Lampedusa - Olaf Kröck inszeniert die deutschsprachige Erstaufführung von Anders Lustgarten in Bochum
Radikaler Optimismus
von Gerhard Preußer
Bochum 11. März 2016. Der Mensch ist gut, die Gesellschaft ist böse. Die böse Gesellschaft macht die guten Menschen böse. (Böse heißt hier "kapitalistisch, materialistisch", gut dagegen "antikapitalistisch, postmaterialistisch".) Aber die böse gewordenen Menschen können sich aus diesem gesellschaftlichen Zwang befreien und ihre Güte in individuellen oder kollektiven Akten menschlicher Solidarität wiedergewinnen. Das ist das schlichte gedankliche Gerüst der Weltanschauung, die sich "Aktivismus" nennt. Anders Lustgarten, der Autor des in Bochum zum ersten Mal auf Deutsch gespielten Stückes "Lampedusa", ist ein Aktivist.
Auf vier Kontinenten im Gefängnis
Aber auch ein Theaterautor, der Störenfried unter den britischen Dramatikern, belächelt und geachtet, in Deutschland fast unbekannt. Sein charmanter, deutsch klingender Name führt in die Irre. Er ist Engländer mit amerikanisch-jüdisch-ungarischem Hintergrund. Um Theaterautor sein zu können, meint er, muss man etwas erlebt haben. Und das hat er: Promotion über Politik in China, Bildungsarbeit mit Gefangenen in den USA, Häftlingstheater in London, Beteiligung an Entwicklungshilfeprojekten in Afrika und im Nahen Osten. Zu seiner Selbstinszenierung gehört die Aussage, auf vier Kontinenten habe er schon in Gefängnissen gesessen. Eigentlich hält er wenig vom Theater: "80% des Theaters ist bürgerliche Wichserei". Noch weniger hält er vom deutschen Theater: "Es ist sehr abgehoben, mit einer arktisch kalten Distanz". Die Reflexionsschleifen des deutschen Theaters à la Nicolas Stemann oder Milo Rau scheinen ihn nicht zu interessieren. Was ihn am Theater interessiert, ist die emotionale Wirkung.Es sieht nicht nach Wasserspaß aus und es ist auch keiner: Raiko Küster und Juliane Fisch auf "Lampedusa". Die Insel liegt im Bochumer Schauspielhaus. © Diana Küster
Elendsszenarien mit Hoffnungskern
Die Struktur seines im letzten Jahr in London uraufgeführten Stückes "Lampedusa" ist schlicht: zwei ineinander verwobene Monologe, deren Parallelität erst langsam deutlich wird. Stefano, ein ehemaliger Fischer auf der italienischen Insel Lampedusa vor der Küste Libyens, verdient sein Geld mit Leichenfischen. Er muss die ertrunkenen Flüchtlinge aus dem Meer bergen. Denise, eine britisch-chinesische Studentin, muss sich in einer nordenglischen Stadt ihren Lebensunterhalt als Schuldeneintreiberin verdienen. Sie arbeitet für eine Firma, die für horrende Zinsen den Ärmsten kurzfristige Kredite gibt. Zwei Menschen, die an weit entfernten Orten in einem politischen System mitarbeiten, das sie selbst ruiniert.
Aus diesen Elendsszenarien wird ein Hoffnungskern herausgeschält: menschliche Sympathie und Freundlichkeit. Stefano kann in einem Sturm die Frau eines malischen Flüchtlings, mit dem er sich angefreundet hat, retten. Denise hilft einem ihrer Kreditopfer und ist überrascht von deren Zuneigung und gibt ihren menschenverachtenden Job auf. "Warum können Menschen so freundlich sein? Ganz unglaublich!" Aus zwei Sprachrohren tönen die Sentenzen des Autors. Ein "radikaler Optimist" will Anders Lustgarten sein.
Gimme shelter, die Schuldeneintreiberin vor den Kleiderbergen der Ertrunkenen: Juliane Fisch
© Diana Küster
Das innergesellschaftliche Elendseiland
Die Inszenierung des Chefdramaturgen - und designierten Bochumer Interimsintendanten für 2017/18 - Olaf Kröck versucht dem schmalen Stück etwas Breite zu geben: Auf der Bühne leuchtet ein bunter Haufen von Kleidungsstücken im Dämmerlicht (Bühne: Dorothea Lütke Wöstmann). Die beiden Figuren stehen zunächst isoliert im knöchelhohen schwarzen Wasser. Während sie abwechselnd ihre Geschichten erzählen, immer im druckvollen, anklagenden Ton, durchsetzt mit sarkastischen Pointen, steigert sich die Bewegung. Stefano (Raiko Küster) fischt weitere Kleidungsstücke aus der Brühe, während er seine Arbeit mit den Ertrunkenen detailliert schildert. Auf dem Höhepunkt der Erzählungen, wenn Denise (Juliane Fisch) durch den Tod ihrer Mutter quasi auch zur Leichenfischerin in der Tiefsee der Sozialhilfeempfänger wird und Stefano im Sturm 57 Leichen und drei Überlebende birgt, knallt Denise die Kleidungsstücke auf das Wasser, wühlt das flache Bühnenmeer auf, dass es bis in die erste Reihe spritzt, während Stefano in einer kleinen Klappkiste sitzt. So wird das statische Erzähltheater aufgelöst und damit werden auch die beiden anfangs steifen Schauspieler gelockert. Die Inszenierung gesteht ihnen einige zaghafte Interaktionen zu, die der strikten Eigenständigkeit der Monologe widersprechen, aber die Gemeinsamkeit ihrer Situation und ihrer Anklage unterstreichen: Es gibt auch ein innergesellschaftliches Lampedusa.
