Auf den Spuren des Stichwortgebers

15. März 2024. Der NSU-Terror hat zahlreiche Theaterprojekte ins Rollen gebracht. Laura Andreß und Stefan Schweigert zeigen jetzt, wie ein US-amerikanischer Roman aus den 1970er Jahren zur Inspirationsquelle für die rechten Mörder wurde. Seine Verbreitung ist größer, als man glauben will.

Von Reinhard Kriechbaum

"Playing Earl Turner" am Wiener Theater am Werk © Ali Andress

15. März 2024. Neun Morde an Menschen mit migrantischem Hintergrund, ein Polizistenmord, zwei Sprengstoffanschläge, fünfzehn Raubüberfälle, 43 Mordversuche gingen zwischen 1999 und 2007 auf das Konto der Terrorgruppe NSU. Erst 2011 wurde den Ermittlungsbehörden klar, dass all diese Verbrechen nicht innerhalb migrantischer Milieus geschahen, sondern aus der rechtsextremen Ecke kamen. Von 2013 bis 2018 dauerte schließlich der in München geführte Prozess gegen fünf NSU-Leute. Die als einzige zu lebenslänglicher Haft verurteilte Beate Zschäpe war bekanntestes Mitglied der Terrorzelle, deren Mitglieder aus Thüringen und Sachsen kamen. Während des Monsterprozesses ist auch viel Kritik laut geworden, an den Ermittlungsbehörden und am Verfassungsschutz. Warum beispielsweise wurde so wenig nach Mittätern und Netzwerken gefragt?

Inspiriert zur Radikalisierung

Die Wiener Theaterleute Laura Andreß und Stefan Schweigert trieb nun eher die Frage nach dem ideologischen Unterbau der NSU-Täter um. Ein Profiler des CIA hatte den Behörden nämlich bereits 2006 den Hinweis auf ein Buch gegeben, das unterdessen in der rechtsradikalen Szene als Evangelium gehandelt wird: "Die Turner-Tagebücher", ein Roman des amerikanischen Nationalsozialisten William L. Pierce. Die deutschen Ermittlungsbehörden verwarfen damals diesen wertvollen Hinweis. Nicht nur dem NSU diente das Buch als Blaupause für seine Verbrechen, in einem "Abspann" am Ende des Stücks werden viele Anschläge rechter Terroristen aufgezählt, die alle die Turner-Tagebücher im Regal stehen oder auf der Festplatte abgespeichert hatten. Bis hin zum Oslo-Attentäter Anders Breivik.

"Playing Earl Turner" heißt das Stück, das wegen Corona 2022 erst als Theaterfilm realisiert und im gleichen Jahr zum Fast Forward Festival für junge Regie ans Staatsschauspiel Dresden eingeladen wurde. Jetzt erlebt es im Theater am Werk in Wien am Petersplatz die erste szenische Aufführungsserie. Rasant geht es durch mehr als vierhundert Prozesstage, interpoliert und verschwimmend mit Zitaten aus dem Buch. Alles eingedampft auf sechzig Minuten.

Fließende Identitäten in der Blackbox

Ein Kubus aus Neonröhren ist der imaginäre Zeugenstand. Die drei Performer Simon Dietersdorfer, Nora Jacobs und Simon Mantei wechseln die Rollen so schnell wie die Hemden und Pullover. Sie sind Vernehmer oder Verhörte. Sie sind insistierende Richter und Staatsanwälte oder Verbindungsleute, die zwielichtige Rollen einnehmen zwischen der ultrarechten Szene und dem Verfassungsschutz. Wir hören und sehen Helfershelfer der Terroristen, die jetzt ihre Rollen herunterspielen, aber auch tatsächlich arglose Augenzeugen. Und all diese Leute verschwimmen mit Figuren aus den Turner-Tagebüchern. Dann werden die Stimmen elektronisch verfremdet.

playing earl turner 5 c ali andressIm Zeugenstand: Simon Mantei, Nora Jacobs © Ali Andress

Eine elektronische Variante analog-rasselnder Buchstabentafeln macht optisch etwas her in der Blackbox. Damit man sich einigermaßen auskennt, werden die Namen der jeweiligen Protagonisten und das Vernehmungsdatum an die Wand projiziert, aber grundsätzlich geht es darum, dass in schneller Abfolge die Identitäten ineinander fließen.

Wort- und Nebelgranaten

Was mag diese Menschen bewogen haben, sich zu radikalisieren, was haben sie wirklich aus dem amerikanischen Neonazi-Buch herausgelesen und eins zu eins radikal umgesetzt? Was mag ihre Unterstützer bewogen haben, einfach mitzumachen, Wohnungen zum Untertauchen zur Verfügung zu stellen, angeblich ohne viel zu hinterfragen?

In den Hintergrundprojektionen kann man die drei Protagonisten bei ihren konspirativen Treffen beobachten. Als rötliche schemenhafte Silhouetten zuerst, dann sich konkretisierend, als reale Figuren mit maskierten Gesichtern. Gegen Ende wird einer selbst mit einer solchen Maske im leuchtenden Kubus dastehen.

Der kurze Theaterabend hat Stil, hat Form – was genau ist aber das Ziel? Dass Terrorzellen nicht aus dem Nichts wachsen, das hat sich nicht erst von ein paar Monaten wieder bestätigt, als als die Rechercheplattform Correctiv die geheime Potsdam-Konferenz hat auffliegen lassen. Und nachdem Recherchen jüngst ergeben haben, dass mehr als hundert Rechtsextreme im deutschen Bundestag zugange sind, verwundert es keineswegs, dass die Flut von Wort-Nebelgranaten im schier endlosen NSU-Prozess nicht nur Exekutive und Richterschaft ins Schleudern gebracht hat, sondern von Seiten der "Staatsmacht" aus welchen Gründen auch immer mit befeuert worden ist. So gut gemeint das Dokumentartheater "Playing Earl Turner" ist, muss man auch zugeben: Theater hinkt der rechtsdrehenden Wirklichkeit unserer Tage fast zwangsläufig hinterher.

 

Playing Earl Turner
von Laura Andreß und Stefan Schweigert
In Kooperation mit dem Theater am Werk
Konzept, Recherche, Text: Laura Andreß, Stefan Schweigert, Regie: Stefan Schweigert, Dramaturgie: Laura Andreß, Komposition und Sound Design: Simon Dietersdorfer, Bühnenbild: Lucas Fischötter, Video- und Lichtdesign: Martin Siemann, Kostüm: Andrea Simeon.
Mit: Simon Dietersdorfer, Nora Jacobs, Simon Mantei.
Premiere am 14. März 2024
Dauer: 1 Stunde, keine Pause 

www.theater-am-werk.at

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