Hedda Gabler - Roger Vontobel streckt in Bochum die Waffen vor Henrik Ibsen
Ein Platz für Tiere
von Andreas Wilink
Bochum, 15. März 2014."So etwas tut man doch nicht", Ibsens berühmtes Schlusswort, ist gestrichen. Also auch der Pistolenknall, mit dem sich Hedda Gabler aus der Welt schießt. Muss sie auch nicht. Tote beziehungsweise Untote brauchen ihr Leben nicht mehr zu beenden. "So etwas tut man doch nicht", könnte man freilich dem Regisseur Roger Vontobel entgegenhalten, der vor dem Stück und der Titel-Frau kapituliert. Er streckt die Waffen, die Hedda selbst nicht zum Einsatz bringt. Ersetzt sie durch die Instrumente plattester Symbolik und formiert die Figuren des Stücks am Ende zum Gruppenbild, angereichert um elf Kinderlein und Papa Gabler, die alle den verdächtig gleich rot geschminkten Mund zur Schau tragen, was immer das zu bedeuten hat.
Damit nicht genug. Dieser General Gabler, den der Besetzungszettel Ibsens nicht kennt, spukt den ganzen Abend lang einher: ein – bei Gisbert Görke – kleinwüchsiger Mensch, der mit grellem Lachen und ebensolcher Gesichtsbemalung aus den Kulissen klettert und in der Fantasie-Uniform eines Operetten-Popanzes sein Unwesen treibt. Wie das rote Kapuzenmännchen im Venedig-Drama "Wenn die Gondeln Trauer tragen" als Wiederkehr des Verdrängten, Todesbote und Heimholer ins süße Jenseits. Auch damit noch nicht genug. Am Schluss tragen Hedda, Tesman und die anderen Tiermasken und Insektenköpfe. Die bürgerliche Gesellschaft als entindividualisierter Ameisenstaat?
Vergiftete Natur
So fängt es auch an im Bochumer Schauspielhaus: mit Blüten und Bienen, Flora und Fauna. Die Natur sprießt, begattet sich, spritzt auch mal Gift, ist ungezähmt und triebhaft. Ins projizierte wilde Video-Idyll wächst der Mensch, das traurige Tier, als Mann und Frau, Vater und Tochter hinein. Los geht's. Dafür muss erst die Schutzfolie runter, mit der die ovale Bühne (Claudia Rohner) abgedichtet und bespannt ist. Auch der Innenraum wurde mit Plastik verpackt und beklebt. Ein Provisorium. Eine Behausung, kein Heim.
Die Waffe als phallisches Objekt? "Hedda Gabler" in Bochum (huckepack: Jana Schulz)
© Arno Declair
Auftritt Hedda: Jana Schulz, wie ein Rockstar nach unausgeschlafener Nacht im schwarzen Anzug und mit dunkler Sonnenbrille, fläzt und rekelt sich auf der Matte, um dann vandalisch den restlichen Kunststoff von der Sperrholz-Kabine herunterzureißen. Noch später wird sie als strippende Feuer- und Windsbraut Eilert Lövborgs Manuskript (sein Kind) verbrennen und sich zu dröhnendem Heavy Metal abarbeiten am Demolieren der Häuslichkeit.
Spukendes Vater-Phantom
Luft zum Atmen kriegt diese "Hedda Gabler" trotzdem nicht, wenn der Raum nun auch frei liegt. Vielleicht ist es nicht Jana Schulz' Rolle. Jedenfalls nicht in Vontobels Inszenierung, obschon diese Schauspielerin doch im Wüten gegen sich selbst und beim Bohren in sich hinein groß sein kann. Hier hat sie keine Chance, obgleich sie zwischendurch wie eine offene Rasierklinge scheint: lauernd, lässig, lazy, und Thea Elvstedt, wenn sie diese aushorcht, zwischen die Beine fasst und sie nicht nur zu Geständnissen, sondern auch zum Höhepunkt bringt.
