Wastwater - In Wien inszeniert Stephan Kimmig den Dreiteiler von Simon Stephens
Schwelende Paranoia
von Martin Pesl
Wien, 29. April 2012. Eine niedliche kleine Ironie: Im Programmheft zur Uraufführung seines Stückes "Wastwater" in Koproduktion mit den Wiener Festwochen erklärte Simon Stephens letztes Jahr, durch seinen verstärkten Kontakt mit deutschem Theater zu formalen Innovationen inspiriert worden zu sein. Tatsächlich hat er statt eines "well-made plays" drei kurze geschrieben: eine Fingerübung im dialogischen Erzählen.
Mit konzentrierten und unprätentiösen Londoner Schauspielern entfaltete der Text bei der Uraufführung durch Katie Mitchell eine prickelnde Beklemmung. Demgegenüber bestätigt Stephan Kimmigs österreichische Erstaufführung am Burgtheater nun den Verdacht, dass "Wastwater" für das am Diskurs interessierte, nach gesellschaftlicher Relevanz gierende deutschsprachige Theater das denkbar ungeeignetste Stephens-Stück ist. Es regt wohl die Hirnzellen der Zuschauer an, lenkt sie aber auf mikrostrukturelle Zusammenhänge: Was hat es damit auf sich, dass, wie das Zurückdrehen der Wanduhr auf neun in den Szenenwechseln verrät, alle Szenen exakt zur selben Zeit stattfinden? Aha, Frieda aus Szene 1 ist also auch die Pflegemutter von Sian aus Szene 3? Hat Lisa aus Szene 2, die als Polizistin im Kinderschutz arbeitet, irgendetwas mit der illegalen Adoption einer neunjährigen Philippinin zu tun, die in Szene 3 verhandelt wird? Wieso sagen Frieda in 1 und Lisa in 2 beide: "Weinst du?"
Machtwort des Autors
Nun, weil der Autor das will, darf und kann. Die Querverweise zwischen den drei Dialogen sind seine unmissverständliche Klarstellung, dass nur er die Zügel in der Hand hält und dass nichts etwas bedeuten muss, wenn er nicht will. Stephan Kimmig hat diesem vielleicht augenzwinkernd, aber auch mit Bestimmtheit vorgebrachten Machtwort des Autors wenig entgegenzusetzen. An der programmierten Leere hinter den gekonnt gebauten Kurzgeschichten arbeitet er sich mit seinen drei Mann-Frau-Duos im Affentempo ab, fast etwas genervt. In Szene 1 gibt Elisabeth Orth die nette Pflegemama in bequemen Sportschuhen, Daniel Sträßer den Junior, der sie nach Kanada verlässt. Sträßers Harry ist zappelig und hypernervös, reagiert mit hochgezogenen Schultern und aggressiv zusammengebissenen Zähnen auf jede Frage der sich vor der Einsamkeit fürchtenden, eigentlich aber resignierenden Frieda. Seinen Monolog darüber, dass Zivilisation die Welt ruiniert, bringt er so elektrisch geladen vor, als könne nie jemals irgendwer an so etwas glauben.
Analog dazu steigert sich Andrea Clausen als Lisa im zweiten Teil in ein geradezu komisches Pathos hinein, auf das Marks/Peter Knaacks ebenfalls etwas klamaukig zur Schau gestellte Langeweile die einzig schlüssige Reaktion ist. Klar, Lisa hat mal Heroin genommen, um besser einzuschlafen, Pornos gedreht, um sich das zu finanzieren, mit ihrem Ehemann allerdings nie geschlafen, dafür will sie jetzt mit Mark S&M-Sex im Flughafenhotel: Die hat schon nicht alle Tassen im Schrank; aber eine weniger eindeutige Parodie einer unberechenbaren Irren gäbe dem Ganzen deutlich mehr Spannung.
Absurde Fragen
Oder Bedrohlichkeit: ein Umschiffen der Leichen im titelgebenden tiefsten See Englands, die gründlich versenkt sind, aber jederzeit an die Oberfläche kommen könnten? Die schwelende Paranoia einer Welt, die langsam aus den Fugen gerät, ohne dass erkennbar wäre, aufgrund welcher Verschwörung – das Potenzial, so ein Gefühl zu vermitteln, hätte "Wastwater" gerade wegen seiner unzähligen leicht angerissenen Themen und seiner Konstruiertheit. Hier jedoch geschieht das höchstens in Szene 3. Tilo Nest als Jonathan wurde nach zaghaften Versuchen, ein Kind zu adoptieren, von einer zwielichtigen Organisation in die Flughafengarage zitiert. Dort schikaniert ihn Mavie Hörbiger mit Gewaltandrohungen und absurden Fragen wie "Was war der letzte Star-Wars-Film, den du im Kino gesehen hast?", bevor sie ihn unverhofft mit einem Kind zurücklässt. Jonathans Klickverhalten im Internet hat ihn vollkommen durchschau- und kontrollierbar gemacht. Nest verleiht dieser Jämmerlichkeit glaubhaft einen Körper. Wenn ihm Hörbiger zum Spaß eine Pistole in den Mund schiebt, sieht er auf einen Schlag zehn Jahre älter aus. Da ist keine ironische Distanz zur Rolle, keine überhöhte Erregung, kein enerviert artifizielles Zuviel. An diesem Schauspieler darf der Autor Simon Stephens seinen Sieg über die Regie festmachen. Freilich, es bleibt ein Pyrrhussieg.
