Auflösung - Schauspiel Leipzig
Die Vermessung der Welt
25. Mai 2022. Christiane Kühl und Chris Kondek, die seit vielen Jahren unter dem Label doublelucky productions performative Abende produzieren, entdecken in Leipzig die Chancen, die hinter einer möglichen "Auflösung" stehen – neue Vernetzungen von Mensch und Natur.
Von Iven Yorick Fenker
25. Mai 2022. Ein Loch hat sich aufgetan, mitten im Boden. Klavierklänge hallen durch den Raum, in dem der Dunst steht. An den Wänden am Eingang, auch aus der Steinhalde wachsen Pilze. Die Säulen der ehemaligen Werkshalle sind gebogen, teils durchbrochen von Stalaktiten und Stalagmiten. Irgendwo tropft es. Irgendwo tönt es. Irgendwo wächst es. Irgendwo wird immer etwas sein, die ganze Zeit.
Daten
doublelucky productions haben in der Residenz, einer Außenspielstätte des Schauspiel Leipzig auf dem Gelände der ehemaligen Baumwollspinnerei, mit "Auflösung" eine begehbare Performance geschaffen, einen hybriden Resonanzraum, in dem tatsächlich alles miteinaner verwoben ist. Hier erheben Chris Kondek, Christiane Kühl und Hannes Strobl Daten. Sie tragen die obligatorischen Overalls und vermessen den Raum, der voller Informationen ist. Sensoren messen die Schallwellen, die Luftfeuchtigkeit, das Licht. Die Kameras halten Momente fest, die auf flachen Bildschirmen gezeigt werden, die an den Säulen lehnen. Außerdem werden dort die Messwerte offenbart: die Bedingungen des Raums, der Luft, die Temperatur, die Lautstärken …
Auf dem Tisch in der Ecke des Raumes druckt ein Drucker durchgehend, unter ihm ein Haufen Fotos, eine Datenerhebung. Dort werden die angefertigten Abdrücke der Säulenstücke aus Knete ausgemessen, Kohleskizzen der Steinschutthaufen verglichen, Notizen über den Forschungsprozess geordnet, die Struktur der Steine gescannt. Hier werden die Daten gesammelt. Dort sind die Ergebnisse der Experimente, die durcheinanderlaufen.
Korrelationen
"Wenn wir eine Geschichte erzählen würden, begänne sie so", kündigt Christiane Kühl immer wieder an. Im Loop spricht sie ins Mikrofon. Denn die Geschichte hat schon begonnen. Die Geschichte ist der Raum, der das Narrativ selbst spinnt. Er ist es auch, der die Antworten gibt. Später sagt Kühl: "Die Korrelationen, sind die Antworten auf die Fragen, die ich nie gestellt habe." Denn der Raum wirkt. Kühl postuliert: "Alles was wirkt, lebt." Also lebt der Raum. Er tönt vor allem, also kann er nicht tot sein.
Zumindest ist er ziemlich in Bewegung. Plötzlich rinnt Sand aus der Decke, ein Riss hat sich aufgetan, und ein feiner, stetiger Strahl dringt in den Raum, der einen weiteren Haufen auf dem Boden bildet, eine weitere Datenerhebung. Dann wird Wasser durch Basswellen in Bewegung gebracht, die dazugestellten Gläser klirren. Glas und Metall schlagen gegeneinander, das Wasser schwappt hin und her. Eine sinnbildliche Symphonie, die sich eingliedert in die Geräusche des Gemessenen. Die Scans der Steine werden zu Schall. Die Maschinen sind laut.
Und immer wieder sind es die Forschungsberichte, die vorgetragen werden. Chris Kondek berichtet von seinen Versuchen, das Loch und den Raum zu ergründen, die Bedingungen zu klären. Doch die Daten ergeben keinen Sinn. Aber immerhin Korrelationen, einen Zusammenhang, und je länger der Abend dauert und die Performance wirkt, wird klar, dass, dieser Logik folgend, natürlich alle Lebewesen im Raum zusammen und abhängig von einander wirken. Das Publikum ist in ein Spinnennetz gelaufen.
Thesen
Das ist das Interessante an der Performance: Sie legt die Bedingungen für das Eintreten in den Raum, das Eingliedern in die Wirkungskette Steine, Sand, Staub, Wasser, Pilze, Luft, Zuschauer:in (und so weiter) von Anfang an offen. Das Publikum verfolgt die Vermessung des Raums und wird selbst vermessen. Kühl sagt: "Der Raum misst dich" und "Du bist Teil des Netzwerks. Du bist die Zelle, die die Fäden spinnt" und "Schöner Zufall, das mit der Spinnerei". Das stimmt. Die Zufälle fallen zusammen, alles (natürlich auch die Menschen) werden eingeebnet in diesen immersiven Informationsfluss. Der Mensch ist ja auch (nur) ein Träger von Informationen.
Dieser quellenden Erkenntnis zu folgen, in diesen Fluss zu steigen ist erfrischend. Alles fließt, nichts bleibt, besonders nicht die Gewissheit der menschlichen alleinigen Autorität im Anthropozän. Soweit die Hypothese. Die Wirkung der Performance bestätigt diese allemal. Doch nur unter der von Kühl aufgestellten Prämisse: "Du kannst nicht rausschauen. Es gibt kein Außen." Wenn dann die Performer:innen am Ende die Fensterfronten von ihrer Verhüllung befreien und das dämmernde Licht in den Raum dringt, dann scheint ein Widerspruch auf, da sich die Autoritäten da draußen eben nicht einfach auflösen. Aber die Widersprüche sollen ja die Hoffnungen sein.
Auflösung
von doublelucky productions
Konzept: doublelucky productions, Video & Imageprocessing: Chris Kondek, Text: Christiane Kühl, Musik & Komposition: Hannes Strobl, Bühne & Kostüme: Heike Schuppelius, Lena Loy, System Architecture & Creativ Technologist: Markus Schubert, Electronics Engineering: Grzegorz Zajac, Licht: Marc Zeuske, Regieassistenz: Valeria Castaño Moreno, Dramaturgische Beratung: Maria Rössler, Arved Schultze, Produktionsleitung: Katja Kettner.
Mit: Chris Kondek, Christiane Kühl, Hannes Strobl, im Video: Video: Julia Berke, Andreas Keller.
Premiere am 24. Mai 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
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