Jana Schulz als Hedda, Minna Wündrich als
Thea Elvstedt © Arno Declair Die der Hedda inne wohnende, auch gegen sich selbst gerichtete Zerstörungskraft tritt hier aus ihr heraus und wird delegiert an das putzig-böse, clownesk grinsende Daddy-Gespenst: Geisterbahn-Psychologie. Im übergroßen Schattenriss hantiert Hedda mit den Pistolen, wobei nochmals die filmische Expedition ins Pflanzen- und Tierreich abgespult wird. Die Waffen sind phallische Objekte, Hedda hat sich nicht gelöst vom Vater-Phantom. Sie ist Tochter und kann nicht Frau werden. Oder nur als Vollstreckungsorgan des Toten. Sie kann kein Selbst werden. So wird sie zur unfertigen, überflüssigen, sich selbst überdrüssigen und gar verhassten Frau.
Die Lebensferne moderner Heddas
Schon gar nicht kann sie Mutter werden. Stammelnd bringen sie und Tesman ihre Elternschaft nicht über die Lippen und öffnen eine Kinder-Kiste, in der wie Jack in the Box das General Gabler-Monstrum hockt und der blaue Luftballons entsteigen.
Mit Hedda – Tochter, Ehefrau, Liebhaberin, Freundin, ungewordene Mutter und Selbstmörderin – wird man nicht leicht fertig. Das funktionierte auch bei letzten Versuchen nicht. Seltsam gepanzert und gestanzt in Posen und Stereotypen waren zwei jüngere Heddas, Nina Hoss bei Stefan Pucher am Deutschen Theater Berlin und am Thalia Theater Hamburg Patrycia Ziolkowska bei Jan Bosse: komische Idole und lebensferne Götzen. Das war doch mal anders. Es gab ernsthafte Versuche, diese Frau zu fassen, auch wenn sich ihr Wesen widerspenstig der Festlegung entzieht. Bei Vontobel ist sie vom Vater-Spuk kalt gestellt und zur Fühllosigkeit verdammt, was in der Theorie richtig sein mag, aber bühnenpraktisch nicht aufgeht.
Bedeutungs-Attrappen
Die Aufführung, mehr alberne Komödie als Seelen-Thriller, hat keine Größe. Nimmt man den Rahmen auseinander und die Bedeutungs-Attrappen weg, bleibt ein konventionelles, mittelmäßiges, unbeherztes, aufgemotztes Spiel: mit einem strizzihaften Richter Brack (Matthias Redlhammer) als breit- und steifbeinigem Urban Cowboy, einer äußerlich ökobewegten Thea (Minna Wündrich), einer pastellfarbig kecken, gar nicht tantenhaften Jule Tesman (Katharina Linder), einem treu-doofen und harmlos-naiven Jörgen Tesman (Felix Rech) und einem ebenfalls schwarz gekleideten Untergangs-Berserker Lövborg (Florian Lange).
Während eine Etage tiefer die Psycho-Wracks strampeln, sitzt Lövborg, nun ebenfalls als Untoter, aber ohne Tier-Larve der einzig wahre Künstler-Mensch, auf dem oberen Bühnenrahmen: blutig entmannt vom Schuss in den Unterleib. Intellektuelle Entmannung ist auch seinem Regisseur zu attestieren.
Hedda Gabler
von Henrik Ibsen
Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel, Fassung von Anita Augustin und Roger Vontobel
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Kostüme: Tina Kloempken, Musik: Daniel Murena, Video: Clemens Walter, Licht: Bernd Felder.
Mit: Jana Schulz, Gisbert Görke, Florian Lange, Katharina Linder, Felix Rech, Matthias Redlhammer, Minna Wündrich sowie ein Dutzend "Gabler Kids.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, ohne Pause
www.schauspielhausbochum.de
Jana Schulz spiele "gewohnt physisch und gewohnt großartig", auch wenn die Zentrierung der Regie auf sie gelegentlich auf Kosten der anderen Protagonisten gehe, schreibt Jürgen Boebers-Süßmann in der WAZ (17.3.2014). Ein Gesellschaftsdrama sei dieser Vontobel-Ibsen nicht (mehr). Der Abend fessele trotzdem, und zwar "gleichermaßen durch die groß aufspielenden Akteure und durch die einnehmende Optik". Das Premierenpublikum habe es an Beifall nicht missen lassen für eine "konzeptionell möglicherweise zu eindimensionale Inszenierung, die gleichwohl starke Theaterbilder im Kopf zurücklässt".
