Unterm Apfelbaum

von Martin Thomas Pesl

Wien, 9. September 2012. Eine Hochzeit, ein Komet, viele gar nicht so glückliche Gäste, zwei Schwestern, eine davon die närrische Braut, die andere eher verbissen. Diese Zutaten teilt Justine del Cortes "Der Komet" mit dem letztjährigen Filmerfolg Melancholia von Lars von Trier. Gut, die jetzt am Wiener Burgtheater uraufgeführte Tragikomödie der gebürtigen Mexikanerin verläuft vollkommen anders als das Leinwandopus des Dänen.  Dennoch wandert die Assoziationskette unweigerlich zu von Triers dänischem Kollegen Thomas Vinterberg, an dessen erfolgreiche Familiendramen ("Das Fest", "Das Begräbnis") das Stück, zumindest im ersten Teil, sehr wohl erinnert.

Feste haben ja auch ein unglaublich praktisches dramatisches Potenzial, das hier durch die Ausgangssituation noch weiter gesteigert wird: Elisabeth hat die Gäste zehn Jahre nach ihrer Hochzeit mit Arthur nochmals in einem paradiesischen Garten mit Apfelbaum unweit eines Sees zusammengetrommelt. Der See liegt in Roland Schimmelpfennigs Uraufführungsinszenierung, für die er mit Silvia Platzek zusammen auch die Bühne entworfen hat, im Foyer des Akademietheaters, der Apfelbaum erblüht auf der Bühne und wird mit Lampions dekoriert. Sonst: Tische, Stühle, ein paar Requisiten – der textfokussierte Regisseur Schimmelpfennig und die Autorin, die auch seine Lebenspartnerin ist und mitinszenierte, erlauben nicht, dass irgendwas vom Stück und den bis zur Kostümbeschreibung hin äußerst genauen Regieanweisungen ablenkt.

Ein Satyrspiel und allerlei persönliche Dramen

Ein bisschen ist es also wie in Elisabeths Neuinszenierung ihres "schönsten Tages im Leben", auch wenn sie darin weit weniger erfolgreich ist als das Regieteam: Eins zu eins soll alles nachgestellt werden, bis hin zum Insektenstich, zum Seitensprung im Schilf und zur missglückten Torte. Elisabeth möchte sich auf diesem Wege glückliche Ereignisse vergegenwärtigen, um später im Tode von ihnen träumen zu können. Allein diese Grundidee tritt Reflexionen los, über Erinnerung und den Drang, sie zu verzerren, oder darüber, wie hybrid der Wunsch des Menschen doch ist, sein Leben selbst zu schreiben wie ein nachstellbares Theaterstück, dabei aber "authentisch" zu bleiben. Die Tragikomik dieses zum Scheitern verurteilten Versuchs kommt in Sylvie Rohrers Darstellung einer starrsinnigen, aber eben auch enthusiasmierbaren Kindfrau im Brautkleid voll zur Geltung. Wie eine strebsame Schauspielerin, die sich vorgenommen hat, nicht aus der Rolle zu fallen, egal, wie unprofessionell die Kollegen sind.

komet1 560 reinhard werner uHochzeitsrevival: "Der Komet" am Wiener Burgtheater. © Reinhard Werner

