Leise rieselt die Schmach

von Kai Krösche

Wien, 29. Mai 2015. Oh, es muss kalt sein in diesem Haus, sehr kalt. Wände und Möbel gibt es keine, stattdessen nur Schnee, Schnee in Haufen auf dem Boden, Schnee, der von der Decke rieselt, nichts als Schnee. Eisig auch die Stimmung im Hause Borkman: Auf dem Dachboden wandelt rastlos der Familienvater umher, der vor Jahren eine lange Gefängnisstrafe wegen der Veruntreuung riesiger Geldsummen absitzen musste – und im Parterre leidet Mutter Gunhild unter der Schmach und träumt davon, dass ihr Sohn Erhart künftig einmal den Familienruf durch hehre Taten wieder herstellen möge. Ja, lähmend kalt ist es hier, eine Eislandschaft, unter der jeder Lebenskeim erstickt, jeder Versuch eines Ausbruchs erstarren muss.

Schlecht gealtert

Bei aller Kälte: Man muss es dann doch sagen, es gibt besser und schlechter gealterte Stücke des norwegischen Autors Henrik Ibsen, und das 1896 veröffentliche "John Gabriel Borkman" gehört wohl zu letzteren. Mag die Grundsituation noch ein spannender Ausgangspunkt für eine Geschichte um Verrat, Hybris und fehlgelenkter Leidenschaft sein, so verkommen die Figuren des wortreichen Vierakters zu sehr zu eindimensionalen Typen, die in allzu konstruierten Konstellationen Sätze voller Pathos, teils in enervierenden Wiederholungsschleifen zum Besten geben.

Borkman1 560 Reinhard Werner uLeise rieselt der Schnee: Bühnenbild von Katrin Brack © Reinhard Werner

Umso erleichternder, dass der australische Regisseur Simon Stone, der bereits vor zwei Jahren bei den Wiener Festwochen mit seiner temporeichen und beeindruckenden Variation von Ibsens Wildente auf sich aufmerksam machte, in seiner Überschreibung von "John Gabriel Borkman" den nicht selten unfreiwilligen Humor der Vorlage zur Groteske überspitzt. Stones Text folgt Ibsens Geschichte Schritt für Schritt, entstellt das Pathos der Vorlage jedoch geschickt zur Kenntlichkeit und übersteigert das Selbstmitleid der Protagonisten ins Lächerliche, ohne dabei die Figuren zu verraten.

Das schwache Licht des Genies

Aus Ibsens steif-verbittertem Banker Borkman wird bei Martin Wuttke ein zotteliger Verschwörungstheoretiker mit langem, ungepflegtem Haar, dessen Traum von der gesellschaftlichen Rehabilitierung eine reine Illusion ist und bleiben wird. Besteht in Ibsens Vorlage zumindest in den ersten Akten noch der leise Zweifel, ob es sich bei diesem Borkman nicht vielleicht doch um ein gescheitertes Genie handelt, so verkörpert Wuttke, großspurig gestikulierend im dicken Mantel durch den Schnee stapfend und mit der Stimme gereizt schnarrend, einen erbärmlichen Verlierer, dessen Hybris wenig mehr als realitätsverweigernder Wahn zu sein scheint; nur in den Zwischentönen funkelt hinter der Fassade dieses verletzenden Ekelpakets noch das schwache Licht eines charmanten Idealisten auf.

Birgit Minichmayr zeichnet ihre Gunhild, Borkmans Frau, als unzufriedene Säuferin mit krächzender Stimme: Die Liebe zu ihrem Sohn scheint genauso pathologisch wie halbherzig und ichbezogen: Die angeblich tief empfundene Schmach, die ihr Mann über sie und ihre Familie gebracht haben soll, nimmt man ihr nicht ab. Vielmehr scheint sie verletzt zu sein vom menschlichen Versagen ihres Mannes, das sie nun in gluckenhafter Mutterliebe zu kompensieren sucht.

Kein Opfer für die "höhere Sache"

Auch Caroline Peters' Ella, Schwester von Gunhild, kreist um sich selbst – im nüchternen Ton kommentiert sie tough und messerscharf sowohl Borkman als auch ihre Zwillingsschwester, blickt streng, bitter und verächtlich auf das Geschehen und verliert die Fassung lediglich im Angesicht ihres Neffen und Ersatzsohns Erhart.

