Der Vorhang fällt

31. Dezember 2023. Unappetitliche Anwürfe und wichtige Debatten, lauthals geführte Richtungsstreits um Intendanzen, sehr viel große Bühnenkunst aber auch die ein oder andere Aufschneiderei: so war das Theaterjahr 2023.

Von der nachtkritik-Redaktion

Ende der Vorstellung © Pexels / Monica Silvestre

31. Dezember 2023. Kann man in bleiernen Schuhen tanzen? Die Theater probieren es zumindest. Das Corona-Tal ist überwunden, die Spielfreude ungebrochen, die Zuschauer kehren zurück und es gibt reihenweise besondere Abende.

Aber die politische und gesellschaftliche Lage sind weiter eingetrübt. Russland führt unverändert seinen Krieg gegen die Ukraine, Menschen flüchten, die Ereignisse nähren auch im deutschsprachigen Raum jene, die Angst und Hass schüren wollen. Mit dem Hamas-Terrorschlag gegen Israel im Oktober verdunkelt sich das weltpolitische Panorama weiter. Theaterkunst im Jahr 2023 ist auch ein Anspielen gegen diese Horizonte.

Januar

Mit einem Umarmungsversuch beginnt das Jahr 2023. In Zürich lädt das Leitungsteam Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg zum "Publikumsgipfel" ein, um die Wogen des Woken zu glätten. Das Haus war mit seinem Programm vor Ort in die Kritik geraten als eben – so das Schlagwort – "zu woke". Aber die Verhältnisse lassen sich nicht befrieden. Im Februar trennt man sich und Valeria Heintges bilanziert die fünf Intendanzjahre. Im Norden und Osten stehen die Zeichen derweil auf Aufstieg: Sonja Anders wechselt aus der Leitung des Schauspiels Hannover in die Intendanz am Thalia Theater Hamburg. Milo Rau, ein vertrauter Regisseur des Zürcher Doppels, übernimmt die Wiener Festwochen.

"Ich glaube, dass die Staatsoper und ich füreinander ein großes Glück waren."

Daniel Barenboim

Und sonst? Daniel Barenboim verkündet seinen Abschied von der Berliner Staatsoper, eine Ära geht zu Ende. Das nachtkritik-Theatertreffen forscht mit seiner fast schon traditionsreich zu nennenden Publikumsabstimmung nach dem Beachtlichen der Saison und fühlt ein klein wenig dem Berliner Theatertreffen und dessen Zehnerauswahl vor. SZ-Kollegin Christine Dössel sammelt Theaterstreichhölzer und zeigt sie her. Und nachtkritik.de erinnert sich mit einem Gedenkabend im Haus der Berliner Festspiele an seinen im Dezember 2022 verstorbenen Mitgründer und Redakteur Nikolaus Merck.

Februar

Am 11. Februar kommt es in der Pause der Hannoveraner Ballett-Premiere "Glaube – Liebe – Hoffnung" zu einem Zwischenfall, der die Theaterwelt wochenlang in Atem halten wird und intensive Diskussionen über das Verhältnis von Kunst und Kritik befördert: Ballettdirektor Marco Goecke beschmiert die Kritikerin Wiebke Hüster in einem forcierten Streit mit Hundekot.

Hier fünf goldene Regeln für den Umgang von Künstlern mit Kritik: 1. Beklage Dich nie über eine schlechte Kritik. 2. Bedanke Dich nie für eine gute Kritik. 3. Betätigte Dich niemals als Kritiker. 4. Die Welt ist Dir nichts schuldig. 5. Du ihr aber auch nicht.

Thomas Bockelmann im Kommentar-Thread zur Hundekot-Affäre

Goecke entschuldigt sich später und sagt, dass er seine "Schandtat" auf Burnout zurückführe. Aber die zweifelhafte Ehrung als Ärgerlichstes Ereignis des Theaterjahres ist ihm trotzdem sicher. In der Debatte treten mehrere neuralgische Punkte zutage: Es wird augenscheinlich, dass sich die Theaterwelt über die landläufige Abwertung der Kritik hinaus geradezu als Opfer der Kritik stilisiert. Und dass ihr die Kritik dabei als verbale Form der Gewalt erscheint, auf die in Hannover nun ein Künstler gewissermaßen reziprok mit physischer geantwort habe. "Kann es sein, dass wir es mit einem Fall von dramatischer Filterblasenbildung zu tun haben, wo jedwede nichtaffirmative Äußerung per se als Angriff empfunden wird?“, fragt Christine Wahl in ihrem einordnenden Essay.

