Bérénice - Ruhrtriennale
Ganz allein
26. August 2024. Kaiser Titus opfert seine Liebe zu Prinzessin Bérénice den Anforderungen seiner politischen Karriere. Ihr Leiden steht im Mittelpunkt der Liebestragödie von Jean Racine, die Romeo Castellucci in seiner Inszenierung auf ihre Titelfigur reduziert – gespielt von der großen Isabelle Huppert.
Von Martin Krumbholz
26. August 2024. Ob man diese Klassikerinszenierung verstehen kann, ohne das Programmheftinterview des Regisseurs Romeo Castellucci gelesen zu haben, ist doch sehr die Frage. Natürlich ist es ein Ereignis, Isabelle Huppert auf der Bühne zu erleben, nicht in Großaufnahme, aber doch nah, elementar, physisch. Jetzt, da auch Delon tot ist, die alte Garde des französischen Arthouse-Kinos, Montand, Piccoli. Belmondo, Trintignant endgültig dahingegangen, bleibt Huppert als Vertreterin der nachfolgenden Generation übrig. Ein Star ist sie seit ihrem Film "Die Spitzenklöpplerin", seit fast 50 Jahren. Damals spielte sie eine scheue Friseurin, die von ihrem sozial überlegenen Liebhaber verlassen wird. Auch eine Tragödie verschmähter Liebe, genau wie diese "Bérénice" von Jean Racine.
Auf der Suche nach dem Unzeitgemäßen
Und darum geht es: Der römische Kaiser Titus, seit acht Tagen auf dem Thron, hat die jüdische Prinzessin auf einem Palästina-Feldzug kennen und lieben gelernt. Seit fünf Jahren sind die beiden ein Paar. Jetzt aber, nach dem Tod des Vespasian, protestiert der Senat gegen eine Heirat ihres jungen Kaisers mit einer Nicht-Römerin. Titus knickt ein und verstößt seine Geliebte. Nebenhandlung: Auch ein gewisser Antiochus liebt Bérénice und hofft eine Weile, von Titus‘ Verzicht profitieren zu können, doch daraus wird nichts. Fertig.
Und was will Castellucci? Er erklärt es. Heute sei es auf dem Theater üblich, sagt er, im Unzeitgemäßen das Zeitgemäße zu suchen, durch Überschreibungen, politische Korrekturen etc. pp. Ihn dagegen interessiere im Gegenteil gerade die "Unzeitgemäßheit", und zwar als Ausdruck der "Fehlfunktion" unserer Zeit. Was genau fehlt, führt er im Interview nicht näher aus, aber er denkt offenbar an das fehlende Pathos, die fehlenden großen Gefühle, die dadurch evozierte Sprachgewalt, die im deutschen Sprachraum kaum ihresgleichen hat (und auch übersetzen lässt Racine sich eigentlich kaum, daher sind Aufführungen seiner Stücke hier selten).
Starke Gefühle
Castellucci erwähnt die Grüber-Inszenierung von 1984, aber auch ohne Kenntnis dieser Arbeit kann man sich vorstellen, wie stark seine aufs Monologische reduzierte Darbietung sich von jener älteren unterscheidet. Denn Castellucci eliminiert im Grunde den Konflikt. Huppert steht nicht ganz allein auf der Bühne, es gibt eine Reihe von stummen Jünglingen um sie herum, die einige (so hübsche wie entbehrliche) Pantomimen hinzufügen, Hommagen an den Kaiser und so weiter. Aber Antiochus spielt keine nennenswerte Rolle, wird nur zitiert, und auch Titus bleibt ein Schemen. Die Gegenspieler fallen aus. Was bleibt, ist der Schmerz der Protagonistin, und das, was der Regisseur "die Blockade" nennt, die "Bremskraft" der Sprache, die hier am Werk sei.
