Accattone - Johan Simons' Ruhrtriennalen-Auftakt führt in die Weite der stillgelegten Kohlenzeche Lohberg in Dinslaken
Sturz in die Steine
von Sarah Heppekausen
Dinslaken, 14. August 2015. Die Halle ist kolossal. 210 Meter Länge, die vom Publikum erstmal durchschritten werden, bis die Tribüne am hinteren Ende erreicht ist. Am Boden staubiger Schotter, der in seiner Eintönigkeit wie manche Halde im Ruhrgebiet an eine Mondlandschaft erinnert. Nach vorne hin ist die Halle offen, gibt den Blick aus dem grauen Tonnengewölbe in die Natur frei. Birken und Büsche haben sich auch hier die ausgediente Industrieanlage zurückerobert. Der Mensch wird so erstaunlich klein in solchen überdimensionierten, leeren Hallen. Deshalb eignen sie sich so gut zu anthropologischen Betrachtungen, die ihn in Relation setzen.
Johan Simons hat für die Eröffnungsinszenierung seiner ersten Ruhrtriennale-Intendanz eine bislang noch unbespielte Zechenhalle ausgegraben. Die Kohlenmischhalle Zeche Lohberg in Dinslaken. Dort nähert er sich dem Menschen in seiner Unbehaustheit.
Menschsein zwischen Schotterbergen
Accattone – Pier Paolo Pasolinis erster Filmheld – ist arbeitsscheu aus Überzeugung (Arbeit ist Gotteslästerung), Zuhälter aus Bequemlichkeit, Dieb aus Bestimmung. Hunger ist Dauerzustand in seinem römischen Vorstadtviertel. Für seinen Film hat Pasolini überwiegend mit Laien an Originalschauplätzen gedreht. In seinen Nahaufnahmen blickt der Zuschauer in trübe Augen und zahnfaule Münder. Diesen Bildern nimmt man – selbst über 50 Jahre später – einfach alles ab. Die überreizte Fröhlichkeit, die Lethargie, die Hoffnungslosigkeit, das Opfer-Sein.
Johan Simons versucht gar nicht erst, diesem Realismus nachzukommen. Seine Subproletarier halten sich das Authentische buchstäblich vom Leib. Sie prügeln sich in Zeitlupe, stehen still während einer Verfolgungsjagd. Szenen und Orte werden von den Schauspielern auktorial erzählt. Die Bühne belässt Muriel Gerstner weitestgehend im Vorhandenen. Der Raum ist Bühne genug.
Und dann Bach! Die Musik spielt schon bei Pasolini eine bedeutsame Rolle, gerade weil Bachs harmonische Choräle und Instrumentalstücke einfach nicht zur schmutzig-verrohten Filmszenerie passen wollen. In der Dinslakener Kohlenmischanlage singen und spielen das grandiose Collegium Vocale unter der Leitung von Philippe Herreweghe eine eigene Auswahl von Bach-Kantaten. Berührend. Die Schauspieler starren sie an, als kämen sie, als käme die Musik aus einer fremden Welt. Sie halten inne.
Körperliches Spiel
Bei aller Distanz schafft Simons aber auch eine neue Dringlichkeit. Eine ganz körperliche. Der Regisseur arbeitet schon seit seinen Anfängen mit der Theatergroep Hollandia disziplinübergreifend, führt Schauspiel, Tanz und bildende Kunst zusammen. Als Intendant der Münchner Kammerspiele holte er die Choreografin Meg Stuart ans Haus, die mit Schauspielern und Tänzern gemeinsam Stücke entwickelte (Stuarts letzte Arbeit "Until our Hearts stop" ist auch bei der Ruhrtriennale zu sehen). Tanz sei eine Ausdrucksmöglichkeit, wie man etwas über den Körper erzähle, sagt Dramaturg Koen Tachelet.