Wastwater
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Anna Ehrlich, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Michael Verhovec, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Elisabeth Orth, Daniel Sträßer; Andrea Clausen, Peter Knaack; Mavie Hörbiger, Tilo Nest, Lukas Johne, Bryna-Marie Decena/Alexie Khan/Sarah Jozelle Rojas
www.burgtheater.at
Mehr "Wastwater": Anfang April inszenierte Dieter Giesing das Stück am Schauspiel Köln, hier die Nachtkritik.
"Wieder reißt der Text niemanden vom Sessel. Und wieder bekommt das Theater Futter, wie es sich im vielstimmigen Chor neuer deutscher Texte eben nicht findet", sagt Michael Laages in der Sendung "Kultur heute" im Deutschlandfunk (30.4.2012). Stephens schreibe "zuweilen sehr schlicht, zuweilen aber auch mit viel Sinn für Unter- und Abgründe"; und "Wastwater" sei "eines der besseren, eines der Abgrund-Stücke". Der Rezensent hat hinreißende Szenen einzelner Schauspieler erlebt, die von Regisseur Stephan Kimmig "filigran" geführt würden. Aber mitreißendes Lob lässt er sich nicht entlocken.
In Stephens Stück gehe es um "Menschen, die an Wendepunkten ihres Lebens stehen, die schwerwiegende Entscheidungen getroffen haben und nun mit den Folgen konfrontiert sind", berichtet Sebastian Fleischer für den ORF (30.4.2012). Anders als Katie Mitchell in ihrer Uraufführung baue Kimmig die Schauplätze der Handlung nicht realistisch nach, sonder lasse die Episoden "in einer leeren Lagerhalle spielen". "So wenig wie möglich greift Kimmig ins Stück ein und verzichtet weitgehend auf eine eigene Deutung. Das hinterlässt ein seltsames Gefühl der Distanziertheit von den Ereignissen auf der Bühne; Empathie zu den Figuren hält sich ebenso in Grenzen wie jene Beklommenheit, die Stephens' Stücke sonst hinterlassen." Dennoch habe es viel Applaus gegeben, "vor allem für die schauspielerischen Leistungen von Elisabeth Orth als Ziehmutter Frieda und Andrea Clausen als komplexbeladene Seitenspringerin".
In der Süddeutschen Zeitung (4.5.2012) schreibt Vasco Boenisch: Simon Stephens erzähle "gern" von der "Verlorenheit der Menschen" in der "angelsächsischen Well-made-Tradition", die Figuren und Situationen aus dem Leben greife; bevor es aber "zu schlicht" werde, greife der Autor "zu künstlerischen Überhöhungen, die kleinen Momenten große Bedeutung verleihen sollen". Als Zuschauer merke man allerdings vor allem, dass einem "Kalendersprüche" als "Weltweisheit" verkauft werden sollten. Kimmig führe mit Dieter Giesing in Köln einen imaginären Wettbewerb um die "werktreueste Aufführung". Die groteske Komik der zweiten Szene werde ausgekostet, der "tolle Peter Knaack" schrumpfe mit jedem neuen "Anekdotenhieb" zu einem "Gartenzwerg im Rollkragenpulli". Andrea Clausens Lisa zelebriere den "Unmoral-Maniac mit starken Gesten und noch stärkeren Tönen". Gegen Ende schwächele der Abend, Mavie Hörbiger mache die "zynische Sian" mit ihrem Tonfall zur "Karikatur einer Punk-Göre".
In der Welt (4.5.2012) schreibt Ulrich Weinzierl: Das Drama lebe von der Qualität der Darsteller. Kimmigs "schnörkellose Regie" gebe dem "bewusst Rätselhaften des Geschehens keinen zusätzlichen Dreh ins allzu Mysteriöse". Er lasse so spielen, als wäre es "das Alltäglichste auf der Welt". "Abschiede und Begegnungen an Unorten, das Abgründige im Normalen, entwurzelte Menschen" - das seien Simon Stephens' Themen. "Was Elisabeth Ort aus Frieda macht, ist hohe Kunst. Blicke, Gesten, Tonfallschwankungen schaffen eine vollplastische Gestalt, tough und zart zugleich." Überhaupt gehöre der Abend den drei Frauen: Neben Orth, der "wunderbaren Andrea Clausen", die vor "hysterischer Anspannung" vibriere und " reines Virtuosentheater einer Grande Dame der Neurosen" spiele sowie Mavie Hörbiger, die der Sian "den Charme der jugendlichen Terroristin mit Engelsgesicht gibt".
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