Die Ratten - Andrea Breth feiert mit Gerhart Hauptmanns Drama am Burgtheater Wien noch einmal die hohe Kunst des psychologischen Naturalismus
In die Ecke getrieben
von Gabi Hift
Wien, 27. März 2019. Mit einem scharfen Knall fährt der eiserne Vorhang in die Höhe und sofort breitet sich von oben eine Atmosphäre diffuser Angst im Raum aus wie eine giftige Wolke. Auf der Bühne dreht sich ein Labyrinth aus meterhohen Stellwänden aus dreckigem, gewelltem Plexiglas. Alles ist mit Müll und Zeitungsfetzen bedeckt, und in manchen Winkeln hocken bedrohliche meterhohe Ratten. Menschen laufen gehetzt durch den Raum, und noch bevor man an den Kostümen erkennt, dass man sich ungefähr in den Dreißiger Jahren befindet, hat man schon instinktiv die Stimmung von heute eingeatmet, die Hektik der Getriebenen, die vor dem Abstieg davonlaufen.
Abschied vom Naturalismus
"Die Ratten" waren vor hundert Jahren ein Skandal, weil das Stück den Naturalismus durchsetzen wollte, sozialkritisch war, darauf bestand, das Leben der Armen wahrhaftig und in aller Hässlichkeit zu zeigen. Heute scheint es mit dem Naturalismus auf dem Theater zu Ende zu gehen, er ist jetzt paradoxer Weise verpönt als unkritische Illusionsmaschine.
Andrea Breth, die vielleicht letzte Meisterin des psychologischen Naturalismus, feiert mit den Ratten nun ihren Abschied von der Burgtheaterbühne und provoziert vielleicht ebenso wie damals Hauptmann, indem sie jegliche Entspannung verweigert, keinen Funken Freude oder Hoffnung zulässt, keine Farbe, keine Schönheit.
Von den zwei Ebenen bei Hauptmann ist bei Andrea Breth nur eine übrig geblieben. Im Stück gibt es oben und unten, den Dachboden, auf dem der bürgerliche, ehemalige Theaterdirektor Hassenreuther einen Kostümfundus untergebracht hat, und ein unteres Stockwerk, in dem die Putzfrau John wohnt, die Prostituierte Knobbe mit einer Schar von Kindern und ein Bande undurchsichtiger Kerle.
Abstieg ins Prekariat
Hassenreuther vertritt bei Hauptmann nicht nur die bürgerliche Klasse, sondern er liefert auch die Metaebene: er hält sich mit dem Unterrichten von hoffnungslos untalentierten Schauspielschülern über Wasser. Mit einem von ihnen, dem Ex-Theologiestudenten Spitta (hervorragend: Christoph Luser) gerät er in Streit darüber, wie man richtig Theater spielen müsse. Spitta ist Verfechter des Naturalismus und er versteigt sich zu der Aussage, eine Putzfrau könne genauso gut Protagonistin einer großen Tragödie sein wie König Lear oder Medea. Hassenreuther findet das idiotisch.
Alles, was sich danach im Stockwerk drunter abspielt – die Tragödie um die Putzfrau John, deren Kind gestorben ist und die dem ungewollt schwangeren Dienstmädchen Pauline Pipekarcka das ihre abkaufen und als ein eigenes ausgeben will – beweist letztlich die These von Spitta. Außerdem sind Hassenreuther und Spitta, der etwas mit Hassenreuthers Tochter Walpurga anfängt, bei Hauptmann totale Lachnummern. Hassenreuthers Streben nach dem Hohen und Reinen ist ebenso komisch wie das feurige soziale Gerede des jungen Spitta, der von der Welt keine Ahnung hat.
Beklemmende Stimmung
Breth hat diese Bürgerlichen zu den Anderen hinunter gesetzt. Das leuchtet sofort ein: diese Art von Mittelstand, das ganze Bildungsbürgertum ist im Verschwinden begriffen. Theaterleute wie Hassenreuther, deren gute Zeit vorüber ist, sinken heute schwindelerregend schnell ab ins Prekariat (ist das noch Bohème oder schon die Unterschicht? singt Christiane Rösinger) und das ist nur selten komisch, eher bitter. Sven-Eric Bechtolf erschafft aus Hassenreuther eine brüchige Gestalt, die ratlos im Fundus der eigenen Großmannshaltungen herumtastet.
Bei den Hassenreuthers herrscht dieselbe beklemmende Stimmung wie bei den Johns. Das ist eine kluge und beunruhigende Aktualisierung – aber sie nimmt dem Stück auch den "comic relief". Man fragt sich auch, wo denn eigentlich der Theaterfundus ist, von dem alle reden, bis man begreift, dass in diesem Fundus nicht Kostüme aufbewahrt werden, sondern ganze Figuren. Die ganze Bühne mit all den Figuren ist der Fundus, nicht der von Hassenreuther sondern der von Andrea Breth, es sind ihre Dramenfiguren, die zwischen den Gängen verschwinden und und für die Zukunft eingelagert werden, falls der Naturalismus eines Tages eine triumphale Wiederkehr erleben sollte. Wenn sie in die Szenen treten, kommen sie aus dem Hintergrund hervor wie die Monster in der Geisterbahn.