Für Vontobel ist Hedda, so ließen es Videobilder von Blüten, Ameisen und Bienen vermuten, die Königin eines Insektenstaates. "Lauernd, gnadenlos, zerstörerisch." Schreibt Ronny von Wangenheim in den Ruhrnachrichten (17.3.2014). Die Schauspieler seien allesamt überzeugend in ihrem Spiel. Nicht ganz so einfach mache es der Regisseur den Zuschauern. Vontobel sehe Heddas Handeln in der Beziehung der Generalstochter zu ihrem toten Vater begründet. "Dafür hat er eine neue Figur geschaffen. Der kleinwüchsige Gisbert Görke taucht immer wieder als Papa Gabler in einer Fantasieuniform, mit grotesker Clownsschminke und dämonischem Lachen aus den Kulissen auf." Was immer Hedda Gabler auch tue, ihren Vater werde sie nicht los.
"Ein Trauerspiel mit Horror-Momenten" hat Achim Lettmann für den Westfälischen Anzeiger (17.3.2014) gesehen. Vontobel weite Ibsens psychologisches Drama auf die "Krankheit unserer Zeit" aus: "Visionslosigkeit, oder wie soll es weiter gehen?" Sein Gradmesser werde dabei Jana Schulz, die mit Sonnenbrille und teilgeschorener Haarpracht die androgyne Variante dieser Dramengestalt abliefere. "In ihrer Nähe ist es explosiv." In den Videos von Clemens Walter rauschten Blüten, Insekten, Pflanzen und Tiere in Doku-Film-Ästhetik "als vitale Symbole für Leben und Tod" über die verbliebenen Noppenflächen. "Das ewige Leben wirkt fies und fiebrig."
Die Inszenierung weiche immer wieder in Albernheiten aus, so Andreas Rossmann in seiner Sammelkritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.3.2014). So werde das Verbrennen von Lövborgs Manuskript zum rockmusikalisch aufgedonnerten Höllenspektakel. "Ohne Zwischentöne wird sie Ibsens Drama nicht gerecht, denn die Bochumer Hedda nimmt die Frauenrolle, mit der sie einen Konflikt hat, gar nicht erst an." Deshalb sei Jana Schulz eine furiose Fehlbesetzung: "Hedda gegen den Rest der Welt".
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(Sehr geehrte Sibylle, nur kurz zur Erläuterung: nachtkritik.de wird von zehn RedakteurInnen und rund fünfzig ständigen AutorInnen gemacht. Es ist nicht das Portal eines Einzelnen. Mit freundlichen Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Aber trotzdem war nicht alles so schlecht, wie es Herr Willik darstellt: schöne Bilder, stimmige Musik und Jana Schulz und Matthias Redlhammer haben wieder einmal gezeigt, dass sie zu den Besten im Ensemble gehöhren.
Die halbe Crew der wunderbaren Nibelungen war involviert. Und doch spürt man schon nach wenigen Minuten: diesmal passt es nicht. Die so einzigartige Jana Schulz müsste eigentlich eine grandiose Hedda Gabler spielen können, doch immer wenn man meint: "Jetzt geeeht's lohoos!", dann wird sie von der Inszenierung "zurückgepfiffen" durch manch skurrile Einfälle, wobei man dem an Stephen King erinnernden Generalsvaterclownliliputaner irgendwann zurufen möchte: "Ist ja gut! Wir haben es verstanden!!"
Felix Rech spielt seinen Tesman routiniert herunter, Matthias Redlhammer hätte mit seinem Othello Generalsmantel auch anders aushelfen können, Florian Lange - wieder einmal als Betrunkener besetzt - ist eine große Enttäuschung. Der eigentlich für das Drama so wichtige Lövborg bleibt konturlos. Minna Wündrich deutet manchmal an, dass sie die bessere Hedda gewesen wäre.
Wenn man auch 24 Stunden nach einer Aufführung rätselt, was man eigentlich gesehen hat, dann ist es entweder hochgradig innovativ oder kompletter Nonsens. Leider, Roger, diesmal: zero points, no points, keine Punkte.
@ Gernot Karpenstein: Der Kritiker schreibt in Bezug auf Vontobel von "intellektueller Entmannung". Was das ist, bleibt schleierhaft. Heisst das, Vontobel habe keinen Intellekt bzw. Verstand, welcher klischeehaft dem typisch Männlichen zugeschrieben wird?