Bäumchen wechsel dich

9. Juni 2023. Mehr Installation als Stück ist dieses Werk, in dem der Bühnenbildner Jozef Wouters die Mitarbeiter*innen seines Brüsseler Decorateliers auf die Bühne bittet und sie ihre künstlerische Gemeinschaft feiern. Mit Bildern, Musik und Geschichten.

Von Andrea Heinz

Verschwinden in der Illusion: Das Teatro Olimpico im Bühnenbild von "A Day is a Hundred Years" © Ilia Teirlinck

9. Juni 2023. Zuerst ist da nur das Mittelportal des Teatro Olimpico in Vicenza, schief in die Bühne des Theater Odeon eingepasst und, in unzähligen, immer kleineren Prospekten hintereinander gestaffelt, die Illusion von Perspektive erzeugend. Am Fluchtpunkt ist die Öffnung des Portals klein wie ein Mauseloch. Jozef Wouters "A Day is a Hundred Years", im Mai am Toneelhuis in Antwerpen uraufgeführt und nun von Festwochen-Intendant Slagmuylder für seine letzte Saison nach Wien geholt, beginnt ganz ohne Menschen, alles spielt sich irgendwo in den Schichten dieser unscharfen Reproduktion eines italienischen Renaissance-Theaters ab. Zu den Live-Klängen eines Cembalos führen die einzelnen Prospekte eine Choreografie auf, hüpfen, tanzen, biegen das immer kleiner werdende Portal zu einem sich windenden Wurmloch.

Atelier-Gemeinschaft

Man merkt schon: Hier sind Bühnentechniker*innen am Werk – kein Wunder, betreibt Bühnenbildner und Theatermacher Wouters im Brüsseler Stadtteil Molenbeek doch die Werkstatt Decoratelier. Zentrale Figuren des Gesamtkunstwerk-artigen Projektes bilden auch die Besetzung des Stückes: Barry Ahmad Talib, Maya Dhondt, Micha Goldberg, Naomi Quashie und Kamal Tall.

A day is 2 Illias TeirlinckDas Bühnen(bild)-Ensemble von "A Day is a Hundred Years" © Illias Teirlinck

Irgendwann erscheint in der hintersten Portalöffnung eine Hand, auf ihrer Innenfläche ein silbernes Auge. Es sind Augenlichter, denn wenn diese Augen ins Publikum gerichtet sind, sind es zugleich auch die gleißenden Scheinwerfer. Die Hand gehört zu Barry Ahmad Talib, einem Künstler aus Guinea-Conakry, der nun in Brüssel lebt und im Decoratelier so etwas wie der Hausmeister ist. Um ihn und um die Gruppe, die das Decoratelier im wahrsten Sinne des Wortes bespielt, dreht sich die vage Handlung des Abends: Seine Erinnerung an die Zeit in Guinea, als er dort für einen Sendeturm eines Mobilfunkunternehmens zuständig war und den Ort inmitten einer kleinen Baumgruppe zu einem Treffpunkt für die Menschen der Umgebung machte. Auch im Decoratelier dreht es sich am Ende um Gemeinschaft, darum, zusammenzukommen, Geschichten zu erzählen, gemeinsam etwas zu schaffen.

Hello Gentrifizierung!

Mehr als aus Geschichten besteht "A Day is a Hundred Years" aber aus Bildern, aus Musik, Bewegung und Atmosphäre. Hinter dem offenen Portal wird ein weiteres Prospekt vom Schnürboden gelassen, es zeigt die Tür des Decoratelier. Eine Tür, die zentral wird für den restlichen Abend: Hier tauchen Personen auf und klingeln, manchmal werden sie auch hineingelassen. Die Drehbühne fungiert beinah als Akteurin, Barry Ahmad Talib treibt sie mit "Bouge!" ("Beweg dich!"), und hält sie mit "Stop" an. Auf ihr "fahren" die Akteur*innen zur Türe, gehen über die Schwelle, sofern sie hineingelassen werden, und tauchen hinter dem Prospekt wieder auf. 