Max Rothbarts Erhart hingegen hat wenig übrig für die Besitzansprüche seiner Verwandten: Mit der ungestümen Art des jungen Menschen, der sich die verkorksten Lebensentwürfe seiner Familie nicht aufzwingen lassen möchte, begegnet er diesen Ibsenschen Geistern mit einer geradezu frechen Selbstverständlichkeit und Normalität. Auch er ist ratlos, doch bemüht er sich nicht darum, die Ratlosigkeit in Bahnen zu lenken: Er will leben, glücklich sein und nicht sein Dasein einem anderen Menschen oder einer diffusen "höheren Sache" opfern.

Borkman2 560 Reinhard Werner uMutters Bester will einfach nur leben: Birgit Minichmayr als Gunhild Borkman und ihr Sohn Erhart (Max Rothbart) © Reinhard Werner

So stapfen sie also alle durch den Schnee, wollen sich gegenseitig, um sich nicht zu kriegen, reden aneinander vorbei und verlieren sich, um sich vielleicht, vielleicht auch nicht, am Ende doch wieder zu finden. Das macht dank des starken Ensembles Spaß zuzuschauen, das ist oft temporeich und witzig und in einigen Passagen auch berührend.

Die Antwort auf die Frage nach der Dringlichkeit dieses Stoffes bleibt es jedoch schuldig, trotz aller Aktualisierungen und Parallelen zur noch nicht lange zurückliegenden Finanzkrise, trotz der Zeitlosigkeit der existenziellen Dimensionen: der unerfüllten und unerreichbarer Träume, des menschlichen Scheiterns. Simon Stone hat vielleicht das Beste aus Ibsens Vorlage gemacht – und deren Schwächen doch nicht überwunden: So wirkt es fast wie ein ironisches Eingeständnis, wenn Martin Wuttkes bereits toter Borkman einen kurzen Augenblick vor dem abschließenden Black die rechte Hand zum Victory-Zeichen nach oben streckt.

 

John Gabriel Borkman
nach Henrik Ibsen von Simon Stone
Regie: Simon Stone, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Tabea Braun, Musik: Bernhard Moshammer, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Martin Wuttke, Birgit Minichmayr, Max Rothbart, Caroline Peters, Nicola Kirsch, Roland Koch, Liliane Amuat.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
Koproduktion Burgtheater Wien / Wiener Festwochen / Theater Basel

www.burgtheater.at
www.festwochen.at
www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Simon Stone hat keine sensationell neue Lesart des alten Ibsen-Klassikers zu bieten. Stimmig aber ist sie allemal", berichtet Christoph Leibold für SWR2 (29.5.2015). Bei Stone sei "Ibsen im Internetzeitalter" angekommen, wenn Gunhild den Familiennamen "Borkman" und John Gabriels Verfehlungen googelt. "Mag sein, dass sich das nach Brachial-Aktualisierung anhört." Doch dem "Stück-Update auf der Textebene" wirke die "surreale Anmutung der leeren Schneelandschaft" im Bühnenbild "erfolgreich entgegen".

"Simon Stone aber interessiert sich gar nicht für ein altes Stück, das uns in seiner Fremdheit die Gegenwart erklären könnte", berichtet Christian Gampert für den Deutschlandfunk (29.5.2015). "Für ihn sind die Ibsen-Figuren nur Demonstrationsobjekte, Schaufensterpuppen, die man mit heutigen Denk- und Sprachschablonen ausstatten kann. Zugegeben: Langweilig ist es nicht, es ist schwer was los im Schaumbad im Akademietheater, und es salbadert wie bei Pollesch. Aber, mit Verlaub: Es ist nur Eventkultur. Unterhaltungstheater – bestenfalls."

In einer seiner notorischen Kurzkritiken fordert Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.5.2015): "Umschreibhände weg von Henrik!" Und er schüttet einige kräftige Ressentiments aus gegen den jungen "Spielvogthallodri (dessen Namen nichts zur Sache tut) mit australischem Migrationshintergrund, dem sie gerade die deutschsprachigen Subventionsasyltöpfe hinterhertragen". In Simon Stones Bearbeitung, die "einer Studententheater-Comedy zur mittelmäßigen Ehre gereichen würde", werde Ibsen "von einer öffentlichen Angelegenheit im Land der Menschheitsfragen zu einem privatistischen Blödheitsgestöber im Land der Seifenopern".