Einzigartige Theater-Kreaturen
Und was da erscheint, sind einzigartige, nie dagewesene Kreaturen. Kein Klischee, nirgends. Auch keine Nachahmung echter Menschen. Was bei Andrea Breth passiert – und sie dürfte die Einzige sein, die diesen Prozess noch katalysieren kann – ist die Erschaffung von künstlichen Kreaturen aus Text und Geist und der Lebenssubstanz von Regisseurin und Schauspieler*innen. Diese Geschöpfe, die wohl erschaffen werden wie Golems, leben und handeln, sind aber nicht wie Menschen. Man kann in ihr Inneres schauen, kann darin herumgehen, es fühlt sich darin so an wie auf der Bühne: wie ein Labyrinth aus semiopaken Wänden. Manches erkennt man, manches bleibt ein Rätsel. Die Figuren selbst können nicht in sich hineinsehen und sie werden weder erklärt noch entlarvt.
Besonders beeindruckend ist Johanna Wokaleks Frau John, ihre Mischung aus Wahnsinn und kühler Berechnung: immer öfter hält sie das Baby, das sie dem polnisches Dienstmädchen abgekauft hat, für ihr eigenes, das vor Jahren gestorben ist. Sie glaubt, dass es durch ein Wunder wiederauferstanden ist. Aber gleichzeitig setzt sie das fatale Manöver in Gang, das vertuschen soll, dass sie sich ein fremdes Baby angeeignet hat. Sie setzt ihren körperlich und seelisch behinderten Bruder Bruno als Waffe ein, um das Dienstmädchen zum Schweigen zu bringen. Nikolaus Ofczarek, macht aus diesem kindischen, sexuell anhänglichen Psychopathen eine Gestalt, vor der einem schaudert.
Verweigerungs-Haltung
Alle hier sind großartige, einzigartige Gestalten. Von jeder Figur glaubt man einen ganzen Roman gelesen zu haben – zuviel um es hier zu beschreiben. Alle sind Ratten, wenn sie in die Enge getrieben werden, greifen sie an, sehen scheußlich aus mit ihren gefletschten Zähnen. Man kann nicht anders als Mitgefühl mit diesen Erniedrigten und Beleidigten haben, aber dieses Mitgefühl ist nichts Gutes oder Erbauliches, es heißt, dass man gezwungen ist zu fühlen, was sie fühlen: Beklemmung, Angst und Isolation. Der Anschein des Unveränderlichen ist dabei fast unerträglich.
Jammer und Furcht stellen sich zweifellos ein, wie die Tragödie es verlangt. Aber Andrea Breth verweigert jegliche Katharsis. Im Gegenteil, da wo man sich am Ende einen grauenhaften Schrei wünscht, einen Ausbruch, das Klagen eines Chors in das man einstimmen könnte und dadurch erleichtert wäre, bleibt es am Ende ganz still. Ein Mädchen ruft, dass Frau John sich umgebracht hat, alle stehen auf und nehmen langsam ihre stummen Gänge zwischen den Wänden wieder auf. Unerträglich lang hört man eine leise, elegische Opernarie, ganz langsam fährt der eiserne Vorhang hinunter.
Was man hier erlebt, ist große Kunst, die vielleicht niemand sonst mehr beherrscht. Aber man fühlt sich auch, als wäre man ein Feind, der mit dem Gesicht in den Schlamm völliger Hoffnungslosigkeit gedrückt wird.
Die Ratten
von Gerhart Hauptmann
Regie: Andrea Breth, Bühne: Martin Zehetgruber, Kostüme: Françoise Clavel, Musik: Alexander Nefzger, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Sven-Eric Bechtolf, Sylvie Rohrer, Marie-Luise Stockinger, Roland Koch, Christoph Luser, Andrea Wenzl, Stefan Hunstein, Oliver Stokowski, Johanna Wokalek, Nicholas Ofczarek, Sarah Viktoria Frick, Andrea Eckert, Alina Fritsch, Branko Samarovski, Elisabeth Augustin, Bernd Birkhahn.
Premiere am 27. März 2019
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.burgtheater.at
Kritikenrundschau
Eine "hochkonzentrierte Arbeit" hat Michael Laages für die Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (27.3.2019) am Burgtheater erlebt. Der Kritiker lob nicht nur das Bühnenbild und die herausragenden Darstellerinnen und Darsteller, sondern vor allem Andrea Breths "strengen und anstrengenden Zugriff auf das Stück" und ihre "extreme" Konzentration auf Stück und Sprache.
"Es ist die tiefste Armut, die die Menschen am nachhaltigsten zerstört. Der Befund, den Meisterregisseurin Andrea Breth aus Anlass ihrer letzten Burgtheater-Inszenierung in Wien zurücklässt, ist von niederschmetternder Eindeutigkeit. Aber er krönt eine zum Niederknien kluge, präzise, wägende Aufführung." So feiert Ronald Pohl vom Standard (online 28.3.2019) diese Inszenierung.