Und unprofessionell sind sie. Bemüht, aber halbherzig spielen die Gäste mit. So trägt die 17-jährige Isabel (im besten Sinne unscheinbar: Anna Drexler) dasselbe Kleidchen wie einst mit sieben und wird glatt zum Mittagsschläfchen verdonnert, das sie aber nicht hält. Dafür hat das Hoppe-hoppe-Reiter-Spiel, für das Bräutigam Arthur sie auf seinen Schoß setzt, mittlerweile eine ganz andere Anmutung. Ist er doch ein selbst ernannter Satyr mit übersteigertem Sexualtrieb, der natürlich mit allen weiblichen Gästen schon was hatte und gerne immer wieder hätte, allerdings unfruchtbar ist. Fabian Krügers geiler Bock ist eine Spur zu diabolisch geraten. Vera, die Brautschwester (furios frustriert: Sabine Haupt) hat zwar seit zwei Monaten ein Baby, glaubt aber nicht recht an die (Mutter)Liebe und lässt ihren eingeschüchterten Mann Nick (Peter Knaack) die Arbeit machen. Greta (wie so oft tragisch leidend: Corinna Kirchhoff) musste ihre Karriere an den Nagel hängen, um alleinerziehende Mutter zu sein – und so weiter. Das alles wird verhandelt, während die Gäste zum Beispiel auf Elisabeths Anordnung Kränze flechten. So wird zwar viel geredet, aber auf der Bühne ist trotzdem was los, und im ersten Teil entfaltet sich ein unterhaltsames Ensembledrama mit eher mehr gelungenen als erzwungenen Pointen und mit Figuren, denen man gerne zusieht.

Konzentriertes Handwerk

Knapp vor der Pause jedoch kippt der Plot in den Surrealismus, als ein mittlerweile gestorbener Hochzeitsgast von vor zehn Jahren sich materialisiert. Anything goes? Der zweite Teil ist dann ein dionysischer Tanz, ein einziges esoterisches Ritual. Alle springen entrückt um die Tafel, teilen dabei im Suff ihre vereinzelt durchaus profunden Gedanken über das Leben und den Tod mit, die große Melancholia hält Einzug, einer taucht im See unter und vielleicht nie wieder auf. Schade: Was konkret begann und eben dadurch (beziehungsweise durch die konkrete Gestelltheit) interessant war, entfernt sich im Rausche der zweiten Hälfte immer weiter vom Zuseher, und als dann Arthur Dinge sagt wie: "Wenn es die Theater nicht gäbe, wären die Irrenanstalten und die Gefängnisse überfüllt", hört man daraus nur noch die Autorin, wie sie einen Satz tippt, der ihr offenbar wichtig ist unterzubringen.

Der Premierenjubel bleibt dennoch nicht aus. Wie so oft beim Subgenre "aus dem Ruder laufendes Familienfest" ist das hauptsächlich den Schauspielern und der Schauspielerführung zu verdanken. Figuren, die auch als schrille Karikaturen gezeichnet werden könnten, erhalten durch konzentriertes Handwerk Identifikationspotenzial, und so gelingt es, dass der Zuschauer sich gar nicht recht eingestehen mag, letztendlich ein ambitioniertes Boulevardstück gesehen zu haben.

 

Der Komet (UA)
von Justine del Corte
Regie: Roland Schimmelpfennig, Justine del Corte, Bühne: Roland Schimmelpfennig, Silvia Platzek, Kostüme: Lane Schäfer, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Sylvie Rohrer, Fabian Krüger, Sabine Haupt, Peter Knaack, Dorothee Hartinger, Corinna Kirchhoff, Anna Drexler, Barbara Petritsch, Martin Reinke, Petra Morzé, Martin Schwab.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

"Am spielfreudigen Ensemble liegt es nicht, dass dieser Komet im Akademietheater nicht so recht einschlägt", bilanziert Günter Kaindlstorfer im Deutschlandfunk (10.9.2012). Sylvie Rohrer, Fabian Krüger, Martin Reinke, Corinna Kirchhoff und eine hinreißende Dorothee Hartinger hauchten der Hochzeitsgesellschaft komödiantisches Feuer ein. Nach der Pause aber habe Justine del Corte ihr Stück mit albernen Gags und pseudotiefsinnigen Exkursen überfrachtet. Da hätte man dem Rezensenten zufolge "energisch streichen müssen".