Der Abend wurde – "trotz seiner im Bühnenbild schön umgesetzten Humangefrierkunst – zu einer verwechselbaren, die Geschlechterrollen stereotyp zementierenden Boulevardkomödie", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (30.5.2015). Denn Stone habe Ibsens Drama "neu ausgerichtet, der Text steckt voller Slang und Haudrauf-Prosa, als wär's eine Telenovela", und auch an Ironie mangele es nicht. "Von Ibsen bleibt in dieser auf das Familiendilemma, das Private der Borkmans und Rentheims heruntergebrochenen Neufassung nur das Plotgerüst übrig."

"Ein spannender, anfangs etwas mühsamer, dann aber teilweise atemberaubender Abend" ist es für Barbara Petsch von der Presse (29.5.2015). Der Abend erinnere an TV-Serien wie "Vorstadtweiber" oder "Altes Geld". Aber dass Stone "den Klassiker verhunzt hat, wie verschiedentlich zu hören war", hält die Kritikerin für falsch. "Nach der flotten Eröffnung – seit Jahren wird Ibsen in Deutschland mit Slapstick versehen, das Gravitätische wurde seinen Stücken längst ausgetrieben – blieb der Text teilweise durchaus intakt. Auch das Drama ereignet sich weitgehend wie vom Autor notiert, aber modernisiert."

Barbara Villiger Heilig schreibt auf NZZ.ch (31.5.2015), Simon Stone verpasse dem Ibsen eine "derart witzige Frischzellenkur", dass die Schauspieler "abheben, trotz dem knöcheltiefen Schnee". Birgit Minichmayr als "daueralkoholisierte" Gunhild Borkman und Caroline Peters als ihre "todkranke, aber topelegante Zwillingsschwester" spielten zwei Frauen von "sehr heutiger Hemmungslosigkeit", was "die Gesprächskultur" betreffe. Sogar "der Umstand", dass beide, obwohl sie hysterisch herausschreien, was sie denken, "in unemanzipierten Verhaltensmustern feststecken, passt perfekt in unserer Zeit". Trotzdem mache sich Stone nicht über Ibsen lustig, mit seinen "energiegeladenen Überdrehungen" treibe er dem Stück die Schwere aus; "den Tiefgang behält es auch als Komödie".

Jan Küveler schreibt auf Welt.de (1.6.2015), Stone habe es sich zum "Brandbuilding-Prinzip" gemacht, "alte Texte neu zu schreiben, bei Beibehaltung der Dramaturgie". Also müssten Martin Wuttke und Birgit Minichmayr bei "Amazon bestellen, sich über Drohnen wundern und Playstation spielen". Außerdem schneie es die "ganze Zeit". Das sehe "hübsch" aus und sei ein gutes Bild dafür, wie sich "schon während des Spiels sanft und leise das Vergessen über den Abend legt".

Christine Dössel schreibt in der Süddeutschen Zeitung (1.6.2015), Stones kurze Inszenierung "unterkomplex" zu nennen, sei für diese Familien-Comedy noch "freundlich ausgedrückt". "Radikalkomisches Boulevardtheater im Pollesch-Ton" bei "zarter Dauerschneeberieselung".
Die Schauspieler: "Zombies in weißer Hölle". Allein "solche Schauspielkaliber" wie Martin Wuttke retteten Stones "flockige Fassung aus der Trivialität". "Stimmsirene" Birgit Minichmayr spiele die Gunhild wie eine "furios hysterische Salonschreckschraube" aus einem Fünfzigerjahre-Film. Wenn Schwester Ella ins Haus schneie, führe das zu "kreischenden Zickenkrämpfe", aber auch "hochintensiven Psychoduellen". "Starkes, pures Schauspielertheater" zwischen Peters und Wuttke, Roland Koch zeichne Foldal "liebevoll" als "stotternden Kauz", ohne in "die Karikatur zu verrutschen". Stones "Banaljargon" und "unbekümmerte Herangehensweise mit der Lupe der Groteske" sei "erfrischend".

