Bewusstseinsplätschern mit doppeltem Boden 

von Dirk Pilz

Wien, 5. Juni 2008. Es gibt an diesem Abend einen kleinen, quadratischen, giftgrün angemalten Holzrahmen, der unversehens ins Erzählzentrum dieser anderthalb Stunden Performance-Theater rückt. Anfangs steckt er an einem schmalen Schauspielerinnenfuß. Später werden die sechs Darsteller abwechselnd auf ihm balancieren, sich über ihn beugen oder ihn betont lässig überschreiten, werden ihn zuweilen majestätisch von links nach rechts tragen, mitunter auch einfach vergessen, dann aber plötzlich mit der Stirn auf ihn einschlagen oder vor ihm in die Knie sinken. 

 

Aus einem unspektakulären Spielobjekt wird so ein heiliges Ding: Das Holzquadrat mutiert gleichsam zum Schrein, zum Schatzkästlein der ureigenen Erinnerungen und Sehnsüchte, Verluste und Ängste – und bleibt dabei als bloßer Rahmen die Umgrenzung einer schnöden Leere. Ein schönes Symbol für das, wovon der japanische Regisseur Toshiki Okada mit seiner ausgestellt experimentellen Stückentwicklung erzählen will: Sie zeichnet ein fragmentarisches Bewusstseinsgemälde der (nicht nur) japanischen Gegenwartsgesellschaft.

Wiederkehr des Immergleichen 

Denn wo früher Familie und Religion offenbar sinnstiftenden Zusammenhalt schuf, gähnt heute – sagt uns diese Inszenierung – ein Loch, notdürftig gestopft mit Ersatzritualen. Eines der beliebtesten ist für die arbeitende japanische Großstadtbevölkerung der tägliche Kurzzeitbesuch in einem der so genannten "Famires", gern in Bahnhofsnähe gelegenen "Familienrestaurants": die täglich halbe Kaffee-Stunde mit den meist immergleichen Menschen als Frei-Zeit vom Arbeits- und Alltagstrott.

So will auch der Titel, "Freetime", verstanden werden. Der Text selbst, ebenfalls von Okada, versammelt dabei Prosabrosamen aus dem Denk- und Gefühlsstrom einer Frau. In distanzierender Erzählhaltung und mit wechselnden Erzählerrollen werden ihre mehr oder – meistens – weniger belangvollen Hirn- und Herzbewegungen veröffentlicht, wird also berichtet, wie sie gerade noch den Zug schafft, wie ein Betrunkener sie an den toten Großvater erinnert, wie sie im Sommer über ihren Schatten sinniert.

Dass sich die Sätze und Erinnerungen dabei wiederholen, von anderen übernommen und auf andere übertragen werden, die Assoziationsübergänge dabei gesucht abrupt und die Szenenwechsel betont spröde sind, alles das ist so naheliegend wie genau deshalb leider auch ermüdend: Okada versucht den rituellen Charakter des Kaffeehausbesuches zu erforschen, indem er das Grundmuster aller Riten schlicht kopiert.

Das Anrührende und Erhabene

Er setzt seine Spieler auf die Wiederholungsschleife. Und weil das Bewusstsein wie alle rituelle Handlungen immer im Kreis fährt, lässt er seine Gedanken-Schausteller reihum auf ein Blatt Papier rote und schwarze Kreise malen bis sie zu einem roten und schwarzen Loch geworden sind: Der Bewusstseinsstrom im Kreisverkehr. Es kommt einem eher wie ein laues Bewusstseinsplätschern vor.

Gleichzeitig sind die sechs barfüßigen Erzählspieler auf der Bühne aus flachen Tischen und in den Boden eingelassenen Stuhllehnen aber immerfort mit merkwürdig ruckenden Bewegungen beschäftigt, die übergangslos von somnambulen Schrittchen zu abgehackten Arm- und Handverdrehern wechseln. Sie scharren mit den Füßen, messen mit den Händen die Tische aus oder fläzen sich unterspannt auf den weißen Teppich.

Es ist ein angetipptes Tanzen, das sich zusehends zum gewichtigen Gegentext auswächst, indem es dem oberflächenverliebten Gedankengeriesel einen doppelten Boden einzieht. Es gibt auf diese Weise wunderbar leise, absurde, auch komische Momente, die das Anrührende und Bettelnde, zuweilen auch Erhabene aller Rituale verbildlichen. In den eindringlichsten Szenen ahnt man die Partitur jener stummen Musik, die eine Ritusgemeinschaft zu vereinen versteht. Ihr Zentrum aber bleibt hohl, denn ihr Zentrum ist ein Holzrahmen, dessen giftige Farbe ein Nichts einhegt.


Freetime
von Toshiki Okada (in japanischer Sprache mit deutschen Übertiteln)
Regie: Toshiki Okada, Bühne: Torafu Architects, Koichi Suzuno, Shinya Kamuro, Musik: Atsuhiro Koizumi, Sangatsu.
Mit: Taichi Yamagata, Luchino Yamazaki, Kei Namba, Tomomitsu Adachi, Mari Ando, Saho Ito.

www.festwochen.at



Kritikenrundschau

"Die ganze Komplexität" der "kurzen von den Zwängen des Alltags weitgehend befreiten Zeitspanne" entfalte dieser Abend, schreibt Margarete Affenzeller im Standard (7.6.) Die Inszenierung ist dabei "eine Ansammlung performativer Überlagerungen, in der Sprache und Körper auseinanderfallen und in der innerhalb des Erzählstrangs subjekte wie objektive Perspektiven wechseln". Die Besonderheit an Okadas Technik sei "das "Belassen" der Schauspieler in ihrer natürlichen Präsenz, in ihren individuellen Eigenheiten. Das führt dazu, dass Gesten und (leider auch) Sprechweisen des real gelebten Lebens in die Arbeit miteinfließen und erhalten bleiben: Verlegenheit, Ratlosigkeit oder Schüchternheit". Die "jeweiligen Unterschiede" könne man "an den Körpern" ablesen. "Muss aber nicht, denn bei vollkommener Enthierarchisierung der theatralischen Darstellungsmittel genügt schon die Gesamtlandschaft. Bei eineinhalb Stunden inklusive Pause (!) war sie leider nicht wirklich groß genug."

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