Die Autorin versuche, möglichst viel unter einen Hut zu bringen: Heiterkeit, Tragik, schlagfertige Konversation, Satire, Schlacht der Geschlechter, Kulturgeschichte, Satyrspiel mit Dionysos als Pate, Esoterik, Naturmystik,  schreibt Barbara Petsch in Die Presse (11.9.2012). "Del Corte mischt locker Tief- und Flachsinn." Was die Inszenierung angeht, habe hier "offenkundig einer gefehlt, der kühn gestrichen und in diesem überbordenden und durchaus auch einfallsreichen Text die Spreu vom Weizen getrennt hätte."

"Erster Teil: vorwiegend platter Boulevard", urteilt Margarete Affenzeller in Der Standard (11.9.2012). Auch Unmengen Chablis, im Schaffel eingekühlt und stets in fusselig geredete Kehlen geschüttet, könnten die scheinbar übermäßige Brünftigkeit der anwesenden Personen nicht kühlen. "So recht glauben will man das alles aber nicht. Am allerwenigsten die Todesfürchtigkeit, die Justine del Corte diesen Menschen aufbürdet." Im nach der Pause folgenden Satyrspiel versuchten Autorin und Regisseur den schwermütigen Subtext des Stücks geballt nachzureichen, das Trauma von nachwirkenden Kriegen, die Gewissheit von der Schlechtigkeit des Menschen. "Das führte zum endgültigen Stillstand des Abends."

"Die bis auf die Textmenge nicht sehr geforderten, dabei durchwegs sehr passablen Mimen passen nicht immer zu den Rollen, die Rollen wiederum bleiben recht klischeehaft", schreibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.9.2012). Und fragt sich: "Was geht das alles uns an?" Das könne Roland Schimmelpfennig, der regiemäßig den Text seiner Frau wortgetreu umsetze, in ziemlich lange weilenden dreieinhalb Stunden Aufführungszeit nicht klären. "Vielleicht war es nicht des Burgtheaters bester Einfall, einen Familienbetrieb gleichzeitig auf und hinter der Bühne einzurichten."

Aus der gekonnt zynischen Satire schwärme Justine del Corte in den Mythos vom Dionysischen aus, in eine allumfassende Geschichte von Altern und Tod. Und lande mitten im Kitsch eines Pseudosommernachtstraums mit tödlichem Schluss, schreibt Ulrich Weinzierl in der Welt (11. September 2012). "Das ist nicht notwendig gewesen." Leicht hätte die Regie durch beherztes Kürzen Schlimmes verhindern können. "Aus der Vorlage wäre ohne Zweifel etwas böse Vergnügliches, durchaus Bühnentaugliches zu machen." Roland Schimmelpfennig verzichte in seiner vorbildlichen Gattentreue darauf und lasse das Publikum den Becher bis zur bitteren Neige leeren. "Kaum zu glauben, aber wahr: Es erinnert an drittklassiges Stadttheater, an ein Stelldichein von lauter Knallchargen." Jeder Ton wirke aufgesetzt, belastet vom Fluch des Gekünstelten, völlig Unnatürlichen. "Am liebsten würden wir nach diesem Trauerspiel einen Scheidungsprozess anstrengen: Justine del Corte und Roland Schimmelpfennig mögen auf ewig getrennt sein. Nicht von Tisch und Bett, bloß vom Arbeitstisch."

"Der Komet schmiert ab", diagnostiziert Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (11.9.2012). Das Stück sei über eine weite Strecke seiner 120 Seiten ein großes Lesevergnügen. Aber die Inszenierung: "Selten hat man so viele (elf) Burgschauspieler so schlecht gesehen." Keiner passe in seine Rolle. "In dreieinhalb unendlich langen Stunden lässt Schimmelpfennig, minutiös die Anweisungen befolgend, die Darsteller Text aufsagen und jede Nuance des Chargierens grausam durchexerzieren." Man könne nur hoffen, ein zupackender Regisseur nehme dereinst del Corte das Stück weg und inszeniere es mit Tempo, mit echtem Ernst, mit Härte, "so gut, wie es der Text verdient."