Erleichtertn bis das Denken wiederkommt
Lustgarten vertraut auf die altmodische Kombination von Recherche, Fiktionalisierung und Personalisierung. In Bochum zeigt sich: emotionale Wirkung kann man damit erreichen. Nach den geschilderten und gedanklich nachvollzogenen Schrecklichkeiten wirkt die so naive Wendung zum Guten unwiderstehlich. Freudig erleichterter Beifall. Bis das Denken wieder einsetzt.
Lampedusa
von Anders Lustgarten, Deutsch von Stefan Kroner
Deutsche Erstaufführung
Regie: Olaf Kröck, Bühne: Dorothea Lütke Wöstmann, Kostüme: Janna Banning, Dramaturgie: Alexander Leiffheidt.
Mit: Raiko Küster, Juliane Fisch.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspielhausbochum.de
Dorothea Marcus von Deutschlandradio Kultur hält "Lampedusa" für ein Stück über Mitgefühl und die Möglichkeiten von Humanität. Es gehe dem Autor Lustgarten um "neoliberale Prozesse, emotional erzählt". "(T)heoretische Fragen von Repräsentation und Authentizität werden nicht gestellt: Ein deutscher Autor hätte ein so fast naiv utopisch-menschliches Drama wohl kaum so geschrieben." Regisseur Olaf Kröck gehe das vorsichtig an, aber durchaus klug. Heraus komme "ein emotional ergreifender, utopischer Abend über Hoffnung und Selbstermächtigung“, bei dem man sich fast schäme, doch etwas Negatives anmerken zu müssen. "Denn einiges ist an 'Lampedusa' dann doch etwas zu einfach: Flüchtlinge vor allem als menschliche Bereicherung einsamer Europäer zu sehen, spricht zwar zum Herzen, führt aber auch nicht aus den Problemen heraus."
Max Florian Kühlem von den Ruhr Nachrichten (aufgerufen: 14.3.2016) findet, Kröck gelinge das Kunststück, ein monologisches Stück lebendig werden zu lassen und zutiefst zu berühren. "Seine sehenswerte Inszenierung entfacht Gefühle, die anderes Nachdenken über die Flüchtlings-Krise ermöglichen."
Ralf Stiftel vom Westfälischen Anzeiger (14.3.2016) findet, Lustgarten habe ein "Gutmenschenstück" geschrieben, das mit sympathischer Wut Partei ergreife. Die Hauptfiguren "Denise und Stefano vertreten die richtigen Werte: dass man den Afrikanern auf den Booten helfen soll, dass man besitzlosen Opfern des Kapitalismus nicht die letzten Habseligkeiten abnehmen darf." Raiko Küster und Juliane Fisch würden den "Sprachrohren des Autors" so suggestive wie eindringliche Gestalt geben und ihre Charaktere mit großem Identifikationswert zeichnen. Das ändere aber nichts am zentralen Problem des Abends. "Zwei Monologe ergeben kein Drama, auch wenn Kröck zwischendurch die beiden zusammenbringt, und sie dann andeutungsweise Teil der Erzählung des anderen werden." Dass sie sich einmal küssen, sei ein zärtlicher Moment, aber es ergebe keinen Sinn im Ablauf des Textes.
Der Anspruch, unbedingt aktuell sein zu müssen, lähme einmal mehr das Theater und begrenze seine Möglichkeiten, schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.3.2016). Lustgartens "Kunstgriff des 39 Jahre alten Aktivisten und Autors, der zwei Monologe miteinander verschränkt, bleibt Konstrukt". Die Monologe seien zu glatt und alltagssprachlich, um dringlich oder gar existentiell zu werden. "Die Gegenfiguren treten nicht auf, kein Dialog findet statt, gesellschaftliche Zusammenhänge werden nur plakatiert." Regisseur Olaf Kröck versuche, dem schlichten Werk mit einer Bebilderung aufzuhelfen, die es bedeutungsschwer überhöhe. "Jede Fernsehreportage, jede Fotosequenz aus Idomeni geht mehr unter die Haut."
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Absurd, da so drueberzufahren, Herr Kitikaster.