Wer ist das Monster – Du oder ich?

20. Januar 2024. Mit seinem 1897 zuerst veröffenlichten Roman "Dracula" erfand Bram Stoker den berühmtesten Vampir aller Zeiten. Jetzt haben sich Regisseurin Adena Jacobs und Dramatikerin Gerhild Steinbuch den markanten Stoff vorgenommen: mit Bibiana Beglau in der Titelrolle.

Von Andrea Heinz

"Nosferatu" von Gerhild Steinbuch nach Bram Stoker am Wiener Burgtheater © Susanne Hassler-Smith

20. Januar 2024. Es beginnt gleich mit einer guten Dose Bodyhorror: Überlebensgroß auf die Burgtheaterbühne projiziert sehen wir ein unschuldiges, weißes Gesicht mit hellen Haaren. Aus seiner Mitte aber schält sich ein anderes Gesicht heraus, blutüberströmt. Sämiges Theaterblut trieft und fließt überhaupt gerne und viel über die Gesichter und aus den Mündern an diesem Abend, was nicht weiter verwundern darf, heißt das Stück, das gegeben wird, doch: Nosferatu.

Aber wer ist hier denn jetzt das Monster?

Regisseurin Adena Jacobs und Autorin Gerhild Steinbuch haben sich an eine Neuinterpretation des Bram Stoker-Klassikers Dracula gewagt, und dass – bis auf die Figur des Renfield – alle im Original großteils männlichen Rollen von Frauen gespielt werden, bleibt nicht ihre einzige Veränderung. In Steinbuchs (sprachlich brillanter) Fassung erhält auch die "Bestie" Nosferatu (Bibiana Beglau) selbst eine Stimme. Sie ist nicht nur Projektionsfläche, Objekt der Betrachtung anderer (die ihr wiederum zum Objekt ihrer Gewalt werden), sondern handelndes, denkendes, ja, auch leidendes Subjekt. Denn wer hier das Monster ist und wer nicht, das ist – durchaus erwartbar – nicht so eindeutig.

Die Inszenierung lässt Zeit und Raum in eins kollabieren. Der Ort ist zugleich Draculas Schloss, in das Anwältin Harker (Sylvie Rohrer) eingeladen wird, die Nervenheilanstalt der Ärztin (Sabine Haupt) mit Krankenschwester Mina (Safira Robens), Zuhause von Lucy (Lilith Häßle) und ihrer Mutter (Elisabeth Augustin) und Zelle von Renfield (Markus Meyer), auch die Erinnerungs- und Handlungsebenen verschwimmen. Genauso, wie Tag und Nacht, Wach und Schlaf sich verwirren.

Unheimliches Licht, digitale Unendlichkeit

Grandios wird das gespiegelt in einer, man muss es so sagen, genialen Bühnenkonstruktion (gleiches gilt für die Kostüme: Eugyeene Teh): Auf zwei Seiten die holzvertäfelte Fassade eines Gebäudes, irgendwo zwischen Herrenhaus und Scheune angelegt, hinter dessen Fenstern manchmal heimeliges, manchmal unheimliches Licht flackert und Gestalten lugen, bisweilen auch herauskrabbeln. Die blutsaugenden Kreaturen, sie können ja bekanntlich auch an Wänden entlang klettern.

Auf der dritten Seite befindet sich eine LED-Wand, auf der etwa Zauberberg-mäßig Wirbelsäulen-Röntgenbilder zu sehen sind, und von der vierten, offenen Seite aus blickt man auf einen großen gläsernen Sarg, in dem Menschen schlafen sowie gefangengenommen und Versuchen unterzogen werden. Vom Schnürboden winden sich nackte Figuren herunter, die digital ins Unendliche multipliziert und zum Ornament gefügt dann auch digital die Bühne bevölkern (Video: Tobias Jonas, Eugyeene Teh).

