500 Jahre tot und immer noch da

26. Mai 2023. Milo Rau hat Sophokles' "Antigone" ins heutige Brasilien verlegt und mit indigenen Landbesetzern erarbeitet. Ein Lehrstück für die ökologischen Kämpfe unserer Tage. Nach der Premiere in Gent vor wenigen Wochen ist die Produktion jetzt im Burgtheater bei den Wiener Festwochen zu sehen.

Von Reinhard Kriechbaum

"Antigone im Amazonas" von Milo Rau bei den Wiener Festwochen © David Baltzer

26. Mai 2023. In der Amazonas-Region Pará, dem nördlichsten und politisch gewalttätigsten Bundesstaat, gleiche Brasilien "weniger einer Nation als einem ökonomischen Prinzip", hat Milo Rau kürzlich in der Zeitung "Der Standard" geschrieben. Zwischen 2019 und 2022 haben er und sein Team vom NTGent dort mit Menschen zusammengearbeitet, die eines der blutigsten Massaker an einer wirtschaftlich entscheidenden Fernverkehrsstraße erlebt haben. 1996 sind neunzehn Protestierende von der Militärpolizei erschossen worden. Einige Menschen haben noch lebhafte Erinnerung daran. Teils sind sie Aktivisten bei der weit über eine Million Menschen starken "Bewegung der Landlosen" (MST). In vier Jahrzehnten haben diese widerständigen Leute immerhin einer halben Million Familien (Über)Lebensmöglichkeit durch Grundbesetzungen aufgetan.

Neoliberalismus gegen ökologisches Gleichgewicht

In dieser wirtschaftlich und politisch brisanten Region hat Milo Rau die "Antigone"-Geschichte des Sophokles angesiedelt. Seine Parallele: Thebenkönig Kreon steht für Gesetze, die er zum eigenen Machterhalt geschaffen hat. Indem Antigone darauf beharrt, ihren toten Bruder zu begraben, beruft sie sich auf eine alte, quasi naturgegebene Weltordnung. Kreon verkörpert das übermächtige neoliberale kapitalistische System, Antigone das Leben im Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur.

Vier Schauspieler auf der schwarzen Bühne, links einige Musikinstrumente, rechts ein Tisch mit Plastiksesseln. Ein Garderobenständer. Erdiger Boden. Auf die gelegentliche Aufforderung der Schauspieler – Video bitte! – fahren drei Leinwände aus dem schwarzen Nichts herunter. Die einprägsamen Videoaufnahmen sind das Herzstück der Produktion. Wir erleben Szenen aus dem Antigone-Spiel in Brasilien und bekommen viel vom Lebensumfeld der Leute mit.

Antigone Amazonas 3David BaltzerSara De Bosschere als Kreon © David Baltzer

Aber erst einmal will das brasilianische Setting ausführlich erklärt sein, die politische Rolle der "Bewegung der Landlosen" vor allem und ihre Bedeutung als Chor. "Nichts ist ungeheurer als der Mensch" – vertrauter Sophokles. Aber dann sogleich der Schwenk in den Amazonas-Urwald. Das Ungeheuer Mensch, das rücksichtslos abholzt und Flüsse aufstaut, das "die Kinder der Wälder dazu zwingt, ihre Heimat zu vergessen" und ihr Land okkupiert hat. Das Problemfeld ist rasch und eindeutig abgesteckt.

Zwischen Bühne und Video

Im Chor vor allem stecken Stimmen und politische Botschaften der Indigenen. Die vier Leute auf der Bühne, die natürlich auch in Brasilien dabei waren, erzählen ausgiebig davon, wie sie die Situation erlebt haben, wer von den dortigen Mitwirkenden sie besonders bewegt, zum Nachdenken gebracht hat. Das ist interessant und lehrreich, nicht durchgängig mitreißend, manchmal auch nahe am Schulfunk, aber doch immer wieder mit kräftiger Theaterpranke auf die Bühne gebracht.

Es wird Portugiesisch und Niederländisch gesprochen, Deutsch und Englisch übertitelt. Zu lesen hat man also ausreichend. Die indigene Aktivistin und Schauspielerin Kay Sara (sie hat schon 2020 online die Eröffnungsrede der Wiener Festwochen gehalten) spielt in den Videos die Antigone. Nach Europa ist sie jetzt nicht geflogen. Ihren Text spricht hier auf der Bühne Frederico Araujo, wogegen Sara De Bosschere den Kreon gibt. Was die vier Darsteller spielen, ist eigentlich immer nur eine Verdoppelung der Videosequenzen.

Der Protest stirbt zuletzt

Im Video erscheint auch der indigene Philosoph Ailton Krenak als Seher Teiresias. Solche Seher treten bei den antiken Stücken immer erst dann auf, wenn das Unglück schon voll in Fahrt ist, wird einmal angemerkt. Er sagt: "Die Zeichen hängen über unseren Köpfen", man brauche sie also nur zu lesen und zu beherzigen. Vor dem Tod habe er keine Angst, denn er und Seinesgleichen seien "schon 500 Jahre tot und immer noch da". Sorgen machen ihm wir in der Alten Welt, denn wir sind die Apokalypse noch nicht so gewöhnt.