Jürgen Flimm, der große Regisseur und Theaterleiter unter anderem am Hamburger Thalia Theater, an der Berliner Staatsoper und bei der Ruhrtriennale, stirbt im Alter von 81 Jahren in Berlin. Nach einem Jahr Krieg blickt die ukrainische Dramatikerin und Regisseurin Anastasiia Kosodii im Interview mit Sophie Diesselhorst auf ihr Land und die Lage der Theaterkünstler*innen: "In Kriegszeiten zu schreiben ist eine schwierige Aufgabe, weil Worte oft bedeutungslos scheinen."

März

Der März steht im Zeichen der Schauspieler. Joachim Meyerhoff brilliert in Thomas Ostermeiers Inszenierung von Tschechows "Möwe" an der Berliner Schaubühne, Wiebke Mollenhauer besticht in Christopher Rüpings Umsetzung von Sarah Kanes "Gier" in Zürich" (ihre Darbietungen werden beiden später im Jahr noch die Titel Schauspielerin und Schauspieler des Jahres 2023 einbringen). Ein Sisi-Film mit Susanne Wolff und Sandra Hüller kommt in die Kinos. Über Schauspieler Lars Eidinger erscheint ein Dokumentarfilm. Und Samuel Finzi gibt in einem autobiographischen Roman Auskunft über sein Leben.

Wiebke Mollenhauer wird Schauspielerin des Jahres für ihre Close-up-Performance in "Gier" von Sarah Kane, inszeniert von Christoper Rüping am Zürcher Schauspielhaus © Orpheas Emirzas

Außerdem gibt das Festival radikal jung seine Auswahl bekannt, auch die Nominierungen für den Heidelberger Stückemarkt stehen fest. Beim "Radar Ost"-Festival am Deutschen Theater Berlin erklingt der Solidaritätsruf "Slava Ukraini!" (Hoch lebe die Ukraine!) im Anschluss an eindringliche Bestandsaufnahmen zur Realität des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Am letzten Tag des März legt das Grips Theater seinen Über-Klassiker " Linie 1" (Text: Volker Ludwig/Musik: Birger Heymann mit der Rockband NO TICKET) neu auf, in der Regie von Tim Egloff. Aber eine tiefgreifende Renovierung haben sie sich am Grips nicht getraut. Warum auch. Die Sause läuft seit bald 40 Jahren und über 2000 Vorstellungen!

April

Zu Ostern zeigt nachtkritik.plus in einem “Jürgen-Gosch-Special” vier Inszenierungen des 2009 verstorbenen Regisseurs: die legendären Tschechow-Inszenierungen "Onkel Wanja" und "Die Möwe", Yasmina Rezas "Der Gott des Gemetzels" und "Hier und Jetzt" von Roland Schimmelpfennig, dazu den Dokumentarfilm "Erinnerungen an Jürgen Gosch" von Grete Jentzen und Lars Barthel.

Anlässlich des Gosch-Specials schicken neun prominente Weggefährt*innen von Gosch, unter ihnen Meike Droste, Jens Harzer und Ulrich Matthes, ihre Erinnerungen an den Regisseur in kurzen Video-Statements, die hier nachgeguckt werden können. Und nachtkritik.de-Redakteurin Sophie Diesselhorst erinnert sich an ihre Zeit als Hospitantin bei den legendären Berliner Tschechow-Inszenierungen "Onkel Wanja" und "Die Möwe".

Außerem wird im April Ulrich Khuon als Intendant des Deutschen Theaters Berlin auf nachtkritik.de gleich mit zwei Beiträgen verabschiedet: Im Interview mit Simone Kaempf und Christian Rakow spricht Khuon über den harten Anfang in Berlin und blickt aber auch auf seine gesamte Karriere zurück: "Theater belohnt die Kämpferherzen".

Im Theaterpodcast mit Elena Philipp und Susanne Burkhardt geht es dann darum herauszufinden: “Wer ist der Mensch hinter der öffentlichen Persona?”, und Khuon antwortet auf 34 Fragen von Max Frisch, Rolf Dobelli und den "Aesk"-Autoren Alexander Heuken und Alexander Jäger. Nur ein paar Wochen später wird durchaus überraschend öffentlich, dass Khuon seine Karriere doch noch nicht ganz beendet und als Interimsintendant ans Schauspielhaus Zürich wechselt, bevor er wirklich in Rente geht. Wirklich?