Und sie erzählen eine ganze Menge an diesem Abend. Wenn Accattones Mieze Maddalena von einer neapolitanischen Zuhälter-Gang zusammengeschlagen wird, dann ist das kein klares Täter-Opfer-Verhältnis. Die wunderbar schnodderige Sandra Hüller, die in all ihrer Zerbrechlichkeit immer standhaft und erhaben ist, vollführt mit Benny Claessens ein so lustvolles wie gewaltsames Duett. Die bespringen und beißen sich, schmiegen sich aneinander und verrenken sich die Glieder. Das ist Liebesschrei und Sadismus, Hilflosigkeit und Brutalität. Und zwar auf beiden Seiten.
Stumm bedrohlich
Ist Benny Claessens "das Gesetz", dann wird seine Stimme leiernd, sein Körper träge. Da wird Präsenz durch Kontradiktion erzeugt. Und Accattone? Der schmeißt sich wie bei Pasolini immer wieder auf den Schotterboden. Aber während Filmdarsteller Franco Citti bei Pasolini ermattet und schlaff darniedersinkt, steht Steven Scharfs langer Körper unter permanenter Höchstspannung. Wenn der sich aus Ermangelung eines vorhandenen Flusses in die Steine stürzt, verstaucht er sich eben den Fuß. Angespanntes reißt schneller. Seine wörtlich gesprochenen Sätze belässt Scharf häufig auf derselben Tonhöhe.
Und wenn Accattone am Ende seinen eigenen Tod nachstellt, das Moped nicht stürzen lässt, sondern behutsam hinlegt, dann liegt in dieser vermeintlichen Ruhe wie in der gesamten durchaus langsamen Inszenierung eine stumme Bedrohung. Unter dieser erzwungenen Gleichgültigkeit scheint es zu brodeln. Bei Pasolini gibt es eine mythische Ebene durch religiöse Referenzen, die er mit der realistischen zu einer modernen Passionsgeschichte kreuzt. Simons lässt spielen. Mal bitter-ironisch, mal unerbittlich-körperlich, mal provozierend-distanziert. Das ist der Mensch. Das ist großes Musik-Sprech-Tanztheater.
PS. Sollte es in dieser Inszenierung beeindruckende Bilder in der Tiefe des Raumes geben, und davon ist auszugehen, sind die mir und anderen Zuschauern leider verwehrt geblieben. Wir saßen direkt vor der Orchesterbühne.
Accattone
nach dem gleichnamigen Film von Pier Paolo Pasolini in einer Fassung von Koen Tachelet
Regie: Johan Simons, Musikalische Leitung: Philippe Herreweghe, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüm: Anja Rabes, Soundscapes: Steven Prengels, Dramaturgie: Koen Tachelet, Tobias Staab, Musikdramaturgie: Jan Vandenhouwe.
Mit: Steven Scharf, Sandra Hüller, Elsie de Brauw, Benny Claessens, Anna Drexler, Mandela Wee Wee, Steven van Watermeulen, Jeff Wilbusch, Lukas von der Lühe, Laura Mentink, Io: Pien Westendorp. Solisten: Dorothee Mields (Sopran), Alex Potter (Alt), Thomas Hobbs (Tenor), Peter Kooij (Bass), Christine Busch (Solo Violine), Chor Collegium Vocale Gent, Orchester Collegium Vocale Gent.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.ruhrtriennale.de
Mehr dazu: Im Vorfeld der Eröffnung hat die Ruhrtriennale ihre erste Debatte bereits hinter sich. Denn der stellvertretende Bürgermeister von Dinslaken, Eyüp Yildiz, hat dem neuen Festival-Leiter Johan Simons vorgeworfen, für seine Eröffnungsinszenierung die Zeche Lohberg bloß als "pittoreske Schachtkulisse" zu nutzen, "in der sich die Gesellschaft des Kulturspektakels für einen Sommer lang feiert, um dann weiterzuziehen". Hier die Presseschau samt Zusammenfassung der sich daran anschließenden Diskussion um Hochkultur und Subproletariat.