Stimmen zum Gastspiel der Inszenierung beim Berliner Theatertreffen 2016:

"Auch wenn Stones Stück-Update manchmal haarscharf an Telenovelas und Scripted Reality vorbeischrammt, es legt doch einen durchaus heutigen Kern des betagten Stoffes frei", so Ute Büsing auf RBB Info (15.5.2016). "Die Spekulation auf wohlfeiles Wiedererkennen geht auf, weil das Publikum sich in herausragenden Schauspielern spiegeln und sich an ihnen satt sehen kann wie sonst selten."

Begeisterung auch bei Peter Hans Göpfert auf RBB Kultur (17.5.2016): "Simon Stone macht sich jetzt einen tollen Jux aus diesem Stück. Er spielt nicht Ibsen, er parodiert ihn. Als Zuschauer gibt man sich völlig geschlagen. So lustig legt sich hier ein erstklassiges Schauspielensemble ins Zeug."

"Nur oberflächlich unterhaltsam zu sein, bemängelten Kritiker an beiden Inszenierungen", schreibt Katrin Bettina Müller in der Tageszeitung (17.5.2016) über die beiden Ibsen-Gastspiele beim Theatertreffen (das andere ist Ein Volksfeind aus Zürich). "Aber das stimmt nicht. Sie sind beide von einem tiefen Pessimismus gezeichnet, was Kapitalismus, Demokratie und das Entwickeln von Utopien angeht. Und beide verpacken das melancholische Leiden am Unverbesserbaren der Gesellschaft in groteskem Witz. Ohne sich dabei weit von Ibsen zu entfernen."

Ähnlich argumentiert Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (17.5.2016), der davor warnt, sich von der schillernden Oberfläche blenden zu lassen. "Hinter dem Komödienvorhang lugen Ängste hervor, die sich nicht wegspielen lassen. Vielleicht ist dieser Abend auch deshalb so aufgedreht: Er erzählt vom vergeblichen Versuch, dem stillen Schrecken zu entkommen. Er setzt kalte, böse Wiedererkennungshaken."