Nosferatu c Susanne Hassler Smith 088Heilanstalt oder Schloß? Die geniale Ausstattung von Eugyeene Teh öffnet einen großen Assoziationshorizont © Susanne Hassler-Smith

Überhaupt arbeitet die Inszenierung mit visueller und akustischer Totalüberwältigung. Lärmende Klänge und Videoeinspielungen der sich windenden und umschlingenden nackten Körper bringen den puren Horror auf die Bühne, den Nosferatu in seiner Unsterblichkeit schon erlebt hat – aktiv wie passiv, sozusagen. Der Abend lebt von der dichten Atmosphäre, seiner starken Sprache und dem präzisen Ensemble, das sich gegen die digitale Überwältigung locker behaupten kann.

Wie Mantras tauchen immer wieder aus verschiedenen Mündern dieselben Worte auf. Erinnerungen und Geschichten scheinen von Figur zu Figur zu wandern. "Seit ich Kind bin, ist mein Traumhaus immer schon ein Schloss gewesen" etwa, oder, so etwas wie der Schlüsselsatz des Abends: "Bist du ein Tier oder nicht?" Es gibt Anspielungen im Text, die man durchaus auf die Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich hin lesen kann, und gerade bei den Versuchen im Plexiglas-Sarkophag drängen sich sofort Assoziationen an Menschenversuche und Eugenik auf.

Souveräner Umgang

Aber diese relativ simplen, durchaus nicht neuen Gedanken wie jene, dass manchmal diejenigen die Bestien sind, die andere als solche verfolgen und töten, dass das Andersartige nicht immer gleich das Böse ist, sind es am Ende nicht, die die Inszenierung bemerkens- und sehenswert machen. "Wer ist das Monster – Du oder ich?", das wusste schon Niki de Saint Phalle.

Auf dieser intellektuellen Ebene bleibt der Abend etwas dünn, was aber kein Schaden ist. Seine Stärke liegt in der sprachlichen, rhythmischen Kraft des Textes, der atmosphärischen Überwältigung und nicht zuletzt einem technisch ausgereiften, künstlerisch souveränen Umgang mit digitalen Möglichkeiten, wie man ihn auch nicht alle Tage sieht. Insofern: Ansehen!

 

Nosferatu
nach Bram Stoker von Gerhild Steinbuch
Regie: Adena Jacobs, Bühne und Kostüme: Eugyeene Teh, Video: Tobias Jonas, Eugyeene Teh, Musik: Max Lyandvert, Choreografie: Melanie Lane, Licht: Michael Hofer, Dramaturgie: Christina Schlögl.
Mit: Elisabeth Augustin, Bibiana Beglau, Lilith Häßle, Sabine Haupt, Markus Meyer, Safira Robens, Sylvie Rohrer sowie Gloria Berghäuser, Johanna Maria Bogner, Maja Karolina Franke.
Premiere am 19. Januar 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Not amused zeigt sich Ronald Pohl im Standard (online 20.1.2024). "Dieser ebenso nachtfinstere wie blutunterlaufene Murks von einem Theaterabend versetzte den Großteil des Premierenpublikums in maßloses Erstaunen. Es vergaß zu applaudieren." Gerhild Steinbuchs neo-expressionistischer Text zirkuliere durch den zweistündigen Abend, durchblutee ihn jedoch nur unzulänglich. Aber "im Dramaturginnen-Dunkel, ist besser Munkeln". 

"Wer sich spritzige Dialoge oder sogar Action wie in fast noch aktuellen Blutsauger-Filmserien erwartet, wird wohl enttäuscht sein", so Norbert Meyer in der Presse (online 20.1.2024, €) "Wer aber die fantastische Wortkunst von Burgstars, barocke Bilder und apokalyptische Videos sowie eine fantastische Choreografie (Melanie Lane) erwartet, kommt auf seine Kosten." Die aufwendige Technik fasziniere, ebenso Steinbuchs Sprache. Der Abend aber überwältige vor allem auch durch seine Bildkraft.

Adena Jacobs lege "Ort, Zeit, Raum und Handlung übereinander", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (21.1.2024), die Inszenierung sei "mehr eine Kunstinstallation denn Drama". Das sei "beeindruckend anzusehen", aber "komplett ohne Wirkung". Die "Linien des Romans" oder die "Psychologie der Figuren" nachvollziehen zu wollen, führe "ins Nichts". Der Abend sei eine "Bestandsaufnahme von Nosferatus finsterer Seele", lasse aber kalt.

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