Die starken Gefühle der Prinzessin laufen ins Leere. Sie finden keinen physischen Widerhall (Titus tritt ja nicht auf), aber auch keinen ideellen. Die Szene hat etwas Klaustrophobisches: ein großer leerer Raum, den Huppert mit ihrer Präsenz mühelos füllt, Gazevorhänge, Requisiten, die wie von Zauberhand hereinschneien (eine Ballettstange, ein Heizkörper, eine Waschmaschine) und sich wieder auflösen, aber keine Gassen, durch die etwaige Partner auftreten könnten. Rien. Racines Sprache wirft diese Bérénice brutal auf sich selbst zurück, das meint Castellucci, wenn er vom "Psychismus" des Stücks spricht, weit entfernt von "psychologischem Theater".
Ausgetüfteltes Zeremoniell
In der Tat. Es geht nicht um Seelenkunde, sondern um die Rhetorik des Gefühls und deren Steigerung in die Nähe des Wahnsinns. Huppert fängt verhalten, fast trocken an; später, wenn ihre Leidenschaft in Empörung umschlägt, wird sie auch schon mal richtig laut: "Parlez!", ruft sie, Sprechen Sie doch! Kein Echo. Dann wieder wird sie geradezu rational: Hätte Titus nicht die Macht, die Gesetze zu ändern? Was schert ihn der Senat? Ist ihm etwa der Ruhm wichtiger als die angeblich so teure, so unvergängliche Liebe? Und noch später muss sie anerkennen, dass Titus sie doch noch liebt (zum Beweis weint er bittere Tränen), dass er einfach nicht anders kann als, verflixt maskulin, die Staatsräson zu ehren. Die Liebe einer Frau scheint dann nur eine Episode gewesen zu sein. An dieser Stelle kniet Huppert sich hin und beginnt zu stottern: Die Sprache versagt, das Gehirn setzt aus, die letzten Worte, Liebe, Zärtlichkeit, Leben, verkümmern zu gebrochenen Silben. Und die Blockade ist total.
Eine große Schauspielerin, eine "Tragödin", wenn man das noch behaupten kann, zeigt Romeo Castellucci weniger in einem Diskurs-Drama als in einem sorgsam ausgetüftelten Zeremoniell, das einige Ähnlichkeit mit einem Kult-Vorgang hat. Wie in der Kirche spielt die (elektronische) Musik eine große Rolle, aber sie wirkt knisternd, rissig, fast knirschend. Isabelle Huppert, sagt der Regisseur sinngemäß, ist die beste Schauspielerin der Welt. Am Schluss: Ovationen.
Bérénice
von Jean Racine
Regie: Romeo Castellucci, Musik: Scott Gibbons, Kostüm: Iris van Herpen.
Mit: Isabelle Huppert, Chelkh Kébé, Giovanni Manzo.
Deutsche Erstaufführung am 25. August 2024 auf der Ruhrtriennale
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.ruhrtriennale.de
Kritikenrundschau
"Der Abend feiert vor allem die Tatsache, dass hier Isabelle Huppert, die 71-jährige Sphinx der französischen Dramatik, leibhaftig auf der Bühne erscheint", berichtet Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (27.8.2024). Präsentiert werde die Darstellerin "in Castelluccis verlässlich manierierter, aber ansprechender Bühnenästhetik, geprägt von viel wallendem Tuch und Scott Gibbons’ dröhnenden, oft verzerrten Klanglandschaften". Nüchtern resümierend heißt es: "Alles sehr schön anzusehen und dabei immer haarscharf an der Konzepttheater-Selbstparodie entlangschrammend. Das Ganze lässt sich, wie so oft bei diesem Regisseur, am einfachsten als performative Kunstinstallation lesen."
"Isabelle Huppert enttäuscht nicht", vermerkt Klaus Stübler in den Ruhr Nachrichten (27.8.2024) "Sie rezitiert den vollständigen Text der Titelfigur mit nicht nachlassender Energie als großen Monolog. Dabei deklamiert die 71-Jährige die ersten Zeilen des in striktem Versmaß geschriebenen Dramas mit Pausen, so, als gehörten sie nicht zusammen. Dann aber gerät sie, von Emotionen getrieben, zunehmend in einen Wortschwall, bei dem es keine Zeilenenden mehr zu geben scheint."
"Es war ein gelegentlich sperriger, aber stets berauschender Theaterabend, mit einer phänomenalen Isabelle Huppert", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (27.8.2024).
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