Ungebrochenes Lob zollt Eva-Elisabeth Fischer von der Süddeutschen Zeitung (17.8.2015) dem Collegium Vocale Gent. An "die Erhabenheit der Musik, an den schlanken, gleichwohl eindringlichen Klang der alten Instrumente, an den in seiner Schlichtheit zu Herzen gehenden Gesang der Solisten (...) reicht weder die Inszenierung noch einer der Schauspieler heran". Ein "Verlegenheitsaktionismus" bestimme das Schauspiel. "Am schlimmsten aber ist, wie die Schauspieler allesamt in schleppenden Dialogen den Text zerdehnen müssen, als wollten sie mit der Langsamkeit ihrer Artikulation die Länge ihrer zurückzulegenden Weg auf dem riesigen Areal vermessen."
Von einer "abstrakten 'Accattone'-Lektion", in der Musik und Schauspiel "nichts nichts miteinander zu tun" haben, berichtet Eleonore Büning in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.8.2015). Statt "in Bilder wird die Geschichte von Accattone wie bei einer Univorlesung portioniert in Modulen und Kapiteln. Parabelhaft verkürzt der Regisseur diese Parabel vom ewigen Loser, reduziert die Handlung auf das zeichenhafte Nacherzählen von Handlung. Unentwegt wird Theater- und Literaturwissen zitiert."
"Der lange, in jeder Hinsicht lakonisch kühle Abend kommt über den artifiziellen Schweiß einer bemühten Kunstübung in Sozialromantik nicht heraus“, urteilt Manuel Brug in der Welt (17.8.2015). "So wie die Kollektive räumlich getrennt bleiben, jeder für sich schafft, so kommt es nie zu Berührungen, Vermischungen, zum angestrebten Gesamtkunstwerk", und Passolinis Werk werde "zur 'Dreigroschenoper' mit himmlischem Bach-Flickwerk".
"Extrastarker Premierenbeifall für Sänger und Musiker, Schauspieler und Regieteam wurden fast ebenso vehement gefeiert." Das vermeldet Jens Dirksen nach der Premiere auf dem Portal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung derwesten.de (16.8.2015). Das Ensemble "bewegt sich fast im Zeitlupentempo durch das Auf und Ab des Verbrechens, der Verrohung, der zunehmenden Verzweiflung. Eine extrastarke Vorstellung legt Benny Claessens als Gangsterkönig hin, in dessen singend hoher Stimme die Bestialität auf dem Sprung zu sein scheint."
"Beeindruckend ist, wie es Simons schafft, die riesige, 210 Meter lange, nach hinten offene Lohberger Kohlenmischhalle in ihrer Gänze zu bespielen. Statt Pasolinis italienischem Neorealismus bedient er sich dafür einer manchmal schon an Tanztheater angrenzenden Stilisierung." So berichtet Klaus Stübler in den Ruhrnachrichten (16.8.2015). "Neben dem großartigen Steven Scharf als aufopferungsvoll agierendem Accattone ist hier vor allem Benny Claessens hervorzuheben, etwa in seinem mit Hebe- und Schleuderfiguren aufwartendem Kampf als Neapolitaner Salvatore mit der Prostituierten Maddalena (Sandra Hüller)."
In der Rheinischen Post (17.8.2015) winkt Wolfram Goertz ab: "Tatsächlich erleben wir eine Art Proletariats-Folklore, die weniger hoffnungslos als vielmehr kunstgewerblich anmutet. Vom Leben getriebene Hungerleider sind diese Leute kaum, am wenigsten Steven Scharf in der Titelrolle, der fast reflektiert und souverän wirkt."
An den großartigen Schauspielern, die "auch ohne viel Text zu erzählen verstehen", erfreut sich Ralf Stiftel vom Westfälischen Anzeiger (17.8.2015). Aber wendet auch ein: "Pasolinis Figuren verstören in ihrer ungebremsten Lebensgier, aber sie berühren auch. Simons‘ Fassung überwältigt durch Pathos. (...) Das Passionsspiel in der Industriekathedrale bietet große Bilder. Aber es gemeindet den Zuhälter auch als Identifikationsfigur eines bürgerlichen Publikums ein."