Sardanapal 01 805 Apollonia T Bitzan uPlötzlich ohne Hauptdarsteller: Fabian Hinrichs spielt seine eigene Inszenierung "Sardanapal" nach Lord Byron in Abwesenheit von Benny Claessens © Apollonia T. Bitzan

Für Kommentardebatten sorgt im April einerseits die in einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung ausgerufene Krise der Münchner Kammerspiele, die in der Intendanz von Barbara Mundel im Zeitraum Oktober 2022 bis Ende Februar 2023 nur 55 Prozent Auslastung vorweisen konnte.

Ein weiteres Theater, das verlässlich für hohe Wellen im Kommentarbereich sorgt, ist die Volksbühne Berlin. Diesmal geht's um Fabian Hinrichs' Inszenierung “Sardanapal”: Geniestreich oder Scharlatanerie? Die leidenschaftliche Kommentardebatte ist jedenfalls ein eigenes Kunstwerk. Mit dem i-Tüpfelchen, dass der Produktion mit Benny Claessens kurz vor der Premiere der zentrale Spieler abhanden gekommen war (den Hinrichs 2018 als Kerr-Preis-Juror noch zum Acteur de luxe beim damaligen Theatertreffen erkoren hatte).

Mai

Wie jedes Jahr steht der Mai im Zeichen ebendieses Berliner Theatertreffens. Was die Branche diesmal nachhaltig überrascht, ist die Eröffnungsrede des neuen Dreier-Leitungsteams. Eine "Begrüßung, die in Sachen Diskretion geradezu Maßstäbe setzte", vermerken wir im Liveblog. Für fruchtbare künstlerische Diskussionen sorgt dann die Eröffnungsinszenierung "Das Vermächtnis" vom Münchner Residenztheater. Atif Mohammed Nour Hussein beobachtet in seiner Kolumne einen neuen Bühnen-Trend und twittert mit Christian Rakow angeregt über die Thesen des Literaturwissenschaftlers Moritz Baßler zum "populären Realismus".

Was dagegen flächendeckend durchfällt, ist das von der Theatertreffen-Leitung zur Zehnerauswahl hinzu kuratierte Rahmenprogramm der "10 Treffen". Barbara Behrendt spricht im Deutschlandfunk Kultur von "aggressivem Aktivismus", während Esther Slevogt als besonderen Tiefpunkt eine "feministisch gelabelte" Dinner Party ausmacht, bei der dann überraschenderweise so tief im "Ursumpf der Frauenklischees" herumgemanscht wird wie lange nicht.

In der dramatischen Welt jenseits des Theatertreffens nimmt das Putin-Regime in Moskau oppositionelle Theaterleute fest. Und die Theaterwelt nimmt Abschied von dem Schauspieler und Regisseur Dominik Bender, der als Gründungmitglied des Berlin-Kreuzberger Theaters zum westlichen Stadthirschen Anfang der 1980er Jahre große Freie-Szene-Geschichte schrieb.

Juni

Man ahnt ja, wie es um das Verhältnis von Theater und Bevölkerung steht. Dennoch wirkt es wie ein Schock, als Ende Mai eine repräsentative Studie zeigt, dass sich zwei Drittel der Menschen in Deutschland nicht von den Programmen der Theater und anderer sogenannter Hochkultureinrichtungen angesprochen fühlen. Noch mehr sind immerhin der Auffassung, dass Theaterhäuser "weiter mit öffentlichen Mitteln finanziert werden" sollten. Aber klar: Das wird nicht ewig so bleiben, wenn die Verteilungskämpfe schärfer werden. Janis El-Bira schlägt in seiner Kolumne vor, mal wieder jemanden ins Theater mitzunehmen.

Die künstlerische Zaghaftigkeit vieler Kammerspiel-Performances führt dazu, dass das Genre, unter Beteiligung der Presse, in Gänze abgewertet wird.

Dorte Lena Eilers

In ihrer kommentierenden Reportage über die Münchner Kammerspiele schaut Dorte Lena Eilers genauer auf die dort im April postulierte Krise  – und findet verhärtete Fronten zwischen einst zwei neutralen Begriffen, die nun Kampfmittel geworden sind: Performance gegen Schauspielkunst. Dabei liege das Problem eher darin, dass Intendantin Barbara Mundel in ihrem breiten Portfolio zu wenig für die Stammbesucher:innen bietet, so Eilers Analyse.

