Sire, geben Sie Datensicherheit!

von Stefan Schmidt

Bochum, 7. November 2015. Dieser Don Karlos war eigentlich mal Michel aus Lönneberga. Also, korrekt muss es natürlich heißen: Schauspieler Torsten Flassig, der in der neuen Bochumer Schiller-Inszenierung den Kronprinzen von Spanien gibt, war am selben Haus auch schon als Lausejunge von Schweden zu sehen.

Statt in eine Suppenschüssel steckt er seinen Kopf jetzt bei Bedarf in einen Sandhaufen. Der Junge im Mann ist aber geblieben. Und das ist gut so: Mit seinem kindischen Trotz, seiner naiven Verliebtheit, seinem verspielten Idealismus, seinem stürmischen Vertrauen, seinem spitzbübischen Lachen und den oft rasend roten Wangen wird Torsten Flassig zum Kraftzentrum dieses Abends, der ansonsten nicht so recht zu einem Kern finden will, sich stattdessen in den Umlaufbahnen allerhand erwartbarer Ideen verliert.

Die Macht ist ein Eisblock

Dabei ist Regisseur Jan Neumann eigentlich gut für starke Bilder. In Bochum hat er das zum Beispiel mit seinen Inszenierungen von "Wassa Schelesnowa" und "Die Ehe der Maria Braun" unter Beweis gestellt. Und auch in diesem "Don Karlos" gibt es Momente, in denen sich ahnen lässt, was möglich gewesen wäre, wenn das Produktionsteam nicht partout zum ganz großen Rundumschlag hätte ausholen wollen: Wenn Torsten Flassig etwa zum Ende hin einen riesigen Eisblock über die Bühne schleppt, das frostige, an seiner nackten Brust schmelzende Monstrum zärtlich umarmt, dann wird die menschliche Kälte des Machtbetriebs, an der dieser junge Kronprinz zugrunde geht, geradezu physisch spürbar.

don karlos3 560 Diana Kuester uMarquis Posa bei König Philipp II.: Daniel Stock und Jürgen Hartmann  in der BND-bundesdeutschen Ahnengalerie © Diana Küster
Und ja: Wir haben es mit einem Überwachungsstaat zu tun, in dem es natürlich unmöglich ist, dass dieser Don Karlos unbeobachtet Briefe oder gar Zärtlichkeiten mit seiner Stiefmutter, der neuen Frau des Königs, austauscht, die einmal ihm versprochen war. Diese relative Aktualität des Stoffes hat vor mehr als zehn Jahren Andrea Breth schon sehr eindrücklich am Wiener Burgtheater herausgearbeitet, und nach ihr fand unter anderem auch noch der derzeitige Chef am Bochumer Schauspielhaus, Anselm Weber, in einer Essener Inszenierung Gefallen an dieser Deutung.

So überrascht es wenig, dass nun Jan Neumanns Bühnenbildnerin Dorothee Curio die neue Zentrale des Bundesnachrichtendienstes in Berlin als Projektionsfläche und Fototapetengrundlage für ihre schräg nach oben verlaufende Bewegungsfläche der Figuren am behaupteten Hof zu Madrid gewählt hat. Natürlich inklusive dem vergrößerten Bild einer Überwachungskamera und der Kopie einer der künstlichen Palmen im Vordergrund, über die vor anderthalb Jahren medial gerätselt worden ist, ob es sich um Kunst am Geheimdienstneubau oder um Überwachungsantennen handele. Bei Neumann/Curio haben wir es selbstredend mit einer mediterranen Spitzelstange zu tun, die immer wieder bedeutsam blinkend von der einen Seite der Bühne zur anderen gefahren wird, tatsächlich aber nur vermeintlich vielsagende Staffage ist.

In der Ahnengalerie der deutschen Bundeskanzler

Ähnlich verhält es sich mit den Porträt-Bildern aller deutschen Bundeskanzler (vor Angela Merkel), die zum Höhepunkt von Schillers dramatischem Gedicht dergestalt auf dem Boden neben dem spanischen Thron platziert werden, dass die Zuschauer sie auf einer Spiegelfläche im Hintergrund unschwer erkennen können. So ringt der Marquis von Posa, Karlos' Jugendfreund, unter den Augen von Helmut Kohl und Gerhard Schröder rhetorisch um die Zukunft von Flandern und Brabant, verteidigt im Angesicht von Konrad Adenauer und Willy Brandt die auch religiös Abtrünnigen vor dem katholischen König.

Warum der Marquis (Daniel Stock) aber ausgerechnet in der Ahnengalerie des Kanzleramtes um "Gedankenfreiheit" betteln muss (immerhin wird an dieser Stelle mal nicht geschrien), bleibt andeutungsvoll rätselhaft. Bevor die Bilderreihe bundesdeutscher Machtmenschen zu große Bedeutung entfalten kann, wird sie ohnehin zügig wieder ab- und in eine Ecke geräumt. Ebenso schnell, wie Posas viel zitierte Freiheitsansprache aus Schillers Text in der ziellosen Spielflut der Inszenierung verpufft.