 

Kommentare  
Komet, Wien: verglüht
Es wäre mehr gewesen, wenn ... irgendjemand den Mut gehabt hätte, weniger draus zu machen. Gartenpartys sind ja was Feines. Aber so in Echtzeit, drei lange Stunden, auf die Bühne gestellt – da verglüht irgendwann auch das letzte lustige Dekolämpchen.

Roland Schimmelpfennig inszenierte am Akademietheater "Der Komet", ein Stück seiner Frau Justine del Corte. Eine Tragikomödie. Zumindest beim Lesen. Für die Uraufführung setzte das Künstlerpaar auf Lacher.

Die gab’s reichlich. Und zu Recht. Trotzdem: Es wäre mehr gewesen, wenn ... das Unglück all dieser Charaktere, die Verletzungen, Verstörungen, Versäumnisse, die Leben mit sich bringt, spürbarer gemacht worden wäre.

So watete man durch Untiefen, wo man in Abgründe hätte blicken sollen.

Das Herzstück der Handlung ist nämlich herzzerreißend. Elisabeth, die Hauptfigur, will sich vorsätzlich eine schöne Erinnerung schaffen. Besser gesagt: Diese wiederholen, indem sie ihr Hochzeitsfest von vor zehn Jahren eins zu eins nachstellt. Vom Insektenstich, der zum Allergieschock führte, bis zur missglückten Torte.
Der Freundeskreis spielt bemüht, aber halbherzig mit. Einerseits will man Elisabeth, die unter einem ständig seitenspringenden Ehemann leidet, eine Freude machen, andererseits ist jedoch jeder mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.

Die stellen die Burg-Kräfte dar, als ob sie in zwei Parallelproduktionen agierten.

"Echt" trifft exaltiert.

So wirken etwa Sylvie Rohrer als Elisabeth und Fabian Krüger als Göttergatte und Gott in Weiß (Chirurg!) wie einem Griechendrama entsprungen. Er ein selbst ernannter Satyr mit entsprechendem Sexualtrieb, sie changierend zwischen enthusiastisch und elegisch.

Ähnlich überspannt agiert Dorothee Hartinger als mannstolle Anna – outrieren, bis das Kleid platzt und den Blick auf ein himmelblaues Höschen freigibt.

Einzig Corinna Kirchhoff als abgetakelter Bühnenstar überzeugt auf diese Art.
Wie anders hingegen Sabine Haupt und Peter Knaack, die sich als Vera und Nick an ihrer Hassliebe (er: Liebe, sie: Hass) aufreiben. Oder die wunderbare Barbara Petritsch, die als Alkoholikerin die trockensten Kommentare des Abends absondert. Martin Reinke überzeugt als gescheite, gescheiterte Schriftstellerexistenz.

Mit kleinen, gemeinen Gesten machen sie das Stück zu dem, was es sein könnte.

Nach der Pause, als das Fest ins Dionysische kippen soll, wird’s nur noch fad. Martin Schwab taucht als Toter (Lungenkrebs!) auf und Petra Morzé als Sterbehelferin. Über die Figuren ist alles erzählt, ihre Konflikte liegen auf dem Gartentisch.

Klüger ist keiner.

Es wäre also mehr gewesen, wenn ... (siehe oben).

Stück: Ambitioniert-unterhaltsam. Heiter-melancholisch wie französische Filme. Dem Drang der Autorin nach Küchenphilosophien, wie "Das Schlimmste ist, auf sein Leben zurückzublicken und nicht die eigene Handschrift zu erkennen", wäre zu widerstehen gewesen.

Regie: Zeichnet sich nicht durch Courage zum Zugriff aus. Zog leichte Lacher dem Zeigen von seelischen Abgründen vor.

Darsteller: Wenn Werktreue dem Werk nicht hilft, werkelt eben jeder vor sich hin.
Kommentar schreiben