Für Ulrike Gondorf vom Deutschlandfunk (15.8.2015) ist "Bach das Kraftzentrum dieses Abends ist. Ein Sinnangebot, das die verrohten und entwurzelten Personen dieses proletarischen Dramas nicht nutzen können und das doch auch für sie da ist und dessen befreiende Verheißung ihnen gilt." Simons Inszenierung sei "komplex und klug". Sie reproduziere nicht den Realismus von Passolini, sondern erzähle nach und lagere als zweite Handlungsebene "reines Körpertheater", das phasenweise fast schon Tanz sei, an.
Ein "Ereignis" ist diese Inszenierung schon durch die Spielstätte Zeche Lohberg, aber ebenso durch ihr Schauspiel-Ensemble für Anke Dürr von Spiegel Online (17.8.2015). "Der Holländer Simons hat 'Accattone' vom Katholischen ins Nüchtern-Protestantische übersetzt. Den emotionalen Kontrapunkt dazu bildet die Musik, live gespielt von Orchester und Chor des Collegium Vocale Gent. Auch sie hat einen wesentlichen Anteil daran, dass diese Ruhrtriennale-Eröffnung ein Ereignis ist."
"Das ist keine Oper, kein musikbegleitetes Schauspiel, sondern etwas Neues, das aus einer spezifischen Figuration heraus lebt: der wechselseitigen Bespiegelung des an sich Unvereinbaren", schreibt Markus Schwering in der Frankfurter Rundschau (18.8.2015). Das "Wagnis" könne aber "nicht restlos befriedigen": "Weil der Passionsaspekt bei Pasolini eh unübersehbar ist, wird die Kombination und Konfrontation mit Bach tautologisch", so Schwering. "Verdopplung tritt an die Stelle wechselseitiger Befruchtung und Steigerung." Gleichzeitig bleibe die Konstruktion "gewaltsam genug – als ob zwei Figuren, die von Haus aus einander die Rücken zukehren, gezwungen werden, sich wechselseitig anzusehen".
Für Eva Berger bleibt "die Frage, ob ein Stück wie 'Accattone' wirklich als Brückenschlag in die sozial prekäre Realität eines Stadtteil wie Lohberg gelingen kann". Und sie stellt in der taz (19.8.2015) gleicht noch zwei Fragen hinterher: "Wäre es nicht angemessener, hier einen Stoff zu inszenieren, der die migrantische Realität von Orten wie Lohberg in seine Gedanken über das gegenwärtige Subproletariat mit einbezieht? Wäre dies nicht auch angemessener angesichts der Tatsache, dass kaum eine deutsche Region so fundamental durch Migration geprägt ist wie das Ruhrgebiet?" Johan Simons führe mit der Inszenierung eindrücklich vor, "was für ein wunderbarer Möglichkeitsraum des Theatralen sich hier eröffnet", so Berger: "Man wünschte sich, dass die Lohberger selbst sich nun dieses Raumes bemächtigten."
Johan Simons' erste Arbeit als Ruhrtriennale-Intendant wähle "einen guten Stoff, entdeckt einen faszinierenden Raum, wir sehen seine Lieblingsschauspieler unprätentiös genau spielen und hören dazu grossartige Musik", findet Holger Noltze in der Neuen Zürcher Zeitung (20.08.2015). "Aber 'Accattone' lässt gleichwohl kalt." Man könne das alles zugleich richtig finden und am Ende doch ratlos davorsitzen. "Denn so verstörend Herreweghes Himmelsmusik – leider, aber wohl notwendigerweise verstärkt – auf das Elend dessen strahlt, was die Menschen da unten einander antun: Es darf ja nicht verklärend zusammenkommen, sonst wäre es nämlich Prekariats-Kitsch."
Durchaus beeindruckt zeigt sich Volker Hagedorn in der Zeit (20.8.2015): "Es ist tatsächlich eine Passion, die sich hier entwickelt, aber eine ganz und gar ungewöhnliche. Es sind Menschen, nicht Figuren oder Symbole, die wir erleben." Was ganz entfalle, seien konkrete soziale Umstände. "Weil alles zeitoffen bleibt, wird Bachs sanft und klar gesungener Musik eine Qualität nicht abverlangt, die Pasolini fand: eine diesseitige Leidenskenntnis, die bis ins Instrumentalwerk geht und selbst den Blick in römische Elendsquartiere weiten kann."
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