Mundels von der Münchner Presse auch schon gescholtener Vorgänger Matthias Lilienthal macht derweil mit seinem "Performing Exiles"-Festival alles richtig, gerade im Vergleich zum in seinem Rahmenprogramm gescheiterten Theatertreffen. In Frankreich werden die Diskursräume wegen der angespannten politischen Gesamtlage enger, berichtet Joris Mathieu, Intendant des Théâtre Nouvelle Génération in Lyon, im Interview: "Wenn man die kritischen Räume schließt, verliert die Demokratie." Dagegen ist das Junge Theater in Deutschland spät dran, wenn es zum Beispiel um Formate für die ganz Kleinen geht, berichtet Gabi Dan Droste. Aber es holt auf.

Juli

Im Juli beginnt von Reichenau über Bregenz und Bayreuth, Salzburg und Theater der Welt die Festivalsaison. Aber es ist auch die Zeit für Longreads wie Christian Rakows Text über das schwierige Verhältnis des Postdramatischen Theaters zum Thema Spannung und Suspense.

Zum Saisonende flammt auch noch mal eine heftige Debatte um Machtmissbrauch an Theatern auf. Neun von zehn Theatermitarbeiter*innen, die im Kontext einer Studie befragt wurden, geben zu Protokoll, davon betroffen zu sein. Sollte nicht außerdem die Festivalsaison samt ihres theaterfreudigen Publikums Inspiration auch für den regulären Theaterbetrieb sein? Dass auch im Sommer weitergespielt werden sollte, diese Meinung vertritt Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats. Es ist dieser Juli übrigens der weltweit heißeste Juli aller Zeiten, und wer es bis jetzt noch verdrängt hat: der menschgemachte Klimawandel bedroht die Existenz unserer Spezies (daher gibt's bei nachtkritik.de auch den Themenschwerpunkt Theater & Klima).

August

Im August geht's weiter mit den Sommerspektakeln. Manches Event ist allerdings eher grenzwertig und ähnelt mehr einem Überlebenstraining, das letztlich auch ohne Kunst auskommen könnte. Nicht jedoch ohne wirksame Mückensalbe, wie das bei den "Shared Landscapes" von Rimini Protokoll der Fall ist. Und auch nicht ohne tapfere Nachtkritiker, die solcherlei Torturen im Wald heldenhaft erdulden.

Dass auch Circus veritabler Teil der Darstellenden Kunst sein kann, den Beweis tritt das Berlin Circus Festival an, wie Elena Philipp in ihrem Überblick darlegte. Hundertjährig verstarb im August die legendäre Theaterverlegerin Maria Müller-Sommer.

Ja, und dann geht die Saison wieder los. Im Berliner Ensemble mit dem Brecht-Liederabend "Fremder als der Mond" und der unglaublichen Katharine Mehrling. Oder am Theater Luzern, das sich zum Saisonstart mit fünfeinhalb Stunden "Orestie" gleich schon wieder in die Vollen geht. Zwei besonderen Neustarts – in Essen und an den Sophiensaelen Berlin – widmet sich der Theaterpodcast. Und stellt jeweils einen Teil der neuen Co-Leitungen vor: Selen Kara und Jens Hillje.

September

Globaler Klimastreik! Mit seinen Bildern begleitet der (Theater-)Fotograf Fritz Engel die Klimabewegung seit ihren Anfängen; wir veröffentlichen einige seiner Fotos. Vor den Protesten appellieren österreichische Künstler:innen in einem Offenen Brief an ihre Regierung für mehr Klimaschutzmaßnahmen.

01extinctionRblnDieIn073Bild einer Klimaprotest-Aktion von Extinction Rebellion aus der Bildergalerie von Fritz Engel

In Zwickau hingegen muss das Wildwechsel Festival Programm streichen – darunter ausgerechnet eine von Rechts angegriffene queer-feministische Performance des Kollektivs Chicks*. In Hannover wird eine Klage der AfD gegen ein kritisches Schultheaterstück abgewiesen. Am Staatstheater Wiesbaden rumort es: Konflikte zwischen dem 2024 aus dem Amt scheidenden Intendanten und dem Geschätsführer spitzen sich zu.

In Dortmund hingegen herrscht Stabilität: Die Verträge der Schauspiel-Intendantin Julia Wissert und des Direktors der Akademie für Theater und Digitalität Marcus Lobbes werden verlängert. Beim Theatertreffen die Fehlkonstruktion mit vier (zuletzt drei) Leiterinnen beendet und Nora Hertlein-Hull als alleinverantwortliche Chefin des Theatertreffens berufen. "Bitter, dass dafür eine Hand voll Theaterfrauen vor aller Augen scheitern mussten, ohne dass sich jemand vor sie gestellt und Verantwortung übernommen hätte", kommentiert Georg Kasch.