Kommentare  
John Gabriel Borkman, Wien: unglaublicher Schaß
Durch den Schnee stapfende Wollhaarmammuts, die über das Verpflanzen ihrer DNA in Elefanten sinnieren oder über Fannys Rezepte bei Facebook schwadronieren, alles im Internet bestellen und Play Station spielen. "... das ist oft temporeich und witzig und in einigen Passagen auch berührend." Geht's noch, Kai Krösche. Ihre Beschreibung würde zu jeder stinknormalen Borkman-Inszenierung passen, aber doch nicht zu diesem Unsinn. Selbst Großschauspieler wie Wuttke und Minichmayr machen diesen Schwachsinn nicht wett, zumal sie hier selbst völlig unter ihren Möglichkeiten bleiben. Simon Stone banalisiert den Borkman vollends zur Boulevardkomödie. Das Schlimmste was ich seit langem mit Staraufgebot am Theater gesehen habe. Ein unglaublicher Schaß.
John Gabriel Borkman, Wien: Unterschichtsfernsehen
Boulevardkomödie ist noch zu hoch gegriffen, das ganze liegt auf Unterschichtfernsehserienniveau. Der übliche zottelige abgesandelte Penner, zwei krächzende Vorstadtweiber und die restlichen Typen wie aus Berlin bei Tag & Nacht kotzen sich und das Publikum an.
John Gabriel Borkman, Wien: hinterhergehechtet
Gott war das ein Scheiss! Da ist das Feulliton wieder mal einem Nichts an Regisseur hinterhergehecht! Orestie war schon soooo dünn - bis auf laages sahen das da ja schon alle. Nun ist der König endgültig als nackt erkannt.
John Gabriel Borkman, Wien: ins Derbe gezerrt
Wer schon immer einmal das Nachmittagsprogramm von RTL oder SAT 1 auf einer Theaterbühne mit durchsichtiger Starbesetzung sehen wollte, sahs dort in der richtigen Vorstellung. Jede psychologische Nuancierung Ibsens wird ins Derbe und Lächerliche gezerrt, von schauspielerischer Führung kann keine Rede sein, wenn selbst Wuttke, Peters und Minichmayr verloren umherirren.
Selten trifft man auf so eine sinnfreie und ausgehöhlte Produktion die beim Publikum auch noch so gut ankommt.
John Gabriel Borkman, Wien: Zeiten sind vorbei
Wer sich nichts als Schönheit vom Theater wünscht, sollte vielleicht zuhause bleiben? Wäre doch besser. Das heutige Theater kann und will das nicht mehr bieten. Diese Zeiten sind vorbei. Und das ist gut so. Schauspielerisch ist's on Top. Sofern man sich bewusst ist, dass der Abgrund schwieriger zu spielen ist, als die verhaltene Schönheit. Was man sich vielleicht nicht ist, wenn man noch nie ein Theater von innen gesehen hat. Daher sollte man sich in punkto schauspielerischen Generalverurteilungen eventuell zurückhalten, ich sag's jetzt mal: wenn man keine Ahnung davon hat. Persönlicher Geschmack ist noch kein Urteil. Dieses sollte frei davon sein.
John Gabriel Borkman, Wien: für Regie-Nestroy nominiert?
Klar ist das Ensemble super und zeigt, was es kann, auch ohne große Deutung oder Neudeutung (Frau Dössel hat das eh gut beschrieben). Aber jetzt auch noch ein Nestroypreis für die "Beste Regie"!? Die Theaterintendanten schauen offenbar echt nur noch nach dem Marktwert und der Auslastung. Hollywood und Westend lassen grüßen! Mit kritischer oder gar unbequemer Kunst hat das nichts mehr zu tun. Warum dann Ibsen? Wo bleibt das Risiko, das Experiment? Um Sartre zu paraphrasieren: Wenn das die Zukunft des Theaters sein soll, dann hat Theater als Kunstform keine Zukunft mehr, befürchte ich.
John Gabriel Borkman, Basel: alte Kritik
Liebe Nachtkritik-Redaktion,
es ist ja nett, dass Ihr auf die gestrige Premiere am Theater Basel verweist. Aber wäre es nicht interessanter und angemessener, über die aktuelle Umsetzung der Inszenierung von Simon Stone auf die deutlich grössere Bühne zu berichten? Auch die euphorische Resonanz des Basler Publikums wäre doch einen Satz wert gewesen. Theater ist live, eine 8 Monate alte Kritik kann diesem Pozess nie gerecht werden, noch dazu in einem online-Medium, das den Anspruch der Aktualität in besonderem Maße erhebt. Findet Ihr nicht?
Beste Grüße aus dem Theater Basel

(Liebe Frau Trobitz,

angemessener wäre es bestimmt, aber nicht leistbar. Sie wissen, dass wir aus finanziellen und logistischen Gründen im Monat nicht mehr als 50 Premieren in Deutschland, Österreich und der Schweiz besprechen können, also aus 350 bis 450 Premieren auswählen müssen. Da ist ein wesentliches Kriterium die erste Nacht, die tatsächliche Premiere.

Wahrscheinlich, dass bei Übernahmen Details verändert werden, auch, dass ein Abend dabei gewinnt. Allerdings gilt das auch für laufende Produktionen oder gar Stückentwicklungen und Performances. Dennoch gibt es – zu recht, wie ich finde – die Konvention, ausgerechnet die Premiere zu besprechen. Zum einen muss es einen verabredeten Fixpunkt geben, zu dem ein Team sagt: Wir sind fertig (oder: bis dahin müssen wir fertig sein). Zum anderen ist es für die wenigsten Medien leistbar, mehrfach hinzuschauen (Ausnahme: Festivals).

Wir haben in der Anmoderation der Wiener Kritik ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie vom letzten Jahr stammt. Sie ist ein Angebot, sich grundsätzlich mit Stones inszenatorischem Ansatz zu beschäftigen. Mehr nicht.