A day is 1 Illias Teirlinck
Prospekt oder Bäumchen wechsel' Dich... © Illias Teirlinck

Vor allem der Mittelteil des mit 75 Minuten sehr kompakten Abends macht großen Spaß, auch, wenn Barry Ahmad Talib der Türklingel zu westafrikanischen Klängen ein Lied singt (der Inhalt in etwa: die Klingel ist viel zu laut, wobei manche Leute auch ganz vorsichtig klingeln, und wenn gar niemand klingelt, ist es auch irgendwie trist). Doch, so grundsympathisch dieser Abend und seine Menschen sind, irgendwie zerfasert die Sache und die 75 Minuten werden zwischenzeitlich ganz schön lange. Ein neues Prospekt ersetzt das alte, das Rendering eines modernen Baus, der die schäbige Häuserzeile ersetzen soll, in der das Decoratelier sich momentan befindet: Glasfassade statt abweisender Tür zwischen beschmierten Wänden. Hello Gentrifizierung, my old Theaterbühnen-Friend. Aber nicht nur darum, um Fragen nach Offen- und Geschlossenheit, Sicht- und Unsichtbarkeit soll es gehen, kann man dem Programmheft entnehmen, und das kann viel und nichts bedeuten.

Musik + Spiel + Form

In Summe aber ergibt es, so sehr das alles auch mit Bedeutung und Symbolen aufgeladen wird, keine wirklich überzeugende Geschichte. Was auch gar nicht sein muss. Am besten ist dieser Abend, wenn man sieht, wie viel Spaß die Beteiligten haben, wenn sie das tun, was vermutlich auch das Decoratelier ausmacht: Ihrer Fantasie freien Lauf, Musik auf Spiel auf Form treffen lassen. Zum Schluss wird eine Reihe flirrend-bunter Bäume hereingeschoben, nach dem Ende der Vorstellung versammeln sich zahlreiche Besucher*innen noch, um sie zu bewundern und zu fotografieren. Es sind wohl jene Bäume, die Barry Ahmad Talib aus Abfallholz und alten Teppichen schafft.

A Day is a Hundred Years
von Jozef Wouters
Regie und Bühne: Jozef Wouters, Kostüme: Lila John, Licht und Musik: Michiel Soete, Dramaturgie: Bryana Fritz.
Mit: Barry Ahmad Talib, Maya Dhondt, Micha Goldberg, Naomi Quashie, Kamal Tall.
Wien-Premiere am 8. Juni 2023 im Theater Odeon
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

"Eine geglückte Performance", findet Helmut Ploebst im Standard (10.6.2023). Talib baue große, bunte Baumskulpturen zu einer Installation der Träume zusammen, Wouters reize das Drehmoment maximal aus und unterstreichte das Improvisierte als Ausdruck künstlerischer Lebendigkeit.

Weniger angetan ist Thomas Trenkler im Kurier (10.6.2023): "Wouters macht liebevoll analoges Theater. Über eine
harmlos-poetische Selbstbespiegelung mit Augenzwinkern kommt der höflich beklatschte Abend aber nicht hinaus."

Härter ins Gericht geht Thomas Kramar in der Presse (10.6.2023) mit dem Abend, den er als "hohle Selbstbespiegelung einer Kulturszene" liest, der offenbar hauptsächlich fad sei. "Mit Mühe kann man zeitweise dem Spiel mit den Kulissen einen Reiz abgewinnen, aber der hält keine 75 Minuten. Vielleicht sagt das Stück Brüssler Bohemiens, die den Ort gut kennen, mehr? Man muss kein erklärter Sparefroh sein, um festzustellen: Es als Festwochen-Koproduktion nach Wien zu holen war den Aufwand nicht wert."

 
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