Kein Scherz: Die Schriftstellerin Sibylle Berg will EU-Politikerin werden; sie gibt ihre Kandidatur für Die Partei bekannt. Die großen Intendanz-Starts gehen am Deutschen Theater Berlin (mit Weltall Erde Mensch) und in Essen (mit Doktormutter Faust) über die Bühne. Während Hamburgs feste Größe Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus mit Hilfe von Roland Schimmelpfennig antiken Dramen auf Serienformat bringt.

Oktober

Am 7. Oktober erschüttert der Angriff der Hamas auf Israel die Welt und löst einen neuen Krieg im Nahen Osten aus. Viele Theater brauchen einen Moment, um Täter und Opfer auseinanderzuhalten und ihre Solidarität zu erklären – manche sagen: zu lange. "Ausgerechnet die Theater, die sonst groß sind in Solidaritätsbekundungen, im Mahnen und Einmischen", schreibt Janis El-Bira in seiner Kolumne, "ausgerechnet sie halten sich jetzt zurück." Seit dem 7. Oktober schwelt auch an den Theatern die Antisemitismus-Debatte und mit ihr die Frage, wer wo und auf wessen Seite steht.

Das ganze Land ist ein Reality-Theater der Grausamkeit.

Gad Kaynar Kissinger zur Lage in Israel

In Israel selbst, lernen wir aus einem Interview mit dem Theaterprofessor Gad Kaynar Kissinger, herrsche seit dem Massaker ein "Reality-Theater der Grausamkeit". Die eigentlichen Theater hingegen bleiben geschlossen – zu groß ist die Gefahr von Raketenangriffen der Hamas aus dem Gaza-Streifen. Es gibt im Land über 100.000 Binnenflüchtlinge aus den zerstörten oder bedrohtem Grenzregionen, berichtet er.

Keine Nachricht von Weltrang, aber wenigstens in Salzburg ein kleines Erdbeben: "Jedermann" stirbt. Genauer gesagt die Inszenierung von Michael Sturminger, die bei den Salzburger Festspielen bereits 2024 und damit vorzeitig durch eine Neuproduktion ersetzt werden soll. Offenbar will Salzburgs neue Schauspielchefin Marina Davydova mit einer starken Setzung in ihre Amtszeit starten und nimmt sich dafür direkt das Allerheiligste des Festivals vor. Das Befremden ist vor allem auf Seiten des geschassten Teams denkbar groß. Es folgen Erklärungen und schon bald die Meldung zur Neuinszenierung: mit Philipp Hochmair als Jedermann und Deleila Piasko als Buhlschaft in der Regie von Robert Carsen.

Aufregung derweil auch am Bodensee: Dem Theater Konstanz drohen existenzielle Einsparungen. Es hagelt Protestnoten von allen Seiten. Am Ende kommt es glimpflich. Eine glückliche Meldung aus dem Oktober.

November

Das Ringen der Kulturszene mit einer Haltung nach dem 7. Oktober 2023 setzt sich fort. Die Intendanten Michael Grosse (Krefeld Mönchengladbach) und Barbara Mundel (Münchner Kammerspiele) ziehen ihre Unterschriften unter der Stellungnahme "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" gegen die BDS-Resolution des Bundestages von 2019 zurück; das Manifest erscheint ihnen jetzt als "Teil einer Entwicklung, die israelbezogenen Antisemitismus normalisiert hat". Die Auswüchse dieser Entwicklung zeigt Esther Slevogt in ihrer Kolumne und zeigt, wie die dunkle Saat der BDS-Kampagne in Kulturinstitutionen hierzulande aufgeht.

Seine Dankesrede beim Nestroy-Preis nutzt der junge Schauspieler Nick Romeo Reimann vom Volkstheater Wien zu einem Appell: "Ich wünsche mir in dieser Zeit ein Theater, das Vielstimmigkeit verkörpert, das aber gleichzeitig mit einer geschlossenen Stimme spricht: gegen Rechts, gegen rechte Politik und auch gegen alle, die Menschen ihre Menschlichkeit wegnehmen wollen."

Im Theaterpodcast moniert Ulrich Matthes, dass im Theater, anders als im Film, kaum mehr große Geschichten erzählt werden.

