinen Raum für Ironie, und auf dem Nachhauseweg wird der Hintersinn deutlich. Ein starker Theaterabend, der nachwirkt.
Zeit für Freude
von Arne Lygre
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Kathrin Mädler, Bühne und Kostüme: Franziska Isensee, Licht: Alexandra Sommerkorn, Musik: Juri Kannheiser, Dramaturgie: Laura Mangels.
Mit: Khalil Fahed Aassy, Nadja Bruder, Susanne Burkhard, Anke Fonferek, Ekaterina Isachenko (Gesang), Regina Leenders, Daniel Rothaug, Tim Weckenbrock, Klaus Zwick.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.theater-oberhausen.de
Kritikenrundschau
Von einem "stupenden Maskenspiel" berichtet Ralph Wilms in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (17.10.2023). Das "exakt ausgezirkelte Drama des Norwegers Arne Lygre" sei "durchaus sperrig", schreibt er. "Und die Stilisierungskunst der Regisseurin und ihrer kongenialen Chefausstatterin" setze "noch bildmächtige Rätsel 'on top'". Umso erfreulicher findet der Kritiker es, wie sich bei dem Stück "die Altersgruppen erfreulich mischten" und dass niemand in der Pause aufgab.
"Kathrin Mädlers Inszenierung betont das Zeitlos-Universelle der Gefühle und Sehnsüchte von Lygres Charakteren", schreibt Klaus Stübler in den Ruhrnachrichten (16.10.2023). Die Eichendorff-Lieder von Schumann seien "sinnstiftend eingeflochten" und die Schauspieler "hauchen den Figuren Leben ein und machen den gut dreistündigen Abend so zu einer Zeit der Freude".
Kathrin Mädler "vertraut dabei ganz auf die Schlagkraft von Lygres sozialutopischen Phrasen", schreibt Ulrike Kolter für die Deutsche Bühne (14.10.2023). Sie inszeniere "mit präzise getimten Dialogen und einem Ensemble, aus dem vor allem Anke Fonferek als Mutter mit ihrer zupackenden, emotionalen Art hervorsticht". Zum Finale hin ziehe sich der Abend, zumal das Stück "zum Ende zerfasert und deutlich einbüßt von seiner Sprachgewalt des Anfangs".
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