"Präzision zum Exzess – in der Sprache und der Bewegung im Raum", darauf komme es Andrea Breth an, schreibt Norbert Mayer in der Presse (28.3.2019). "Bei dieser Regisseurin kommt das Innerste gnadenlos heraus, bis zur Erschöpfung"; Breth führe "tote Seelen in Serie vor". Das alles würdigt der Kritiker und macht Schwächen lediglich in Nebenrollen, einigen länglichen Passagen und im Schlussbild aus. Mit Blick auf den Burgtheater-Abschied von Breth ruft der Kritiker "Schade!" aus. "Denn Aufführungen von Klassikern, die mit solcher Ernsthaftigkeit und Liebe gemacht werden, sind rar."
"Man sieht und belauert sich. Man täuscht, lauscht, spielt einander etwas vor", schreibt Hubert Spiegel in der FAZ (29.3.2019). Je länger der Abend dauere, desto mehr verschwimme der historische Moment, in dem er angesiedelt sei. "Ein Hauch von Horváth weht durch die Burg, und im nächsten Moment marschieren zwei Dutzend Herren in Wettermänteln auf, stumm, gesichtslos, die Kragen hochgeschlagen. Sind sie Vorboten kommender Saalschlachten, Repräsentanten einer anonymen Masse, Fußsoldaten eines aufziehenden Heers der Arbeitslosen? Zunächst wirken sie bedrohlich, dann rätselhaft, dann überflüssig." Und weiter: "Langsam und erbarmungslos zieht Andrea Breth die Tragödienschlinge zu. Die Fassaden sind zertrümmert, Gefühle, Erfolge, Versprechen von gestern sind nur noch vergilbtes Papier."
"(I)ndem die Regisseurin Hauptmanns Stück das saftig Dialektale und seine boulevardesken, schmierenkomödiantischen Züge in den Szenen rund um den verkrachten Theaterdirektor Hassenreuter austreibt und es um viele Plappersätze kürzt, wird eine echte Breth daraus: unendlich düster, seelenqualvoll, überzeitlich bitter. Kein Einblick nur in ein soziales Milieu, sondern gleich in den Abgrund der Welt", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (29.3.2019). "Breth inszeniert das alles sehr konzentriert, traurig-tranig und breit ausgestellt als Großstadtpanorama eines moralischen, sozialen, politischen, aber eben auch theatralischen Verfalls." Das Ganze habe Längen.
"Ein trauriger Abgesang mag das sein, aber auch eine bittere Vision, wohin der menschliche Verfall in moralisch und politisch unsicheren Zeiten führen kann", schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (29.3.2019). "In ihrer stilsicheren Korrektheit, ihrer detailgenauen Tiefenschärfe, der peniblen Texttreue, nur den Dialekt hat sie gestrichen, und ihrem langatmigen Zeitgefühl gerät die zweieinhalbstündige pausenlose Inszenierung freilich einmal mehr zur spannungsresistenten Geduldsprobe."
"Wie viel Gegenwart und Welthaltigkeit Johanna Wokalek und ihre Regisseurin aus diesen scheinbar doch so gut gekannten Sätzen lesen, ohne dass man sie dafür auf ein triviales Sosein 'runterbrechen' oder überschreiben müsste", schwärmt Uwe Mattheiss in der taz (30.3.2019). "Bei aller Manifestlyrik über das Theater der Zukunft sind der historisch-kritische Umgang mit Texten und ihre Entfaltung durch schauspielerische Mittel noch lange nicht vorbei, zumindest dort, wo er nicht falsche Autoritäten und überholte Geltungsansprüche vertritt."
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dass Pauline Piperkarcka, Dienstmädchen vorkommt, kann man nur hoffen, denn ohne diese Rolle wäre das Stück sinnlos - nur wer hat diese Rolle gespielt?
Viele Grüße!
(Liebe/r CP, wir schmunzeln mit, rücken das Dienstmädchen aus der Schauspieler*innen-Riege hinüber in die Personage des Stückes und informieren gern: Pauline Piperkarcka, Dienstmädchen, wird von Sarah Viktoria Frick gespielt. Mit besten Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Danke, @ Wiener, für die deutlichen Worte aus der subjektiven Zuschauersicht.
Da erübrigt sich Manches; es bieten sich aber ein paar theaterhistorische Bemerkungen an: Hauptmann verfasste das Stück 1910, und umgehend (1911) wurde es in Berlin uraufgeführt. Immerhin steht doch ein Nationalist, der Theaterdirektor Hassenreuter, "ein bornierter Deutschnationaler" (Hensel) im Zentrum des Geschehens.
So offen war die Bühne im untergehenden Wilhelminischen Deutschland für den aktuellsten Zeitgeist; wer hätte das gedacht.
Tja, das ist halt die berühmte Berliner Luft Luft Luft.
1911, da ahnte man im Deutschen Kaiserreich noch nicht einmal den hereinbrechenden Untergang, wahrscheinlich daher das strotzende Selbstbewusstsein, das man auch Anderen zugestand (siehe die Aufführung der "Ratten" sowie die Duldung, ja Hochschätzung des kritischen Autors Hauptmann).