MIt freundichen Grüßen
Georg Kasch / Redaktion)
John Gabriel Borkman, Basel: aktuell oder gar nicht
Lieber Herr Kasch,
leistbar hin oder her, es geht hier um etwas Grundsätzliches: Der allgemeinen Premierenfrequenz zum Trotz verweisen Sie auf die Basler "Borkman"-Premiere unter den aktuellen Hinweisen der gestrigen Samstagspremieren, aber Sie schreiben nicht aktuell darüber. Das heisst Sie holen eine Kritik hervor und stellen sie wieder ins Netz, die die Premiere im Mai beschreibt, sich aber zum heutigen Datum auf die gestrige Premiere in Basel beziehen soll oder will. Und das im vermeintlich aktuellsten Medium der deutschsprachigen Theaterkritik. Was Sie zu verwechseln scheinen ist, dass es sich bei den zwei Abenden um zwei unterschiedliche Premieren WIE Theaterabende handelte. (Also unabhängig davon, dass ein Theaterabend, wie Sie richtig schreiben, prinzipiell veränderlich ist.) Da wir immer noch nicht Film machen, muss man - darauf wollte ich hinweisen - entweder aktuell oder gar nicht besprechen. Oder frei nach Wittgenstein: wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen!
Herzliche Grüße
Ingrid Trobitz
John Gabriel Borkman, Basel: Kritiklink
http://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/sneak-preview-ii-ein-ibsen-als-seichte-sitcom-mit-stars-129187585
John Gabriel Borkman, Basel/Wien: betriebsfremd
Frau Trobitz scheint sich gegen die Natur der Co-Produktionen stemmen zu wollen. Aber Premieren zu dissen, die vor 8 Monaten stattfanden, ist ja auch ein bisserl betriebsfremd.
John Gabriel Borkman, Basel/Wien: auch alt
Sehr geehrte Frau Petrin,

Das ist aber auch keine neue Kritik.

Best Grüsse

(Anm. der Red.: Der Fehler lag hier in der Überschrift der Redaktion, Neuheit wurde in #9 tatsächlich gar nicht behauptet. Die Überschrift von #9 ist jetzt modifiziert. wb)
John Gabriel Borkman, Basel/Wien: die echte Premiere
Liebe Frau Trobitz,

gestatten Sie mir, dass ich das etwas anders sehe. Die - wie es auf Ihrer Website richtig heißt - "Koproduktion des Theater Basel mit dem Burgtheater Wien und den Wiener Festwochen" hatte als Inszenierung in Wien Premiere. Jetzt hat sie in Basel Premiere, an einem der koproduzierenden Theater also. Wir vermerken das ("Jetzt ist der Abend nach Basel weitergewandert"), ebenso wie wir vermerken, dass wir eine alte Kritik - nämlich die von der Wiener Premiere - hervorholen, damit die Besucher*innen der Basler Aufführung ihre Eindrücke von der Inszenierung mit unserer Nachtkritik und den Kritiken aus der Kritikenrundschau abgleichen können. Wenn wir jede lokale Premiere von solchen Koproduktionen einzeln besprechen sollten, müssten wir auf entsprechend viele andere "echte" Premieren verzichten. Und, entschuldigen Sie, wenn ich darauf beharre, die "echte" Premiere dieser Produktion war nun einmal in Wien.
John Gabriel Borkman, Basel: noch eine neue Kritik
Eine aktuelle Kritik der Basler Premiere!

http://www.tageswoche.ch/de/2016_5/kultur/710369/«John-Gabriel-Borkmann»-am-Theater-Basel-Ein-grosses-Bühnenereignis.htm
John Gabriel Borkman, Basel: Linkhinweis
Wir sind auch online mit einer aktuellen und der alten Kritik:
http://www.aargauerzeitung.ch/kultur/buch-buehne-kunst/ibsens-john-gabriel-borkman-im-digitalen-schneetreiben-130031716
John Gabriel Borkman, Wien beim TT16: solides Unterhaltungstheater
Birgit Minichmayr und Caroline Peters liefern sich ein Zickenduell mit treffsicheren Pointen. Die beiden Star-Schauspielerinnen spielen die Zwillingsschwestern als abgehalfterte Ex-Society-Damen, die dem Glamour der 90er hinterhertrauern, von Britney Spears schwärmen und sich die Facebook-Freundschaften missgönnen.

Der Kaputteste von allen ist die Titelfigur John Gabriel Borkman: Martin Wuttke spielt ihn als eine Mischung aus Zottelbär, Rumpelstilzchen und dem „Don Giovanni“ aus Herbert Fritschs Inszenierung an der Komischen Oper.