Wie eine Kulissenbaustelle

Am Schluss wird sich der gemeuchelte Marquis vor eine Wand der Ikonen stellen, die sich jenseits der großen Spiegelfläche im Bühnenhintergrund auftut: die Freiheitsstatue inmitten der Denkmäler von Lenin, Mao und Freddy Mercury, stellvertretend für all die großen Ideen, von denen Schiller noch keine Ahnung haben konnte. Dahinter ragen abgebrochene Holzlatten empor. Die BND-Bühne ist ein Gerüst, das auch zu den Seiten hin unfertig ist, worauf markante weiß-rote Absperrbänder hindeuten. Und wie eine ambitionierte Kulissenbaustelle wirkt auch dieser Schillerabend an sich, der zwar meist durchaus souverän mit der Textgestalt umgeht, aber mit seinen eigenen Ideen und Gedanken noch zu keinem rechten Ende gekommen ist.

Am konsequentesten ausgeleuchtet scheint dabei das Private, auch dank den selbstbewusst, nuancenreich und klug agierenden Schauspielerinnen Minna Wündrich (großartig zerrissen als Prinzessin Eboli, die sich in ihrer Liebe zu Karlos zurückgewiesen fühlt und daraufhin zum Werkzeug des Unglücks wird) und Juliane Fisch (die der Königsgemahlin Elisabeth eine ausgesprochen heutige Weiblichkeit im Reifrock verleiht). Die gesellschaftlich-politische Schlagkraft des Textes verfliegt dagegen im Unentschiedenen. Es wirkt, als ginge es dieser Inszenierung wie dem Don Karlos des spielfreudigen Torsten Flassig, der sich zwischenzeitlich auf dem Thron des Vaters wiederfindet – aber mit den Füssen nicht mehr (oder: noch nicht) den Boden berühren kann: Der schöne Theaterabend in Bochum – er pendelt im Ungefähren.

 

Don Karlos
von Friedrich Schiller
Regie: Jan Neumann, Bühne: Dorothee Curio, Kostüme: Nini von Selzam, Musik: Camill Jammal, Dramaturgie: Kekke Schmidt.
Mit: Jürgen Hartmann, Juliane Fisch, Torsten Flassig, Therese Dörr, Elisabeth Kratz, Minna Wündrich, Daniel Stock, Herzog von Alba, Raiko Küster, Bernd Rademacher, Florian Lange, Bettina Engelhardt, Damir Avdic, Lilly Frei / Amy Dreier / Lilli Mooshage / Elise Spohr.

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Wer das Stück nicht kennt, wird Schwierigkeiten haben, dem Geschehen in all seinen Verwicklungen zu folgen, zumal oft zu schnell und damit unverständlich gesprochen wird", schreibt Ronny von Wangenheim in den Ruhrnachrichten (8.11.2015). Lediglich das "beeindruckende Bühnenbild" von Dorothee Curio sorge für Aktualisierung des Stoffs. Der Regisseur sehe "Don Karlos" als eine Mischung aus Liebestragödie und Politthriller. "Am eindringlichsten wird der dreieinhalbstündige Theaterabend, wenn es um die privaten Verwicklungen geht", so von Wangenheim. Immerhin: "Damit wird es auch zu einem Abend für Torsten Flassig, der in der Titelrolle seinen endgültigen Durchbruch feiern könnte."

"Schnell wird klar: Regisseur Jan Neumann will vor allem das Macht- und Intrigengewebe in Schillers Tragödie als zeitlos aktuelles Spiel darstellen und verfällt dabei in eine mitunter plakativ wirkende Zwangsaktualisierung", deutet es Sven Westernströer in der WAZ (8.11.2015) anders. Aber auch er sieht in dem Abend keinen Erfolg: "Vielleicht liegt es am übergroßen Respekt vor dem Text, die Neumanns Regie-Ideen unentschlossen und letztlich farblos wirken lassen." Neumanns Schauspielerführung hingegen sei "eine echte Augenweide", und so mache das "starke Ensemble" "manche Länge und ein nicht ganz schlüssig wirkendes Regiekonzept" vergessen.

Unentschieden findet Marin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (19.11.2015) Jan Neumanns Regiezugriff auf diesen Schiller. Bis zur Pause hat der Kritiker den Eindruck, Neumann habe eine "textfromme Variante gewählt". Die Spieler "werfen sich ihre gedrechselten Sätze zu, wie's im Buch steht"; nur die Bühne von Dorothee Curio "realisiert entschieden ein paar Ideen zu viel", wenn sie die die Themen "Überwachung" und "autoritärer Staat" hier "so deutlich bebildert". Nach der Pause wiederum "hagelt es (...) nur so von Regieeinfällen". Eine Haltung zu den Figuren finde die Inszenierung nicht.

 

Kommentare  
Don Karlos, Bochum: langweilig und grauenhaft
Die Inszenierung war leider lang, langweileilig, plakativ und grauenhaft inszeniert. Das Bühnenbild stand dem in nichts nach. Ich war froh als die 3 endlosen Stunden endlich vorbei waren!!!
Don Karlos, Bochum: Premieren nicht mehr ausverkauft
Ich war zu ermattet, um beim Herauskommen des Regieteams auf die Bühne ein Buh in den Raum zu schicken; es hätte auch die SchauspielerInnen getroffen, was für den mich beeindruckenden Torsten Flassig und die spielfreudige Minna Wündrich ungerecht gewesen wäre. Die Enttäuschungen häufen sich in Bochum und die Premieren sind auch nicht mehr ausverkauft...
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