PferdfrisstHut4 1200 Thomas Aurin uHerbert spielt Herbert: "Pferd frisst Hut" von Herbert Fritsch mit Musik von Herbert Grönemeyer am Theater Basel © Thomas Aurin

Kleine Geschichten von sich selbst müssen Schauspieler allerdings des Öfteren auf Bühnen erzählen, um sogenannte Stückentwicklungen mit dem Treibstoff der Authentizität zu versorgen. Vor welche Fragen das Spielerinnen stellt, hat Jorinde Minna Markert in ihrem Essay zum "Autofiktionzän" untersucht.

Keine Authentiziät, dafür lupenreinen Fake bietet die Künstlergruppe Zentrum für politische Schönheit, als sie Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin das Verbot der AfD verkünden lässt. In den Theaterhäusern geht es derweil stimmgewaltig zu: Herbert Fritsch inszeniert Lieder von Herbert Grönemeyer und ein bisschen auch Text von Eugène Labiche in Pferd frisst Hut in Basel. Marta Górnickas Frauenchor schüttelt mit Mothers. A Song for Wartime das Berliner Maxim Gorki Theater durch. Das neue vierköpfige Leitungsteam am Wiener Schauspielhaus eröffnet mit Sivan Ben Yishais Bühnenbeschimpfung.

Dezember

Ein brisantes Kapitel des Jahres wird zugeschlagen: Zürich beruft für seine Schauspielleitung ab 2025 das Duo Rafael Sanchez und Pınar Karabulut, zuletzt zentral im Programm von Schauspiel Köln und Münchner Kammerspielen. Die Schweizer Medien kommentieren die Personalie reserviert, aber freundlich. Valeria Heintges schätzt ein: "Das Rezept klingt nicht revolutionär, könnte aber passen. Denn Zürich ist eindeutig revolutionsmüde."

Denn Zürich ist eindeutig revolutionsmüde.

Valeria Heintges

Auch abseits von Zürich rotiert das Intendantenkarrussell zum Jahresschluss heftig: Vasco Boenisch geht nach Hannover, David Bösch nach Linz, Lydia Bunk nach Eisenach, um nur einige zu nennen.

Zu Personalentscheidungen, die auch für ihn bald anstehen, äußert sich Berlins neuer Kultursenator Joe Chialo (CDU) im Interview mit Christine Wahl erwartungsgemäß nicht. Aber etwas an Richtung gibt er doch vor. Die Kulturszene der Hauptstadt soll nicht rumquengeln, bissl entspannter mit vermeintlichen Rassismen sein und sich im Ganzen am Vorbild Mozart orientieren.

In der Hauptstadt brummt es im Übrigen ganz schön. Gleich drei Inszenierungen bringt die Schaubühne zeitgleich in den nachtkritik-Charts unter. Zuletzt das erschütternde Musical "Bucket List" von Yael Ronen in Reaktion auf den Terror des 7. Oktobers.

Wie ein Brennglas liegt dieses weltpolitische Ereignis in Nahost auf der gesamten Kunstszene. Am Zürcher Theater Neumarkt wird ein personalpolitisches Dilemma öffentlich: Um eine Spielerin mit libanesischen Wurzeln und einen Israeli gemeinsam im Ensemble halten zu können, fügt sich das Haus einem libanesischen Gesetz, das es Libanesen bei drakonischen Strafen verbietet, mit Israelis zusammenzuarbeiten, und besetzt beide nur in unterschiedlichen Produktionen.

Es ist eine widersprüchliche Zeit, ein Zustand der Zerrissenheit, in dem man sich auffordern muss, neben dem weinenden Auge das lachende nicht zu schließen. "Diesmal wird alles besser, haben sie gesagt. Anders, aber besser. / Aber es ist schlimmer. Anders, aber schlimmer", dichtet Atif Mohammed Nour Hussein im Rückblick auf das Jahr in seiner Kolumne.

Und Sibylle Berg ruft in unserem Adventskalender das Theater zu "Mehr Quatsch, mehr Leichtigkeit!" auf (wofür sie als als Partei-Kandidatin – siehe September – bei der Europawahl womöglich selbst sorgen wird).

Irgendwo dazwischen liegt es: zwischen dem Konstatieren des Schlimmen und dem Unverzagtbleiben, zwischen Tragödie und Komödie, zwischen Qual und Quatsch. Uns allen ein gutes und glücklicheres Jahr 2024!

 

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