Ein „Erkenntnissprung“, den Wolfgang Behrens in seinem Nachtkritik-Videoblog vermisst, ist an diesem Abend nicht zu erwarten. Dafür bekommt das Publikum solides Unterhaltungstheater mit glänzend aufgelegten Schauspielstars geboten.

Zur Halbzeit eines Theatertreffens, das bisher von Buhrufen, Schiffbrüchen, Langeweile und Enttäuschungen geprägt war, ist das doch eine ganze Menge. In den Ovationen schwang deshalb auch viel Erleichterung mit.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/05/15/schneerieseln-simon-stones-john-gabriel-borkman-mit-stars-zu-gast-beim-theatertreffen/
John Gabriel Borkman, Wien/Basel beim tt: komödiantischer Rausch
Einzig Roland Koch als Borkman-Getreuer Foldal, der vor den Trümmern des eigenen Lebens steht, deutet mit seiner stets resignativ eingefärbten krampfhaften Optimismusmaske, die am Ende abfällt, deutet so etwas wie Tiefe an und erinnert den Zuschauer, dass das hier ein Untergangsspiel ist. Regisseur Simon Stone und seine Großschauspieler*innen ficht das nicht an. Sie spielen sich in einen komödiantischen Rausch, den man sich über weite Strecken tatsächlich ganz gern anschaut. Aufgepumpte Boulevardfarce mit sich selbst nicht ernst nehmenden Schauspielern und einem hübschen surreal anmutenden Bühnenbild: Damit ist der Abend eigentlich schon zusammengefasst. Ibsen bleibt dabei zwangsläufig auf der strecken und da freut man sich schon, dass das Internet-Buzzword-Bingo, das in Stefan Puchers Ein Volksfeind so übel aufgestoßen hat, hier nicht mehr will, als ein paar Lacher zu produzieren. Eine Vergegenwärtigung des Stoffs, der seit der Finanzkrise landauf landab heruntergespielt wird, interessiert Simon Stone nicht, Erkenntnisgewinn ist nicht Teil des Konzepts. Stattdessen bekommt das durchaus amüsierte Publikum gute, wenn auch etwas unterkomplexe Unterhaltung, und ein Starensemble, dem man gern zuschaut. Was von diesem Abend hängen bleibt, ist jedoch vor allem seine Unambitioniertheit. Er will nichts und so kann er auch nicht scheitern. Vielleicht ist es das, was die Theatertreffen-Jury so bemerkenswert fand?

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/05/16/egomanen-im-schnee/
John Gabriel Borkman, Wien/Basel beim tt: Vorstellung
Man stelle sich den Abend ohne diese Schauspieler vor! (...)
John Gabriel Borkman, Wien: alle Jahre wieder
Leise rieselt der Schnee? Eher "Alle Jahre wieder..."
http://www.schaubuehne.de/de/produktionen/moliere.html/m=310
John Gabriel Borkman, Gastspiel Hamburg: parodiert nur
John Gabriel Borkman (Hamburger Theaterfestival 2017). S. Stone nutzt das Glück über brillante Schauspieler*innen (Birgit Minichmayr, Caroline Peters und Martin Wuttke) in seiner Inszenierung zu verfügen. Stone parodiert Ibsen und dabei gerät der Pessimismus Ibsens in Bezug auf eine menschliche Gesellschaft in Gefahr. Ibsens Stück des Frühkapitalismus wird von Stone in Zeiten des Spätkapitalismus neu inszeniert als groteske „Family- Comedy“ und dabei drohen die Ängste Ibsens vor Machtgier und Selbstsucht der Menschen im boulevardesken „Schnee“-Treiben zu versinken. Dennoch faszinierendes Schauspiel zwischen den drei Protagonisten*innen (B. Minichmayr, C. Peters und M. Wuttke). Ohne sie wäre dieser Abend kein Kassenmagnet. Auf der Strecke blieben weitgehend die Schrecken und Ängste Ibsens in die Zeit des Frühkapitalismus, die sich im Spätkapitalismus mittels Globalisierung weiter brutalisiert haben.
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