Unter Flammenschein geht die "Antigone"-Geschichte ihrem doppel-suizidalen Ende zu, aber weil das Leben auch im abholzungsgefährdeten Amazonaswald weiter geht, will die Aufführung dann doch nicht so sang- und klanglos aufhören. Der Protestwille stirbt zuletzt, das ist eine trostreiche Botschaft. Die Lektion des Abends, dass man die Urwaldbäume besser stehen und die Bewohner unter würdigen Verhältnissen und im Einklang mit sich und der Umwelt wirtschaften lassen sollte, haben wir mitgenommen. Das Festwochen-Publikum sparte nicht mit Standing Ovations.

Antigone im Amazonas
von Milo Rau
Konzept, Regie: Milo Rau, Text: Milo Rau & Ensemble, Dramaturgie: Giacomo Bisordi, Mitarbeit Dramaturgie: Martha Kiss Perrone, Douglas Estevam, Assistenz Dramaturgie: Kaatje De Geest, Carmen Hornbostel, Mitarbeit Konzept, Recherche, Dramaturgie: Eva-Maria Bertschy, Musik: Elia Rediger, Pablo Casella, Bühne: Anton Lukas, Kostüme: Gabriela Cherubini, Anton Lukas, Jo De Visscher, Licht: Dennis Diels, Video: Moritz von Dungern, Schnitt Video: Joris Vertenten Video Making-Of: Fernando Nogari, Regieassistenz: Katelijne Laevens.
Mit: Frederico Araujo, Pablo Casella, Sara De Bosschere, Arne De Tremerie; im Video Kay Sara, Gracinha Donato, Célia Maracajà, Ailton Krenak, Chor der Aktivist:innen von Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra – Bewegung der Landlosen (MST).
Premiere am 25. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

"Eine eigentümlich zarte Aufführung, der gleichwohl weder die Wucht der Wut noch das große Pathos abgeht", hat Egbert Tholl erlebt, wie er in der Süddeutschen Zeitung (27.5.2023) schreibt. Vieles sei hier beklemmend, weil beide Tragödien – die antike und die der Landlosen in Brasilie – ineinanderflössen. Und Tholl bemerkt etwas, was früheren Rau-Abenden Abging: "Demut".

Das Spötteln werde einem nicht leicht in Raus emphatischem Theater, so Thomas Kramar in der Presse (27.5.2023). "Videos setzen der Ungeheuerlichkeit des Menschen - von Sophokles im berühmten Chorstück beschworen, das in ‚Antigone im Amazonas‘ beinahe wörtlich gesprochen wird - die ebenso herrliche Maßlosigkeit der Natur entgegen, doch sie regieren die Bühne nie allein. Der Chor der Landlosen, der Philosoph, sogar die eigentliche Antigone-Darstellerin Kay Sara - die verkünden lässt, dass sie fortan ‚nur mehr Kunst für meine Leute machen’ wolle - sind zwar nur virtuell anwesend, aber in ständiger Wechselwirkung mit den Schauspielern auf der Bühne." Das funktioniere "wirklich ungeheuerlich gut".

Politik und Kitsch, Theater und Aktivismus gingen in "Antigone im Amaozonas" "interessante Verbindungen ein, die Agitprop wird durch die poetische Vielschichtigkeit der Antigone angereichert und gebrochen, dem Betroffenheitstheater die Reflexion des eigenen Tuns gegenübergestellt", so Stephan Hilpold im Standard (26.5.2023). "Raus Methoden werfen viele Fragen auf, nicht zuletzt jene nach dem eigenen kolonialistischen Blick und Zugriff. Sie zu diskutieren gehört zu den anregendsten Aspekten heutigen politischen Theaters. Standing Ovations."

Wie Rau Antike und Gegenwart zusammenbringe, pulverisiere nicht jeglichen Deutungsaufwand schon vorab, schrieb Jakob Hayner in der Welt (22.5.2023) bereits nach der Uraufführung in Gent. "Umgekehrt sogar: Die antike Tragödie wird einem selbst fremd." Alles, was man über "Antigone" zu wissen meinte, werde fragwürdig. Der Abend stürze einen in eine Fremdheit, die jedem Vorwurf kultureller Aneignung spotte. "Hier geht es wie bei Montaigne um Selbstkritik im Konflikt. Bei Rau heißt das: Die Kunst kann die Gewalt transzendieren, egal wo."

Zwiespältig fällt die Begutachtung des Kritikers Uwe Mattheiss von der taz (30.5.2023) aus. Der Film sei am stärksten, "wo er jenseits des Antigone-Motivs die ökonomischen und lebensweltlichen Strategien von Menschen zeigt, die mit hochdifferenzierten kulturellen Kompetenzen ausgerüstet in zwei Welten leben, ihre Kinder morgens indigene Kosmologie und mittags Mathematik lehren“. Mit einer Erfahrung mehr und ohne 'Geschichte' vom Amazonas zurückzukehren, sei im Kunstkontext allerdings keine Option. Und so würden dann doch "alle medialen und dramatischen Konventionen aufgeboten, die zuverlässig Emotionen erzeugen". Für Mattheiss offenbar ein Ärgernis. "Dem Unwohlsein, den Jubel und stehende Ovationen hervorrufen, möchte man mit einer der letzten Einsichten antworten, die das Theater der Welt noch entgegenbringt: 'Glotzt nicht so romantisch!'"

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